Mehr Strategie wagen: Wie kann man sozialpolitische Diskurse im Spannungsfeld von normativ »guter« und strategisch sinnvoller Kommunikation steuern?
Melanie Diermann
Während sich die Geister der politischen Elite Deutschlands an Fragen zur Notwendigkeit eines gesetzlichen Mindestlohns oder der Finanzierung einer Mütterrente scheiden, überkommt Ottilie Normalverbraucherin mehr und mehr ein ganz anderer Eindruck: Ihr ist es im Grunde egal, wer das Land regiert, denn aus ihrer Sicht macht das eigentlich keinen Unterschied. Das ist aus demokratietheoretischer Sicht natürlich schade und moralisch-wertethisch auch »nicht gut«. Gleichwohl ist die öffentlich wahrgenommene Ambivalenz politischer Parteien gut nachvollziehbar, denn Politik ist in Deutschland im Vergleich zu anderen modernen Demokratien noch komplexer, vernetzter und vielschichtiger, unübersichtlicher.
Vor allem eine im Vergleich zu anderen Ländern stärkere Dezentralisierung politischer Macht ist dafür ursächlich. Nachdem im Nationalsozialismus der Worst Case politischer Machtzentralisierung real geworden war, brachte die Stunde null eine Verfassung mit sich, in der Machtdezentralisierung und Nicht-Personalisierung von Politik die zentralen Säulen bildeten. Während Zentralisierung politischer Macht zu eher konfrontativem politischen Handeln nach den Prämissen eines »Entweder-oder« führt, bringen Demokratien mit starker Machtdezentralisierung in erster Linie Konsenszwänge hervor, die sich gemeinhin in einer »Politik der kleinen Schritte« niederschlagen.
Die von Ottilie Normalverbraucherin wahrgenommene Ambivalenz politischer Parteien wird insofern durch systemisch-institutionelle Faktoren (Komplexität, Politikverflechtung) begünstigt. Darüber hinaus sind es aber auch die Parteien selbst, die zur wahrgenommenen Ambivalenz ihrer eigenen Performance beitragen. Indem sie sich im Zuge personeller und situativer Veränderungen auf dem Wählermarkt etwa neu orientieren und ihre Positionierung modifizieren, öffnen sie dem Vorwurf der Nicht-Verlässlichkeit letztlich auch selbst Tür und Tor.
Die Bundestagswahl 2013 hat an dieser grundlegenden Situation wenig geändert. Die SPD bleibt zehn Prozentpunkte hinter der Union, sodass 2013 praktisch auf der Hand liegt: Deutschland wird auf absehbare Zeit mit einer konservativen Mehrheit regiert. Änderungen im Farbtableau brachte das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 gleichwohl für die kleinen Parteien: Die FDP spielt als liberale kleine Partei im neu zusammengesetzten Bundestag keine Rolle mehr, und die Linkspartei zieht als drittstärkste Kraft in das Parlament ein.
Inhaltlich sind indes insbesondere der Erhalt und die zukunftsfähige Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme die zentrale innenpolitische Herausforderung. Die regierenden Parteien stehen dabei sowohl exogen als auch endogen unter hohem Reformdruck, weil sie zum einen eigene Wahlversprechen realisieren müssen und weil zum anderen äußere Sach- und Sparzwänge sowie Politikformulierungen anderer politischer Akteure sie zum Handeln zwingen. Diskurse um sozialpolitische Schlüsselentscheidungen – das hat spätestens die Veränderung der politischen Landschaft in Deutschland im Nachgang um den Reformprozess der Agenda 2010 gezeigt – geraten auf diese Weise immer klarer zur Nagelprobe für deutsche Regierungen.
Politische Akteure positionieren sich vor dem Hintergrund anstehender Reformierungsbedarfe in sozialpolitischen Diskursen idealtypisch zwischen zwei Polen: Sie können für die Kürzung von Leistungen eintreten (»sparen«) oder für eine Verteuerung gleichbleibender Leistungen (»Beiträge erhöhen«) eintreten. Dabei stoßen sie wahlweise auf den Widerstand der Kürzungs- oder Verteuerungsgegner. Diskurse über Reformprozesse zur sozialen Sicherung sind insofern genuin durch ein hohes Konfliktniveau geprägt und von einer hohen medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet.
1 Regierungen stehen dabei vor der Herausforderung, Entscheidungsmehrheiten (Entscheidungslegitimation) und öffentliche Zustimmung (Darstellungslegitimation) für Vorhaben organisieren zu müssen, von denen sie im Grunde wissen, dass sie nicht per se bei ihren Wählern auf Zustimmung stoßen und insofern auch das Ziel des eigenen Machterhalts gefährden können.
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen, die an den sich neu konstituierenden Bundestag und die von ihm zu wählende Regierung im Herbst 2013 stellen, geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, was in Zeiten hoch komplexer Politikverdichtung auf der einen und empfundener Ambivalenz auf der anderen Seite Parteien und Regierungen hinsichtlich ihrer Positionierung in politischen Diskursen geraten werden kann. Klar ist, dass komplexe Ausgangslagen, enge Wahlzyklen im föderalen System der Bundesrepublik und die Einbettung in ein dichtes europäisches Gesamtsystem ein Korsett schnüren, in dem ein souveränes (Neu-)Positionieren praktisch nicht möglich ist, ohne sich in den Ambivalenzen von Machbarkeit und Wünschenswertem zu verlieren. Auf der Hand liegt gleichwohl, dass die Sehnsucht nach Neuem – das etwa zeigen die Wahlergebnisse der Alternative für Deutschland (AfD) im Kontext der Bundestagswahl 2013 und die Ergebnisse der Piratenpartei bei den vorangegangenen Landtagswahlen – vorhanden ist, obschon das Volk letztlich mehrheitlich Beständigkeit wählte (»Sie kennen mich«, betonte Wahlgewinnerin Merkel häufig
2).
