Neuland – Politische Alltagskommunikation und Netzrevolution: Welche neuen Möglichkeiten bietet das Internet, um zu verstehen, was Bürger denken?
Herbert Hönigsberger
Das politische Selbstgespräch der Gesellschaft:
Terra incognita
Das Internet sei »für uns alle Neuland« – was auch immer die Kanzlerin gemeint haben mag: Entgegen der Häme der Netzgemeinde ist die Gesellschaft bei der Auslotung der Potenziale des Netzes evolutionär erst bei der Erlernung des aufrechten Gangs. Die
digital natives mögen bei der Entwicklung des Steinkeils einen kleinen Schritt voraus sein. Aber uns allen steht der Abmarsch aus der Savanne erst bevor. Nach den Maßstäben menschlicher Evolution ist die Differenz zwischen Netzavantgardisten und ihren nicht netzaffinen Zeitgenossen nicht der Rede wert. Die große Zeit des Netzes steht erst bevor. Wie sie aussieht, wissen wir nicht. Sie ist für uns so weit weg wie für Eve aus Botswana Amerika. So gesehen Neuland, was sonst. Das gilt auch für diesen Text.
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»Politiker hören nicht zu und wissen nicht, was ›das Volk‹ denkt.« Wenn Bürger Klage über die Politik führen, dann gehört dieser Vorwurf zum Kern der Beschwerde. In der verschärften Version will die politische Klasse überhaupt nicht zuhören, respektive nur den Lauten Gehör schenken, die sich bemerkbar zu machen wissen, oder den leisen Mächtigen, die zu stark geworden sind, um überhaupt noch laut werden zu müssen. Solche Anklage ist zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten politischen Systemen erhoben worden. In der Demokratie, in der die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, rührt sie an den Grundfesten. Aber was wissen Politiker, die Medien und alle diejenigen, die den öffentlichen politischen Diskurs führen, wirklich darüber, was die Bürger über Politik unter sich verhandeln? Was müssen sie wissen, was können sie wissen? Bei der Suche nach Antworten stößt man auf ein Drama und ein Dilemma der Demokratie.
Denn wir wissen nicht, welchen Raum das Politisieren im Leben der Nation einnimmt. Weder die Gesellschaft noch die Politik weiß wirklich, wie viel Zeit die Bürger – der Souverän – für politische Kommunikation im Alltag aufwenden, wie oft, wie lange, wie viele Bürger im Alltag über Politik reden. Dabei ist das politische Gespräch ein Massenphänomen. Es wird im Betrieb geführt, in Familien, im Freundeskreis, am Stammtisch, im Verein, in der Kantine, in der Bahn, nächtelang in Kneipen während der Studienzeit, aber auch am Strand auf Mallorca. Es gibt dafür ungezählte Orte. Vor Wahlen schwillt das Gespräch an. Aber niemand weiß, wie viel Zeit ein Bürger sich im Verlauf seines Lebens durchschnittlich dafür nimmt, sich mit seinen Mitbürgern über die politischen Verhältnisse zu verständigen. Niemand weiß, wie viel Zeit die Gesellschaft zwischen zwei Wahlen auf politische Kommunikation verwendet. Erst recht weiß niemand genau, was da eigentlich geredet wird. Die Vermutung könnte trügen, es sei dasselbe, was Politik und Medien kommunizieren. Trügerisch könnte auch die Hoffnung sein, in der Demokratie komme die Politik ohne präzise Kenntnis der politischen Alltagskommunikation aus. Ebenso könnte sich als Täuschung erweisen, nur Diktaturen müssten ihr Aufmerksamkeit schenken. Dennoch sind nicht wenige, die Wahlkämpfe organisieren, nach wie vor der Meinung, es genüge, wenn sie ihre Slogans in einigen Fokusgruppen testen und sich ansonsten auf »repräsentative Erhebungen« stützen.