Wie also können politische Akteure mit den an sie gestellten multidimensional ambivalenten Anforderungen umgehen? Wie können sie strategische Ziele verfolgen, ohne die Orientierung an wertethisch »guter« Politik aus dem Blick zu verlieren? Die Erörterung dieser Fragen soll auf der Basis einer genaueren Betrachtung von politischer Kommunikation in (sozialpolitischen) Diskursen erfolgen.
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Dazu wird zunächst in Abschnitt 1 die taktgebende Funktion politischer und gesellschaftlicher Institutionen erörtert, vor deren Hintergrund politische Kommunikation als Akteurshandeln stattfindet. Institutionen formulieren dabei einen Korridor, in dem Kommunikation erfolgen kann. In Abschnitt 2 wird Kommunikation als Akteurshandeln genauer betrachtet. Die Abschnitte 3 und 4 zeigen die strategischen und normativen Ziele von Kommunikation in sozialpolitischen Diskursen auf, die in einem natürlichen Spannungsverhältnis zueinander stehen: Nicht alles, was strategisch zielführend ist, ist auch normativ wünschenswert. In Abschnitt 5 werden zwei Fallbeispiele sozialpolitischer Diskurse erörtert. Während die Diskurssteuerung der Regierung Schröder im Fall des Diskurses um die Agenda 2010 als nicht erfolgreich analysiert wird, konnte die Regierung Merkel im Fall der ebenfalls diskursiven Gesundheitsreform 2007 letztlich erfolgreich steuern. In Abschnitt 6 werden die dafür maßgeblichen Unterschiede sowie daraus resultierend auch allgemeine Schlussfolgerungen für die (erfolgreiche) Steuerung sozialpolitischer abschließend herausgearbeitet.
1. Institutionen als Taktgeber in sozialpolitischen Diskursen
Politische Entscheidungen finden in modernen Demokratien niemals in luftleeren Räumen statt. Sie sind vielmehr eingebettet in ein komplexes System aus institutionellen Regeln, Erfahrungen und Entwicklungen. Der Journalist, der berichtet, hat eine Meinung; das Medium, für das er schreibt, hat eine redaktionelle Linie; der Politiker, der entscheidet, hat eine Vergangenheit; die Positionierung einer Partei hat einen Entstehungskontext; der parlamentarische Entscheidungsprozess folgt einer gesetzlichen Grundlage und so weiter. Die Summe dieser institutionellen Faktoren formuliert einen Korridor, der die Ressourcen und Restriktionen für politische Akteure vorstrukturiert.
Für Parteien in Deutschland folgt vor diesem Hintergrund aus dem personalisierten Verhältniswahlrecht auf der Bundesebene etwa die Notwendigkeit, Koalitionen einzugehen, um eine Regierungsmehrheit im Parlament herstellen zu können. Aus der Koalitionsnotwendigkeit wiederum resultiert für deutsche Regierungschefs zusätzlicher Abstimmungsbedarf, weil nicht nur mit der eigenen Partei, sondern auch mit dem Koalitionspartner Einvernehmen hergestellt werden muss, damit die parlamentarische Mehrheit gesichert bleibt. Hinzu kommt, dass die Landesregierungen der deutschen Bundesländer über den Bundesrat in allen zentralen Entscheidungen ein Mitspracherecht besitzen. Hier besteht insofern weiterer Abstimmungsbedarf. Wie im Fall der Cohabitation in Frankreich oder des Divided Government in den USA ist es auch in Deutschland aufgrund der unterschiedlichen Wahltermine und -populationen möglich, dass die Mehrheiten im Bundesrat nicht den Mehrheiten im Bundestag entsprechen. Der Bundesrat muss somit im Rahmen der Entscheidungskommunikation als möglicher Vetospieler ebenfalls berücksichtigt werden. Diese systemisch-institutionelle Voraussetzung steht auch grundlegend der Möglichkeit einer Minderheitsregierung auf der Bundesebene entgegen, da Regierungen ohne eigene Mehrheit in allen zentralen Fragen (zustimmungspflichtige Gesetze) faktisch nicht handlungsfähig wären, weil bei jeder Absprache im Parlament zur Findung punktueller Mehrheiten die jeweils nicht beteiligte Partei im Bundesrat das Gesetz blockieren könnte.
Als weiterer potenzieller Vetospieler ist aus der Sicht der deutschen Regierung das Bundesverfassungsgericht zu nennen. Es wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und wird durch Anrufung aktiv. Institutionen bilden insofern Regelsysteme, die in Entscheidungsprozessen mögliche Ver-haltens- und Verfahrensnormen eingrenzen, indem sie Dominanzbeziehungen und Abhängigkeitsstrukturen formulieren, aus denen aus Sicht der Regierung Machtressourcen oder Machtrestriktionen hervorgehen.
4 Sie strukturieren insofern Handlungsoptionen, wenngleich sie keinen Aufschluss darüber geben, für welche der Optionen sich ein Akteur letztlich entscheidet.
Wie lauten nun die institutionell formulierten Spielregeln für sozialpolitische Diskurse in Deutschland? Seit den 2000er Jahren zeichnet sich in der wissenschaftlichen Literatur insgesamt ein Trend ab, der den Stellenwert der Medien als einzigen Taktgebern der politischen Kommunikation problematisiert und für eine differenziertere Kontextualisierung eintritt.
5 Novy und Schmitz betonen in diesem Zusammenhang insbesondere die institutionelle Verankerung von Kommunikation und führen sie als »wichtige Stellgröße für den Erfolg von Reformvorhaben«
6 an. Institutionelle Variablen, die im Sinne einer Vorstrukturierung Einfluss auf die Kommunikation als Akteurshandeln in sozialpolitischen Diskursen nehmen, sind der Regierungssystemtyp, der Demokratietyp und der Wohlfahrtsstaatstyp.
7 Der institutionelle Kontext Deutschlands ist vor diesem Hintergrund insgesamt geprägt durch ein parlamentarisches Regierungssystem,
8 den Demokratietyp
9 einer Verhandlungsdemokratie sowie durch einen konservativen Wohlfahrtsstaatstyp.
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Für die institutionelle Vorstrukturierung der Korridore für sozialpolitische Diskurse in Deutschland ergibt sich auf dieser Basis folgendes Bild: Der parlamentarische Regierungssystemtyp und der Demokratietyp der Verhandlungsdemokratie führen zu einer starken Dezentralisierung von politischer Macht in doppeltem Sinne: Regierungsmehrheiten können nur durch Koalitionen zustande kommen und die föderale Ebene der Länder – die andere politische Mehrheiten als im Bund hervorbringen kann – ist über die zweite Kammer, den Bundesrat, bei wichtigen Entscheidungen mit involviert, sodass weiterer Abstimmungsbedarf besteht. Der konservative wohlfahrtsstaatliche Wertekonsens in Deutschland bringt zudem Erwartungen hervor, die insbesondere auch den Staat in einer Verantwortlichkeitsrolle sehen, die soziale Sicherung seiner Bürger zu gewährleisten. Der kommunikative Korridor ist insofern argumentativ auf eine Kommunikation zugeschnitten, die dieser Werteorientierung folgt oder ihr zumindest nicht widerspricht.
2. Kommunikation als Akteurshandeln in sozialpolitischen Diskursen
Neben Institutionen bilden Akteure die zweite wesentliche Komponente in politischen Diskursen. Sie handeln in den institutionell vorstrukturierten Korridoren. »Politik machen« geschieht dabei durch Kommunikation und kann über drei zentrale Zugänge erschlossen werden.
11 Erstens über den Zugang der Zielsetzung von Kommunikation, die die Akteure in ihrer Rolle als Kommunikator verfolgen. Dieser Zugang kann als Ebene des »Wollens« definiert werden (»Was will der Akteur erreichen?«). Zweitens stellt sich die Frage, in welcher Konstellation Kommunikation stattfindet. Hier ist von Interesse, welche Möglichkeiten aus der Sicht eines Akteurs in der Konstellation institutionell vorstrukturiert und durch das Handeln der anderen Akteure tangiert oder konterkariert überhaupt bestehen. Dieser kommunikative Korridor kann als Ebene des »Könnens« definiert werden (»Was kann der Akteur erreichen?«). Drittens sind die Erwartungen verschiedener Adressatengruppen (andere politische Akteure, öffentliche Adressatengruppen wie etwa Betroffene) als Bezugspunkt der Kommunikation von Bedeutung. Dieser Zugang zum Untersuchungsgegenstand kann als Ebene des »Sollens« definiert werden (»Was soll der Akteur umsetzen/unterlassen?«). Kommunikation erfolgt insofern – so soll es hier vorausgesetzt werden – mit dem übergeordneten Ziel, das »Wollen« und das »Sollen« im kommunikativen Korridor des »Könnens« miteinander in Einklang zu bringen.
Der Versuch, Kommunikation in wissenschaftlichen Modellierungen zu fassen, stellt grundlegend zunächst ein kommunikationswissenschaftliches Erkenntnisinteresse dar. Die ersten Gehversuche der Kommunikationswissenschaft in den 1950er Jahren waren von der Idee geprägt, dass Kommunikation zwischen Menschen mit der Kommunikation zwischen Maschinen vergleichbar sei.
12 Maschinen wie Menschen würden auf der Basis eines einvernehmlichen Codes kommunizieren, den sowohl Sender als auch Empfänger kennen und entschlüsseln. Kommunikation käme in dieser Lesart nur in zwei Fällen nicht erfolgreich zustande: Entweder wäre die Verbindung zwischen Sender und Empfänger gestört oder der Empfänger wäre kaputt.
Dass zwischenmenschliche Kommunikation so einfach nicht erklärt werden kann, zeigten unter anderem grundlegend die Arbeiten von Westley und McLean,
13 die insbesondere die Interpretationshoheit des Empfängers in den Fokus der Forschung rückten: Gesagt heißt eben noch lange nicht verstanden und verstanden nicht zwangsläufig einverstanden. Dieses grundsätzliche Paradigma der zwischenmenschlichen Kommunikation ist auch für die politische Kommunikation von großer Bedeutung, weil sie grundlegend die Bedeutung von Sender und Empfänger in Bezug aufeinander kennzeichnet. Der Grund, warum sich die Politikwissenschaft lange schwer getan hat, das Phänomen der politischen Kommunikation zu fokussieren, liegt auf der Hand, wenn man sich die traditionellen Modellierungen ansieht, mit denen Politikwissenschaft gearbeitet hat. Sie sind statisch, also nicht reflexiv oder zeitsensitiv. Kommunikation aber, verstanden als Prozess zwischen Sender und Empfänger, ist ein dynamischer Akt
14 und insofern mit statischen Modellen nicht fassbar.