Die Vermessung der politischen Kommunikation im Alltag
Politisch kommunizieren die Deutschen von Bundestagswahl zu Bundestagswahl, also in vier Jahren, nach einer Überschlagsrechnung acht bis 18 Milliarden Stunden. Vielleicht sind es auch nur zehn oder zwölf. Das hängt von der Wahl der Parameter ab. Variieren lassen sich die Zahl der Sprecher (80, 60, 40 Millionen), der Tage, an denen politisiert wird (100, 200, 300 Tage), die tägliche Stundenzahl (0,1 bis 0,25 Stunden etc.). Der Zeitaufwand schwankt je nachdem, welche Äußerungen zum politischen Diskurs gezählt werden, ob man ihn auf Reden über die Felder der Bundespolitik beschränkt, oder ob man auch das Gespräch über die Gestaltung des kommunalen Nahraums und der Verhältnisse in der Nachbarschaft hinzunimmt. Auch nur eine Milliarde Stunden wären schon ein immenses Zeitbudget. Die acht bis 18 Milliarden Stunden sind Durchschnittswerte. Denn wir wissen nicht, wie viele Menschen sich tatsächlich am politischen Gespräch beteiligen und wie viele in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Satz von sich geben, den man ihm zuordnen könnte. Rechnerisch wird erstaunlich viel über Politik geredet.
Das kommunikative Drama der Demokratie
Politische Eliten muss das beunruhigen. Denn wer soll diesem Gespräch zuhören? Die 620 Bundestagsabgeordneten diskutieren acht Stunden täglich oder mehr und das vier Jahre lang. Das macht aber nur sieben Millionen Stunden aus. Die gewählten Professionals verbringen weniger als 0,1 Prozent der Zeit mit politischer Kommunikation, die die Nation aufwendet. Einschließlich der Landtage und der Kommunalparlamente kommt man schätzungsweise auf ein Prozent. Selbst bei fünf Prozent drängt sich das eigentümliche Phänomen auf: Der Aufwand der Volksvertreter bleibt weit hinter dem Zeitaufwand zurück, den die Nation aufbringt, um sich politisch zu verständigen. Der Versuch, sich der quantitativen Dimensionen der politischen Alltagskommunikation zu vergewissern, macht auf ein fundamentales Problem der Demokratie aufmerksam. Der zeitliche Aufwand der informellen politischen Alltagskommunikation und des formellen Diskurses in den politischen Institutionen, von Selbstverständigung der Nation einerseits, Selbstverständigung der Politik und ihrem kommunikativen Einwirken auf die Gesellschaft andererseits klaffen auseinander. Vom ungeheuer verästelten Raunen der Massen bekommen die Politiker wenig bis nichts mit.
Dieser Zustand liefert die ebenso triftige wie einfache Rechtfertigung für die kommunikative Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Die Politiker können dem politischen Gespräch der Nation überhaupt nicht zuhören, selbst wenn sie wollten. Der Zeitaufwand ist zu groß, sie haben zu wenig Zeit. Es übersteigt ihre Kräfte, es übersteigt ihre Fähigkeiten. Ganz offensichtlich gibt es in Demokratien auf nationaler Ebene systemische Grenzen für die Verständigung zwischen Politik und Bürgern. Der Vorhalt »die hören nicht zu« löst sich in ein Strukturproblem auf: der unüberbrückbaren Differenz zwischen der ausufernden, unstrukturierten und unüberschaubaren politischen Alltagskommunikation und den zeitlich limitierten kommunikativen Potenzialen der politischen Klasse.
Flüchtig, aber mächtig: politische Alltagskommunikation als Motor sozialen Wandels
Die Vox populi hinterlässt keine Spuren. Bis auf verschwindende Ausnahmen liegen keine Aufzeichnungen vor, keine Ton-, geschweige denn schriftliche Dokumente. Es gibt kein Archiv der Alltagskommunikation. Trotzdem sprechen alle, die im Alltag politisch kommunizieren, nicht in den Wind, sondern irgendjemand an. Sie sprechen zu ihren Ehepartnern und Kindern, Freunden, Bekannten, Kollegen etc., zu Mitbürgern und Wählern. Sie sprechen zu Mitmenschen, die über ein einzigartiges Speichermedium verfügen. In 60 Millionen Wählerhirnen werden pausenlos Informationen gespeichert, gelöscht, verändert, angereichert, neu gruppiert, verknüpft und gewichtet. Die Ergebnisse dieser Prozesse werden in die politische Alltagskommunikation eingespeist, als endloser Austausch von Informationen mit Konjunkturen und Zyklen, Moden und Hypes, Gerüchten und Vorurteilen, Mythen, Stereotypen und Bildern, vielstimmig, eine fortwährende Kakophonie.
Die Vox populi hinterlässt keine Spuren, aber Folgen. Das politische Gespräch der Bürger über ihre Angelegenheiten – gelegentlich, kurz, nebenbei – ist trotz aller Begrenztheit ein maßgeblicher Faktor in ihrer politischen Sozialisation. Und es ist der Kern von Demokratie. Darüber können auch nicht Tonlage und Geräuschpegel wider alle Regeln des Diskurses hinwegtäuschen, in der es teilweise geführt wird. Viele Bürger bauen den informationellen Hintergrund ihrer Wahlentscheidung nicht durch permanentes Ansaugen medialer Informationen auf, sondern orientieren sich an Bezugspersonen, Vorbildern, Leitwölfen, Meinungsführern, Cliquenhäuptlingen, an Chefs, Vereinsvorsitzenden, Betriebsräten und Vertrauensleuten, am Wortführer des Stammtischs, der vielleicht sogar im Gemeinderat sitzt, aber auch Ehemann und Ehefrau, Freund und Freundin. Auf diese Weise entstehen Räume wie im Ruhrgebiet, wo seit jeher SPD, und Regionen in Bayern, in denen eben CSU gewählt wird.
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist voller einschneidender Ereignisse, die weder von der Politik befördert noch von den Medien prognostiziert wurden. Sie müssen ihren Spirit und ihre Impulse aus anderen Quellen bezogen haben. 68, die Bürgerinitiativen, die Friedens-, Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung, die Gründung der Grünen, aber auch der WASG, alle sozialen Bewegungen – zuletzt der Widerstand gegen Stuttgart 21 – sind Ergebnis subkutaner gesellschaftlicher Selbstverständigung. Künftige Großprojekte, die Energiewende beispielsweise und vor allem die Endlagersuche, werden von massiven Aufwallungen begleitet werden. Die mittlerweile mehrheitsfähige politisch-kulturelle Formation diesseits des »bürgerlichen« Lagers ist nur bedingt dem Wirken der politischen Oppositionsparteien oder der Medien zuzuschreiben.
Umso mehr ist es Resultat der in der politischen Alltagskommunikation verdichteten Alltags- und Lebenserfahrungen der Bürger. Die permanente untergründige Kommunikation in der DDR war stark genug, einen gewalttätigen bürokratischen Apparat und seine Propagandamaschinerie zu Fall zu bringen. Die objektiven Faktoren, die die Implosion des »realen Sozialismus« befördert haben, hätten nicht diese Folge gehabt, wären sie nicht durch die umwälzende Macht der Rede vieler auf den Begriff gebracht worden. In Europa werden derzeit Schuldenabbau, Haushaltskonsolidierung und Bankenrettung als Elitenprojekt durchgesetzt. Aber im ganzen Süden wird Widerstand sichtbar, der Ergebnis vielfältiger Stränge politischer Alltagskommunikation ist. Die tagtägliche Verständigung über die Ursachen der Veränderungen im Alltag der Bürger und das, was stattdessen wünschenswert ist, muss auf Dauer Folgen haben, die in die politischen Systeme Spaniens, Griechenlands, Portugals durchschlagen werden. Keine friedliche oder unfriedliche Revolution ohne massenhafte politische Alltagskommunikation, die sich letztlich als unkontrollierbar erweist.
Die Netzrevolution
Seit jeher bemühen sich klügere Politiker, der Vox populi auf die Schliche zu kommen. Allerdings ist die Sichtung der Versuche ernüchternd. Die Politik ist auf spärliche Kontakte zurückgeworfen: Veranstaltungen, Wahlkampfauftritte, Bürgersprechstunden, Besuchergruppen, Kontakte im Wahlkreis, Stände, Hausbesuche, E-Mail- und Briefkontakte. Ansonsten lesen Politiker Zeitung, bedienen sich des Expertenrates und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Doch ein Lagebild ohne fundierte Kenntnis der Trends in der politischen Alltagskommunikation muss gefährlich unterkomplex bleiben.