Politikwissenschaftlich abstrakt gesprochen, ergibt sich das Problem einer Unterminierung diskursiver Faktoren. Betrachtet man Kommunikation als Prozess des wechselseitigen Aufeinanderbeziehens von Sender und Empfänger zu einem bestimmten Thema, ist die Reduktion auf »am Anfang sendet der Sender, am Ende empfängt der Empfänger« nämlich deswegen problematisch, weil das wechselseitige Aufeinanderbeziehen an sich und der sich auf dieser Basis im Zeitverlauf verändernde Ideenzuschnitt nicht modelliert werden.
Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Vivien A. Schmidt hat sich vor diesem Hintergrund mit der Frage befasst, wie man die diskursive Dimension von Kommunikation modellhaft abbilden kann.
15 Für die Frage nach der Steuerungsfähigkeit von politischen Diskursen sind die Arbeiten von Schmidt deswegen so interessant, weil sie die Zeitsensitivität abbilden, denen politische Diskurse unterliegen. Die Positionen und Argumentationen der Akteure verändern sich im Zeitverlauf. Während sich eine Veränderung der Position auch auf der inhaltlichen Ebene niederschlägt, bezieht sich die Veränderung der Argumentation auf die Begründungsebene. Reformen können in diesem Zusammenhang rechtfertigend argumentiert werden (»eine entsprechende Maßnahme ist erforderlich, damit das System im Ganzen funktionsfähig bleibt«) oder rational-ökonomisch (»wenn wir entsprechend der vorgeschlagenen Maßnahme verfahren ist es billiger, als wenn wir weiter wie bisher verfahren«). Beide Ebenen unterliegen einer hohen Zeitsensitivität. Argumente, die in einer früheren Phase des Diskurses geäußert worden sind, behalten nicht per se ihre Gültigkeit. Indem sie aber gleichwohl im Raum stehen, werden Akteure an den bisher geäußerten Argumentationen gemessen und beurteilt.
Für die Steuerung von politischen Diskursen folgt daraus, dass im Rahmen von Kommunikation zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Akteursperspektive nicht antizipiert werden kann, welche kommenden Entwicklungen das Gesagte relativieren könnten. Das kategorische Ausschließen einer Koalitionsoption nach der Wahl macht im Vorfeld der Wahl unmittelbar Sinn, weil es im Wahlkampf Verbindlichkeit suggeriert. Nach der Wahl ergibt sich daraus eine Einschränkung der tatsächlichen Möglichkeiten, die nur durch ein Sich-selbst-Widersprechen aufgebrochen werden kann. Der Trend zur Unverbindlichkeit in Wahlkampfaussagen ist maßgeblich darin zu verorten, dass erklärte Ziele zu einem frühen Zeitpunkt Verbindlichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt hervorbringen, die aus der strategischen Perspektive von Kommunikation suboptimal sind.
Abbildung eins verortet vor diesem Hintergrund Kommunikation im Kontext politischer Diskurse. Steuerung durch Kommunikation ist auf der Akteursebene anzusiedeln, wo der einzelne Akteur sein Steuerungsanliegen formuliert. Er ist an die institutionellen und medialen Regeln gebunden, die seinen Kontext prägen und insofern seinen Handlungskorridor vordefinieren (vgl. Abschnitt 1), und seine Steuerungsressourcen ergeben sich grundlegend auf der Basis seiner Strategiefähigkeit (etwa die Frage nach der internen Geschlossenheit ist hier von Bedeutung) und seiner normativen Werteorientierung.
Politische Kommunikation kann in diesem Kontext grundlegend entlang zweier Lesarten definiert werden: Sie erfolgt zum einen im Sinne von »Politik durch Kommunikation« als Entscheidungskommunikation und zum anderen im Sinne von »Kommunikation über Politik« als Darstellungskommunikation. Entscheidungskommunikation ist idealtypisch an andere politische Akteure adressiert und verfolgt das Ziel, eine Entscheidungsmehrheit zur Verabschiedung von Gesetzen (Entscheidungslegitimation) herzustellen. Darstellungskommunikation ist idealtypisch an öffentliche Adressatengruppen wie Wähler gerichtet und verfolgt das Ziel, Zustimmung zu politischen Schlüsselentscheidungen (Darstellungslegitimation) zu generieren.
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3. Legitimation als strategisches Ziel von Kommunikation
Aus rationaler Sicht verfolgen politische Akteure drei maßgebliche Ziele: Sie wollen Stimmen maximieren (Vote Seeking), um politische Ämter zu besetzen (Office Seeking) und politische Inhalte umzusetzen (Policy Seeking). Legitimation ist insofern das übergeordnete Anliegen, das auf der strategischen Ebene als Ziel verfolgt wird. Kommunikation wird vor diesem Hintergrund grundlegend dann erforderlich, wenn Gründe für politisches Handeln nicht »auf der Hand« liegen, wenn sowohl für das eine wie auch für ein anderes Vorgehen Aspekte sprechen.