An diesem Punkt kommt das Netz ins Spiel. Nur eine Minderheit der User kommuniziert im Netz politisch. Aber noch nie hat uns eine so große Zahl von Mitbürgern offen und öffentlich anvertraut, was sie politisch denken. Die Netzkommunikation ist Teil der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Seit die politische Alltagskommunikation ins Netz vordringt, kann man ihr zuhören wie nie zuvor. Das ist ein qualitativer Sprung. Die Leute kommunizieren politisch im Netz aus freien Stücken, nicht ohne Anlass, aber unaufgefordert, nur durch Ereignisse herausgefordert. Sie kommunizieren auf den angebotenen Plattformen, die sie für geeignet halten, oder die sie für ihre kommunikativen Zwecke selber schaffen. Sie kommunizieren mit allen, die sich durch denselben Anlass angeregt fühlen, und nicht nur mit den vertrauten Bezugspersonen. Sie bilden thematische Interessen- und ideologische Neigungsgruppen, je nach Anlass großräumig, auf nationaler Ebene oder kleinräumig, lokal, regional, je nach Bedarf zeitlich befristet oder dauerhaft. Die räumliche Begrenzung wird nur durch Sprache und die zeitliche durch die Kommunikationszwecke gezogen.
Die Empirie in diesem Feld ist ständig im Fluss.
2 Gewiss scheint nur, dass diese Form der politischen Kommunikation an Bedeutung gewinnt. Die politische Kommunikation im Netz ist Alltag für eine unbekannte, aber wachsende Zahl von Usern. Sie geht in die Hunderttausende, wenn nicht Millionen. Manche Leute kommentieren im Netz gelegentlich, manche oft, manche ständig, es gehört zu ihrem kommunikativen Alltag. Für manche ist es Lebensinhalt. Viele hören nur zu. Wenn Diskussionsteilnehmer in anonymen Statements ihr Alter, Geschlecht und (frühere) Berufsposition preisgeben, deutet sich an, dass der Anteil der Jugendlichen unter den politischen Diskutanten geringer sein dürfte als sonst im Netz. Dafür nehmen viele Personen teil, die sich selbst als Rentner und beruflich erfahren outen.
In der politischen Kommunikation ist das Netz nicht nur ein Medium der Jungen, sondern auch der zeitreichen Alten. Gewiss diskutieren mehr Männer als Frauen. Sie nutzen öffentliche Foren (zum Beispiel t-online.de), Gästebücher der großen Politainmentformate (Will, Plasberg, Jauch, Illner, Presseclub etc.), Kommentarseiten der Online-Angebote der »Qualitätspresse« (Spiegel, FAZ, Zeit, Welt), aber auch von BILD, Foren in regionalen Medien, Mikro-Blogs (Twitter), Themencommunities in den sozialen Netzwerken etc., aber beispielsweise auch die öffentlichen Foren der Piraten. Die Zahl der Plattformen ist unbekannt. Einige wichtige mit größeren Userzahlen sind identifizierbar. Ständig kommen Foren und Blogs hinzu oder werden eingestellt. Ständig werden Tausende von Statements ins Netz gestellt, aber auch gelöscht. Niemand weiß, wie groß der Fundus an Aussagen im Netz ist. Die Vox populi im Netz hat viele Speakers’ Corners.
Im Netz wird der ganze politische Diskurs der Nation eigenständig entfaltet.
3 Und doch ist er durch zahllose Fäden mit dem politischen Alltagsgespräch in den Bezugsgruppen und den Diskursen in den traditionellen Medien verknüpft. Dabei schält sich ein themen- und anlassübergreifender Basisdiskurs heraus: über Grundwerte, die Grundstrukturen der Demokratie, über Sinn und Unsinn des Agierens der politischen Klasse ebenso wie einzelner Politiker. Im Gegensatz zum politischen Elitendiskurs wird ein ausgeprägter Bedarf an normativer Orientierung sichtbar. Das Netz bildet diesen Impuls in aller Regel besser, genauer und tiefer ab repräsentative Erhebungen.
Folgt man der Netzkommunikation, ist die Stimmung im Land schlechter, als sie sich aus repräsentativen Erhebungen erschließt. Das Netz liefert ein anderes Bild über die Verhältnisse als andere Quellen. Die Menschen haben einen ungeheuren Demokratiebedarf. Aber es wächst die Skepsis, ob die realen Verhältnisse noch als Demokratie gelten können, ob Deutschland noch ein demokratisches Land ist. Die Deutschen pendeln zwischen Demokratiebedarf und Demokratieskepsis. Gerechtigkeit ist ein ebenso unauslöschliches Grundverlangen, die Hoffnung auf Gerechtigkeit erscheint unstillbar. Aber ebenso werden mehrheitlich Zweifel geäußert, ob es noch gerecht zugeht. Die Grundstimmung ist: Demokratie und Gerechtigkeit sollen sein, aber sie sind in Gefahr.
Dazu gibt es einen eindeutigen Trend in der Fahndung nach den Ursachen. Es ist das ungute Zusammenspiel von Politikern und Lobbyisten. Politikern fehlt es an Sachkunde und Lebenserfahrung, die sich mit der Lebenserfahrung der breiten Masse des Volkes deckt. Politiker sind eigensüchtig, teilweise korrupt. Und sie sind aufgrund ihrer Charakterschwächen anfällig für die Einflüsterungen von Lobbyisten. In jedem Fall entsprechen sie nicht dem Bild von Repräsentanten, die den Volkswillen vollziehen oder sich zumindest um die Belange des Volkes kümmern. Die Zweifel schaukeln sich zu einer Politik- und Politikerverdrossenheit hoch, die in einen schleichenden Legitimitätsverlust der demokratischen Strukturen einmündet.
Dieses Lagebild kann auch durch punktuelle repräsentative Erhebungen bestätigt werden. Aber im Netz wird dieses Bild im Minutentakt in der fortlaufenden Ereignis- und Medienkommentierung reproduziert, vertieft, durch immer neue Details angereichert. Im Gegensatz zu repräsentativen Erhebungen dokumentiert das Netz den ständigen Fluss der öffentlichen Diskussion, den Austausch von Argumenten und Kontroversen.
Wofür steht die Netzkommunikation? Eine Neufassung der Repräsentativität
Sagen die Leute im Netz, was sie wirklich denken? Ist das, was man im Netz lesen kann, auch das, was die Leute andernorts von sich geben? Oder setzt die Anonymität des Netzes die dunklen Seiten frei? Stimuliert das Netz Gedanken, die die Leute bislang nie zu denken geschweige denn zu äußern wagten? Oder sagen die Bürger dort nur das, was sie seit jeher denken und schon immer sagen wollten? Zieht das Netz neue Akteure in die Diskussion hinein, oder melden sich nur die Wortführer mit den längst festgezurrten Vorurteilen? Woher kommt die Wut im Netz? Wird sie durch das Netz erst produziert, weil es dafür Raum bietet, oder macht das Netz längst aufgestaute Wut nur sichtbar?
Es gibt keine endgültigen Erkenntnisse. Alles ist der Fall. Der ganze Unmut, die Vorurteile, Obskurantismus, Verschwörungstheorien, Rechthabereien werden auch außerhalb des Netzes generiert und artikuliert. Ein bestimmter Personenkreis denkt schon immer so und trägt seine verhärteten Denkmuster nur in das Netz hinein.
Gleichzeitig findet man zahllose tastende Passagen schreib- und debattenungewohnter User, die durch ein Ereignis gepackt wurden und ihre Eindrücke probehalber und spontan in die Tastatur ihres neuen Gerätes hämmern. Viele Statements bewegen sich weder auf hohem Reflexions- noch auf literarischem Niveau. Was im Netz geschrieben wird, hat teilweise den Charakter von enthemmter Stammtischkommunikation. Doch selbst dann, wenn es sich um Vorurteile handelt, ist es für die Politik wichtig zu wissen, was die Bürger denken.
Es gibt keine Gewissheit, ob das, was im Netz kommuniziert wird, repräsentativ ist für das, was offline im politischen Alltag kommuniziert wird. Aber da über die Grundgesamtheit alltäglicher politischer Kommunikationsakte kaum etwas bekannt ist, kann über die Repräsentativität nichts gesagt werden. Doch zuallererst ist das Netz ein Kommunikationsraum sui generis. Es steht für sich selbst, es muss nichts repräsentieren. Die Repräsentativitätsfrage im Netz stellt sich allenfalls so, ob das, was in Blogs, Foren, Kommentarspalten etc. diskutiert wird, repräsentativ für das Denken derjenigen ist, die das Netz für politische Kommunikation nutzen und im weiteren Sinne auch für diejenigen, die es nur für andere Zwecke nutzen.