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Legitimation als strategisches Ziel von Kommunikation in politischen Diskursen
In politischen Diskursen etwa über die soziale Sicherung der Bürger ist die Entscheidungssituation multidimensional ambivalent, sodass der Bedarf an Abstimmung und Koordination (durch Kommunikation) groß ist. Das zentrale Ziel dieser Kommunikation ist es, Legitimation (beispielsweise für eine Reformagenda) herzustellen. Die Abbildung oben fasst die strategischen Ziele von Kommunikation auf der Ebene der Akteurspositionierung, auf der Ebene der Akteurskonstellation und auf der Ergebnisebene zusammen.
4. »Gute Politik« als normatives Ziel von Kommunikation
In der Frage strategischer Ziele sind sich Parteien weitgehend einig: Sie wollen Stimmzahlen maximieren, um politische Ämter zu besetzen und politische Inhalte umzusetzen. In der normativen Zielsetzung unterscheiden sich deutsche Parteien gleichwohl deutlicher voneinander. Diese Unterscheidung manifestiert sich zum einen in ihrem Politikzielen, wenn sie etwa für oder gegen einen Mindestlohn, eine Bürgerversicherung oder eine Anhebung der Transfersätze im Fall von Arbeitslosigkeit sind.
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»Gute Politik« als normatives Ziel von Kommunikation in sozialpolitischen Diskursen
Darüber hinaus sind auch einige strategisch-normative Bereiche von diesen Unterschieden betroffen, die für politische Kommunikation unmittelbar relevant sind: Welchen Stellenwert haben Personen im Verhältnis zu Themen? Welchen Stellenwert haben Sachfragen in Relation zu Machtfragen? Wie sind manifeste politische Inhalte gegenüber der Vermittlung von unverbindlicheren Metaemotionen gewichtet? Diese Fragen werden von den deutschen politischen Parteien sehr unterschiedlich beantwortet.
5. Erfolgreiche versus nicht erfolgreiche Diskurssteuerung: zwei Fallbeispiele
Die Agenda 2010 der Regierung Schröder
Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte im März 2003 im Rahmen einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag angekündigt, seine Regierung werde ein umfangreiches Reformkonzept mit dem Namen
Agenda 2010 umsetzen. Arbeitsmarktspezifische Reformentwürfe der sozialdemokratischen Partei in Deutschland hatten sich bis dahin vor allem im Bereich der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik bewegt und waren argumentativ durch Stichworte wie »Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln« begründet worden.
17 Mit der
Agenda 2010 und ihrer Begründung über eine »Fördern-und-Fordern-Argumentation« betrat die Regierung Schröder insofern rhetorisches Neuland: Im Vordergrund ihrer Begründung stand nun nicht mehr (nur) der Erhalt des Lebensstandards im Fall von Arbeitslosigkeit, sondern vor allem das Ziel der Wiederaufnahme einer Beschäftigung sowie die Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen.
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Im Februar 2002 setzte Schröder die
Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (die sogenannte
Hartz-Kommission) ein, die unter der Leitung des ehemaligen VW-Vorstands Peter Hartz tagte. Sie wurde beauftragt, einen umfassenden Reformkatalog zu entwickeln. Nach der Wiederwahl der rot-grünen Regierung im Herbst 2002 legte die Kommission als Ergebnis ihrer Arbeit den sogenannten
Hartz-Bericht vor.
19 Er umfasste vier zentrale Punkte: die Einrichtung sogenannter Personal-Service-Agenturen, die Neuregelung im Bereich der Minijobs und Ich-AGs, den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit und die Neuregelung von Transferzahlungen an Arbeitssuchende und Sozialhilfeempfänger zum sogenannten Arbeitslosengeld 1 und 2 (»Hartz 4«).
Die vorgeschlagenen Reformschritte
Hartz I und
Hartz II passierten infolgedessen ohne große öffentliche Resonanz noch im Winter 2002 den Bundestag.
20 Nachdem die rot-grüne Regierungskoalition im Oktober 2003 auch den Entwürfen zu
Hartz III und IV zugestimmt hatte, drohten jedoch die Christdemokraten mit einer Blockade der Gesetze im Bundesrat.
21 Im November 2003 wurde in dieser Angelegenheit der Vermittlungsausschuss des Bundesrates einberufen.
22 Nach kurzer Verhandlung konnte dort Mitte Dezember 2003 eine Einigung erzielt werden, sodass nun auch
Hartz III den Bundesrat passieren konnte.
Der innerparteiliche Druck auf Bundeskanzler Schröder stieg in dieser Zeit massiv und gipfelte im Februar 2004 darin, dass Schröder vom Parteivorsitz zurücktrat. Ein Anfang 2003 von Politikern des linken Flügels innerhalb der SPD angeregtes Mitgliederbegehren wuchs sich indes zu einem ausgeprägten Flügelkampf zwischen Reformbefürwortern und -gegnern innerhalb der Partei aus. Obwohl die Parteispitze die aufgebrachten parteiinternen Vetospieler im Frühjahr 2003 mit Regionalkonferenzen und einem Sonderparteitag zu beruhigen versuchte, in dessen Kontext auch kleinere Veränderungen an der Reformagenda selbst in Aussicht gestellt wurden, schwelte der Konflikt weiter. Schröder brachte seine Partei zwar letztendlich mit wiederholten Rücktrittsdrohungen hinter sich, ging aber nachhaltig geschwächt aus der Debatte hervor. Hartz IV, der letzte noch ausstehende Reformschritt im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, wurde schließlich im Juli 2004 vom Bundesrat gebilligt.