Dabei hat die Netzkommunikation einen unschätzbaren Vorteil. Es handelt sich weitgehend um ungeschminkten O-Ton. Zum ersten Mal liegt der Gesellschaft eine derartige Fülle individueller Meinungsäußerungen vor: dokumentiert, nachlesbar, aufeinander bezogen, in einem stetigen Strom. Die Menge der Aussagen wächst, Kommunikationsakt türmt sich auf Kommunikationsakt, Diskussionsstränge über die Zeit werden produziert. Je mehr und je länger die Diskutanten Argument auf Argument zu welchen politischen Themen auch immer folgen lassen, desto wahrscheinlicher wird, dass alle denkbaren Argumente vorgetragen werden und die gesamte Bandbreite eines Diskurses ausgelotet wird.
Je länger eine Debatte dauert, je mehr User sich beteiligen, desto wahrscheinlicher ist, dass alle substanziellen Argumente fallen und es kein einflussreiches Argument mehr gibt, das nicht von irgendeinem Teilnehmer beigesteuert worden wäre, weder im Netz noch außerhalb.
Je mehr Segmente der Internetkommunikation in den Blick genommen werden, desto wahrscheinlicher ist, dass die gesamte Bandbreite der Alltagskommunikation der Nation erfasst wird. Die Argumente, die im Netz vorgetragen werden, sind höchstwahrscheinlich auch die, die in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ausgetauscht werden. Die Sprecher im Netz sind auch Teilnehmer des Gesprächs andernorts. Die wutbürgerlichen Ausbrüche, von denen die Netzkommunikation überquillt, werden Wahlkämpfern auch an Haustüren und Ständen entgegen gedonnert. Die Netzkommunikation spiegelt die Stimmungslagen auch außerhalb des Netzes wider. Kennt man die politische Netzkommunikation, kennt man die politische Alltagskommunikation.
Im Detail lässt sich anhand der Netzkommunikation in jedem Themenfeld identifizieren, welche Argumentationsmuster am häufigsten vorgetragen werden, welche wichtiger sind als andere, welche den meisten Zuspruch und den meisten Widerspruch finden. Das Netz liefert Regierungen und Parteien
4 die Positionen, mit denen es lohnt, sich auseinanderzusetzen, die sich mit den eigenen decken, und die von Gegnern vorgetragen werden. In jedem Themenfeld lassen sich die zehn wichtigsten Pro- und Contra-Argumente ermitteln, lässt sich damit der Kern des Diskurses herausarbeiten. Das Netz liefert die Bandbreite, die Pole, die Palette und die Spitzen der denkbaren Argumente. Diese
qualitative Repräsentativität kann nur im Netz erreicht werden.
Die Chance
Für die Demokratie eröffnet die Netzkommunikation ungeheure Chancen. Für die politische Klasse ist das Netz ein Spiegel gesellschaftlicher Stimmungen und Quelle von Information über die Meinungsbildung im Volk. Sie hat das erste Mal die Chance, den Bürgern in großem Umfang zuzuhören. Die Analyse der politischen Netzkommunikation verbessert das Verständnis der Politik für das, was die Leute umtreibt, verringert die Distanz von interner Kommunikation des politischen Systems und politischer Alltagskommunikation und verkürzt damit die Distanz zwischen Souverän und Repräsentanten. Mit der quantitativen und qualitativen Analyse der politischen Netzkommunikation eröffnen sich der Politik völlig neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Diskursstrategien. Mit der qualitativen Repräsentativität und einer identifizierbaren Rangordnung von Argumentationsmustern findet die Politik genau den Stoff vor, den sie dafür braucht.
5 Und die Politik hat eine neue Möglichkeit, mit den Bürgern auf Augenhöhe zu kommunizieren. Allerdings muss sie sich auf die Netzkommunikation wirklich einlassen, anstatt die Netzgemeinde zuzutwittern und mit asymmetrischen Kommunikationsangeboten auf Schaufensterseiten zu überhäufen. Die Parteien können in der Netzkommunikation ausloten, wie stark die eigenen Argumente in einem offenen, teilweise ungezügelten Kommunikationsraum sind. Der Verfassungsauftrag, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, gilt auch im Netz. Die Netzkommunikation ist ein Übungsfeld für die Kommunikation in anderen sozialen Zusammenhängen. Wer sich in der Netzkommunikation Respekt verschafft, kann jede öffentliche Debatte bestreiten.
Den Netzbürgern steht ein machtvolles und einflussreiches Instrument der öffentlichen Verständigung, Meinungsbildung und Einflussnahme zur Verfügung. Die gesellschaftliche Kommunikation kann über die Grenzen traditioneller sozialer Milieus hinweg, die sich so im Netz nicht reproduzieren, verbessert werden. Da sich das Netz vor allem als Raum der Kritik und weniger der Affirmation erweist, eröffnet es der Gesellschaft einen neuen Raum der Selbstanalyse. Die Partizipationschance besteht vor allem in der Mitwirkung an der Meinungs- und Willensbildung, in Beiträgen zu einer diskutierenden Öffentlichkeit, in der Beeinflussung öffentlicher Diskurse durch die Inszenierung eines eigenen Diskurses. Die Netzkommunikation kann stimmgewaltig Entscheidungen vorbereiten und auch simulieren – und damit einflussreich werden, ohne selbst Entscheidungen zu treffen. Auch wenn Politik und Medien immer wieder die Anlässe für die Netzkommunikation liefern, koppelt sich die Meinungsbildung im Netz partiell von den Einflüssen der Medien und der Parteien ab. Das sind allesamt Facetten von Demokratisierung, Pluralisierung und Partizipation. Gleichzeitig sind diese Prozesse sichtbar und allgemein zugänglich. Wird die Netzkommunikation in Politik und öffentliche Debatte eingespeist, erhöht dies das Gewicht der Foren und Blogs. Die Netzbürger erhalten, was sie wollen: Mitsprache und Aufmerksamkeit. Und die Politik das, was sie braucht: Information.
Netzanalyse nach dem NSA-Skandal
Die Chance für die Demokratie ist durch eine strukturelle Asymmetrie massiv gefährdet. Der materielle und kommunikative Output der Politik ist der Stoff der Netzkommunikation. Die Netzkommunikation ist der Stoff der politischen Analyse. Doch sind die Mittel zu ihrer systematischen Auswertung ungleich verteilt. Nur die Politik verfügt über die finanziellen Ressourcen, sich der avancierten technischen Instrumente der Netzanalyse zu versichern, die Unternehmen wie SAS, SAP und viele andere anbieten.
6 Das Ausmaß dieser strukturellen Asymmetrie ist im letzten halben Jahr durch den NSA-Skandal in nie gekannter Weise öffentlich geworden. Es ist nicht eindeutig erkennbar, ob der NSA-Skandal die Beteiligung an der politischen Netzkommunikation reduziert hat. Die Befürchtung ist aber nicht abwegig. Soll die Chance für die Demokratie, die die Netzkommunikation dem Souverän und seinen Repräsentanten bietet, erhalten bleiben, sind Standards und Konventionen durchzusetzen, die unmissverständlich deutlich machen: Wahrnehmung und Aufarbeitung der öffentlichen politischen Kommunikation im Netz sind Prozesse, die die demokratische Teilhabe stärken, und damit etwas komplett anderes als die Abschöpfung privater und persönlicher, insbesondere auch verschlüsselter Daten für Zwecke geheimdienstlicher Informationsgewinnung.
Gegenstand der Analyse kann nur die politische Kommunikation auf öffentlich zugänglichen Plattformen sein, auf denen die Diskussionsteilnehmer selbst zu erkennen geben, dass sie an der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung ihrer Diskussion interessiert sind. Die Ergebnisse der Netzanalyse sind seitens der Politik öffentlich zu machen. Staatliche oder private Institutionen dürfen aus der Netzanalyse weder einseitig Gewinn schlagen, noch darf die freie Äußerung zu Lasten einzelner Diskutanten und Gruppen gehen. Den Teilnehmern an der politischen Kommunikation im Netz dürfen keine Nachteile entstehen. Insbesondere darf die Teilnahme an der politischen Netzdiskussion keine polizeiliche und geheimdienstliche Verfolgung oder juristische Sanktionierung nach sich ziehen. Die geheimdienstliche Auswertung der öffentlichen politischen Netzkommunikation – beispielsweise die Erstellung von User-Profilen und Koppelung mit anderen persönlichen Daten – ist zu verbieten.