Nach der Beschlussfassung zu
Hartz IV regte sich nun auch in der Öffentlichkeit Protest. Unter dieser Kritik, die Bundeskanzler Schröder nun nicht mehr nur aus den eigenen Reihen, sondern auch aus den Medien und der Öffentlichkeit entgegenschlug, wurden im August 2004 bei einem Spitzentreffen der Koalition Korrekturen an den
Hartz-IV-Regelungen vorgenommen. Die Regierungskommunikation war argumentativ in dieser Phase insbesondere darauf ausgerichtet, wettbewerbsorientiert die Effizienz und Effektivität der Maßnahmen herauszustellen, was die öffentlichen Proteste jedoch nicht zum Erliegen brachte und des Weiteren auch zu zahlreichen Parteiaustritten aus der SPD führte.
23
Als es zudem im Mai 2005 bei Landtagswahlen im Stammland Nordrhein-Westfalen zu massiven Stimmverlusten für die SPD kam, sahen sich Bundeskanzler Schröder und der neue Parteivorsitzende Müntefering schließlich gezwungen, Neuwahlen auf der Bundesebene anzusetzen. In Folge dieser Wahl kam es im September 2005 zu einer großen Koalition unter Angela Merkel (CDU). CDU und SPD beschlossen im Rahmen dieser Koalition im Juni 2006 erneut kleinere Korrekturen an den Hartz-Reformen, hielten aber an der eingeschlagenen Richtung grundsätzlich fest.
24 Zur selben Zeit war gleichwohl erstmalig ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu beobachten.
25
Der zentrale normativ-strategische Zielkonflikt im Diskurs um die Agenda 2010 bestand aus Sicht der Regierung Schröder insofern insbesondere darin, dass es Schröder zwar gelang, auf der Ebene der Entscheidungspolitik Legitimation für seine Reform herzustellen – alle zur Implementierung nötigen Gesetze wurden in Bundestag und Bundesrat verabschiedet, auch weil in einigen Punkten Kompromisse im Vermittlungsausschuss zwischen SPD und Union erzielt wurden. Jedoch konnte er sein Vorhaben (normativ) weder in der eigenen Partei noch in der Wählerschaft der SPD ausreichend vermitteln, sodass er zunächst als Parteivorsitzender zurücktreten und im Zuge vorgezogener Neuwahlen die Abwahl seiner Regierung hinnehmen musste. Der Diskurs um die Agenda 2010 konnte von Schröder insofern nur unzureichend argumentativ gesteuert werden. Die Fallanalyse fokussiert insofern ein Negativ-Beispiel für (erfolgreiche) Diskurssteuerung.
Die Gesundheitsreform 2007 der Regierung Merkel
Kontrastierend zur nicht erfolgreichen Diskurssteuerung im Rahmen der Agenda 2010 durch die Regierung Schröder soll nun der Fall der erfolgreichen Diskurssteuerung der Regierung Merkel im Rahmen der Gesundheitsreform von 2007 erörtert werden, die sich im Politikfeld der Gesundheitspolitik zutrug und damit durch ähnlich konfliktgeladene Rahmenbedingungen kontextualisiert war. Gesundheitspolitik in Deutschland gleiche einem »Wasserballett im Haifischbecken«, sagte einmal der ehemalige deutsche Gesundheitsminister Norbert Blüm (CDU) in Bezug auf die besonderen Umstände dieses Politikfeldes.
26 Weil Gesundheitspolitik jeden Bürger betrifft, ist das öffentliche und mediale Interesse an Reformen in diesem Politikfeld stets groß. Zudem stellt das Gesundheitswesen in Deutschland mit 4,2 Millionen Beschäftigten auch einen erheblichen Wirtschaftsfaktor dar.
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Der »Patient Deutschland« war dementsprechend schon seit vielen Jahren in Behandlung: Von 1977 bis 2004 waren insgesamt 19 Reformgesetze auf den Weg gebracht worden,
28 Kosten und Beitragssätze zu den Krankenversicherungen stiegen aber dennoch weiter. Dabei galt lange vor allem das Wachstum der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung als wichtigste Ursache für den Beitragssatzauftrieb, weshalb sich die Regierungen Kohl und Schröder zunächst vor allem auf die Dämpfung der Ausgaben konzentriert hatten.
29 Reformen im Bereich der Gesundheitspolitik verfolgten somit traditionell vor allem das Ziel, die Effizienz des Systems zu steigern.
Die Einführung des sogenannten Gesundheitsfonds durch die (erste) Regierung Merkel zielte erneut auf die finanzielle Konsolidierung des Gesundheitssystems ab und wurde mit den Stimmen der großen Koalition im Jahr 2007 verabschiedet. Im Vorfeld hatte es in Deutschland bereits zahlreiche Reformen im Bereich der Gesundheitspolitik gegeben, die ebenfalls das Ziel der finanziellen Konsolidierung verfolgt hatten. Insbesondere war ein im Januar 2004 unter dem Titel »
Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung« in Kraft getretenes Reformpaket voraus gegangen, dessen prägnantester Bestandteil die Einführung der sogenannten
Praxisgebühr war.
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Drei zentrale Probleme blieben jedoch auch nach dieser Reform bestehen: Erstens erklärten die gesetzlichen Krankenversicherungen, nach wie vor zu geringe Einnahmen zu erwirtschaften, um kostendeckend arbeiten zu können, zweitens stellte der demografische Wandel eine nicht bewältigte Herausforderung für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung dar, und drittens wurden als zu hoch deklarierte Sozialversicherungsbeiträge argumentativ als Mitverursacher hoher Arbeitslosigkeitsquoten mit angeführt.