Die Netzanalyse ist zu demokratisieren. Den Teilnehmern der Netzkommunikation und der allgemeinen Öffentlichkeit sind ebensolche technischen Möglichkeiten zur Analyse der politischen Netzkommunikation zu erschließen, wie sie Regierungen und Parteien durch kommerzielle Anbieter einschlägiger Software eröffnet werden. Produzenten und Anbietern von freier, halbfreier oder proprietärer Software kommt dabei eine Schlüsselstellung zu, aber auch den Entwicklern in öffentlich geförderten Projekten.
7 Dem Verlangen nach Anonymität der Diskussionsteilnehmer ist Rechnung zu tragen. Zwar steht dem die Erwartung gegenüber, dass sich in der Demokratie die Citoyens bei der Diskussion der öffentlichen Belange mit offenem Visier begegnen. Doch kann ausgerechnet die Anonymität demokratische Diskurse fördern. Sind Alter, Geschlecht, Beruf von Diskutanten nicht bekannt, zählt allein das Argument. Wenn nur das Argument zählen soll, ist die Anonymität das beste Instrument, um den Diskurs auf seinen sachlichen Kern zu fokussieren. Die Anonymität, die die Aufmerksamkeit auf das Argument konzentriert, atmet einen egalitären Geist, der der Demokratie gut zu Gesicht steht. Der anonyme Netzbürger ist auch der egalitäre Netzbürger. Für Beobachter des politischen Geschehens, die sich für Diskursmuster und Stimmungen interessieren und nicht für Personen, die haftbar zu machen sind, ist die Anonymität keine Gefahr, sondern eine Bereicherung.
Gegenwärtig ist offen, welche Plattformen am besten geeignet sind, die politische Kommunikation im Netz zu einem zentralen Ort politischer Selbstverständigung der Gesellschaft auszubauen. Zu beobachten ist, dass selbst kreierte Plattformen interessierter Diskutanten, die Diskussionsangebote auf den Online-Seiten diverser Printmedien sowie zu geeigneten Sendungen öffentlich-rechtlicher Fernsehsender stärker für eine offene Diskussion genutzt werden als die Angebote von Parteien, mit Ausnahme der Piraten. Erstaunlich ist die teilweise geringe Nutzung von Diskussionsangeboten zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Facebook und insbesondere Twitter setzen eigene Stränge politischer Kommunikation in Gang. Aber diese Formate, die vor allem kurzfristige Aufwallungen – den »Shitstorm« – signalisieren, eignen sich für eine Entfaltung von Diskursen weniger als beispielsweise die Kommentarspalten von Online-Medien oder die Foren der Polittalkshows. Eine Plattform, der die Funktion eines Leitmediums der politischen Netzkommunikation zuzuschreiben wäre, ist nicht erkennbar. Sie ist weder wünschenswert noch vorläufig zu erwarten. Die Pluralität des Netzdiskurses ist ein hohes Gut, und die Vielfalt der Kommunikationsräume entspricht den heterogenen Kommunikationsinteressen der Diskutanten. Umso wichtiger werden technische Instrumente, die eine Zusammenführung der verschiedenen Diskussionsstränge und eine integrierte Analyse möglich machen.
Man kann Wahlkämpfe im Netz verlieren. Man kann im Netz aber vor allem die Auseinandersetzung um die Legitimität der Demokratie in Köpfen und Herzen der Menschen verlieren.
Tipps zum Weiterlesen
Siebter Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« – Demokratie und Staat – Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12290 vom 6. Februar 2013, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712290.pdf
Emmer, Martin/Vowe, Gerhard/Wolling, Jens, Politische Online-Kommunikation in Deutschland, Konstanz 2011.
Emmer, Martin/Seifert, Markus/Wolling, Jens (Hg.), Politik 2.0? Die Wirkung computervermittelter Kommunikation auf den politischen Prozess, Baden-Baden 2010.