Zur Reformierung des Gesundheitssystems entwickelten die Regierungsparteien (CDU/CSU und SPD) zunächst eigene Reformkonzepte, die initial als sehr unterschiedliche Alternativen in die Entscheidungsfindung eingingen. Von der SPD wurde das Modell einer sogenannten Bürgerversicherung vorgeschlagen.
31 CDU/CSU favorisierten hingegen die Einführung einer sogenannten Gesundheitsprämie (auch Kopfpauschale).
32 Im Januar 2006 kam es erstmals zu gemeinsamen Verhandlungen der Koalitionspartner, mit dem Ziel, sich auf ein gemeinsames Modell zu verständigen.
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Der Vorschlag zu einem Gesundheitsfonds, in dem Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie ein Steuerzuschuss vom Staat gesammelt und zentral verwaltet werden sollen, wurde erstmals im April 2006 von CDU-Fraktionschef Volker Kauder geäußert.
34 Im Juli 2006 einigten sich die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD auf wesentliche Eckpunkte der Reformagenda.
35 Im August 2006 veröffentlichte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen ersten Entwurf der Reformagenda, der jedoch von der Union (öffentlich) kritisiert wurde.
36 Aufgrund des offensichtlich fortbestehenden Diskurses innerhalb der Regierungskoalition wurde daher im September 2006 die Verschiebung der Reform auf das Jahr 2007 beschlossen. Im Folgenden wurde eine Expertenkommission eingerichtet, die unter der Leitung von Wirtschaftsprofessor Bert Rürup (für die CDU) und Eckart Fiedler (für die SPD) tagte und einen für beide Seiten akzeptablen Entwurf vorlegen sollte.
37 Dieser Entwurf wurde schließlich vom Koalitionsausschuss im Oktober 2006 angenommen.
38 Er beinhaltete neben der grundsätzlichen Übereinkunft zur Einführung des Gesundheitsfonds auch ihre Verschiebung auf das Jahr 2009.
Der zentrale normativ-strategische Zielkonflikt im Rahmen des Diskurses um die Gesundheitsreform 2007 bestand aus Sicht der Regierung Merkel darin, dass weder SPD noch CDU mit ihren (normativ) sehr unterschiedlichen Vorlagen eine parlamentarische Mehrheit hätten finden können, sodass ein Kompromiss erforderlich wurde. Die ursprüngliche Forderung der Bürgerversicherung konnte nicht weiter aufrechterhalten werden. Der Gesundheitsfonds wurde als Kompromiss im Nachgang der Reform – anders als im Fall der Agenda 2010 – öffentlich nicht infrage gestellt, und Angela Merkel konnte weiter regieren, sodass hier insgesamt von einer erfolgreichen Diskurssteuerung gesprochen werden kann. Abschnitt sechs vergleicht zentrale Aspekte beider Diskurse und stellt die wesentlichen Unterschiede abschließend heraus.
6. Schlussfolgerungen für die Steuerung von sozialpolitischen Diskursen
Das Betrachten von Kommunikation im Kontext politischer Diskurse ist grundlegend deswegen von Interesse, weil Politik durch Kommunikation geschieht und weil insofern aus dem Kennen der Regelmechanismen, die Kommunikation vorstrukturieren, auch Erkenntnisse über Steuerung durch Kommunikation erfolgen können. Politische Diskurse wurden hier vor diesem Hintergrund am Beispiel von sozialpolitischen Diskursen betrachtet. Die Ebene des Wollens, des Könnens und des Sollens wurden dazu grundlegend unterschieden. Auf der Ebene des Wollens erfolgt aus der Akteursperspektive die normative und strategische Zielsetzung. Normative und strategische Ziele stehen dabei in einem natürlichen Spannungsverhältnis, weil nicht alles, was strategisch sinnvoll ist, auch als normativ gut oder wünschenswert bezeichnet werden kann. So kommen etwa Großspenden aus der Wirtschaft den strategischen Zielen (Vote-, Office-, Policy-seeking) unmittelbar entgegen, bergen aber normativ das Problem, dass es sich bei dem Spender um einen potenziell von politischen Entscheidungen Betroffenen handeln könnte.
Auf der Ebene der Akteurskonstellation gewinnt dieses Spannungsfeld in einer weiteren Dimension an Bedeutung: Vergleicht man die Spendenpraxis von SPD und CDU, stellt man fest, dass die Lesarten, was normativ angemessen ist und was nicht, auseinanderfallen. Der zugrunde liegende normative Wertekonsens ist ein anderer, die Akteure »spielen« also in derselben Konstellation, aber nicht nach denselben Regeln. Die Entscheidungs- und die Darstellungsebene von Kommunikation wurden hier darüber hinaus als weitere zentrale Unterschiede angeführt. »Politik durch Kommunikation« und »Kommunikation über Politik« bildeten dabei die idealtypischen Pole.
Der wesentliche Taktgeber für Kommunikation in politischen Diskursen sind Institutionen. Sie formulieren einen kommunikativen Korridor, aus dem sich für jeden Akteur Ressourcen und Restriktionen zur Kommunikation ergeben. Deutsche Bundeskanzler verfügen über eine Mehrheit im Parlament (Ressource), müssen ihre Reformanliegen aber mit dem Koalitionspartner und gegebenenfalls auch mit dem Bundesrat verhandeln (Restriktionen). Auch auf der Ebene der Darstellungskommunikation engen Restriktionen die Handlungsspielräume deutscher Bundeskanzler ein: Als eine wichtige institutionelle Restriktion ist hier der wohlfahrtstaatliche Wertekonsens angeführt worden, der sich über den Wohlfahrtsstaatstyp nach Esping-Andersen
39 operationalisieren lässt. Er ist in sozialpolitischen Diskursen bedeutsam, weil er die Frage thematisiert, inwiefern Bürger die Verantwortlichkeit für die soziale Sicherung des Einzelnen aufseiten des Staates sehen oder nicht. Die skandinavischen Länder und die USA bilden in dieser Frage idealtypische Gegenpole, während Deutschland eher in der Mitte zu verorten ist: Der Staat muss die soziale Sicherung der Bürger unterstützen, aber auch die Initiative des Einzelnen ist wichtig, finden die Deutschen.
Die betrachteten Fallbeispiele veranschaulichen vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen jeweils einen erfolgreichen und einen nicht erfolgreichen Verlauf von Diskurssteuerung durch Kommunikation. Bundeskanzler Schröder war es im Rahmen der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze zwar gelungen, eine Zustimmung in Bundestag und Bundesrat zu entsprechenden Gesetzen zu organisieren (Entscheidungslegitimation), jedoch konnte er sein Anliegen in der Öffentlichkeit und im Speziellen in der eigenen Wählerschaft normativ nicht hinreichend vermitteln (fehlende Darstellungslegitimation). Öffentliche Proteste folgten, Schröder musste als Parteivorsitzender der SPD zurücktreten, und die SPD unterlag im Rahmen der vorgezogenen Neuwahlen von 2005. Das Fallbeispiel zeigt insofern, wie das strategische Ziel, eine Reformagenda umzusetzen, zwar erreicht (Policy Seeking), aber aufgrund einer normativ nicht als angemessen empfundenen Vorgehensweise ein Strudel entstehen konnte, der auch auf der strategischen Ebene (Vote Seeking, Office Seeking) empfindliche Zielverfehlungen nach sich zog.
Im zweiten Fallbeispiel, das die Einführung des sogenannten Gesundheitsfonds durch die Regierung Merkel im Rahmen der großen Koalition thematisiert hat, waren auf der Akteursebene beide Akteure (SPD und CDU) von ihren ursprünglichen Positionen (Bürgerversicherung versus Kopfpauschale) abgewichen und hatten sich auf einen Kompromiss verständigt. Darstellungslegitimatorisch ist das tendenziell problematisch, weil dann argumentativ begründet werden muss, warum die ursprüngliche Position aufgegeben worden ist. Die Einführung des Gesundheitsfonds wurde im Nachgang zur Reform öffentlich aber nicht infrage gestellt, und Merkel wurde als Regierungschefin wieder gewählt, sodass sowohl auf der Entscheidungs- als auch auf der Darstellungsebene von erfolgreicher Legitimation gesprochen werden kann.
Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass es Merkel gelungen war, den konservativen wohlfahrtstaatlichen Wertekonsens, der deutsche sozialpolitische Diskurse institutionell bedingt prägt und vorstrukturiert, angemessen zu berücksichtigen, während Schröder mit seiner »Fördern-und-fordern-Argumentation« damit brach. Dabei war es nicht so entscheidend, ob ein Großteil der Bevölkerung mit der Reform leben konnte oder nicht, denn die CDU-Wähler würden auch weiterhin nicht SPD wählen, die SPD-Wähler fühlten sich aber verprellt. Die Zusammenschau der Beispiele macht auch offensichtlich, dass Parteien nicht an denselben normativen Wertevorstellungen gemessen werden. »Gute« Politik ist aus der Sicht von SPD-Wählern etwas anderes als aus der Sicht von CDU-Wählern.
Erfolgreiches Regieren kann vor diesem Hintergrund nur dann stattfinden, wenn normative und strategische Ziele gleichermaßen in Betracht genommen werden. Dabei sind jeweils die normativen Wertemaßstäbe zu berücksichtigen, die zum einen das jeweilige politische System institutionell bedingt vorformulieren und zum anderen die Erwartungen der eigenen Wählerschaft, die auf andere Parteien oder Nichtwahl ausweichen, wenn sie sich enttäuscht fühlen. Politische Strategien müssen sich insofern immer auch an einem normativen Maßstab messen lassen. Die letzte Abbildung fasst diese normativ-strategischen Zielkonflikte auf den Ebenen des Akteurs, der Akteurskonstellation und der Ergebnisse zusammen.
Für die eingangs gestellte Frage »mehr Strategie wagen?« können vor diesem Hintergrund folgende Aspekte gefolgert werden:
Normative und strategische Zielsetzungen von Kommunikation stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis zueinander, weil nicht alles, was strategisch sinnvoll erscheint, auch normativ gut ist.
Über die Zeitachse von (sozial-)politischen Diskursen ergibt sich die weitere Schwierigkeit, dass nicht alles, was punktuell strategisch zielführend ist (Policy Seeking), mittel- und langfristig auch strategisch sinnvoll bleibt (Vote Seeking, Office Seeking). Mit anderen Worten: auch die strategischen Teilziele können in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auf der Ebene der Akteurskonstellation entsteht zudem eine Situation, in der verschiedene Akteure mit unterschiedlichen normativen Kontexten miteinander interagieren. Die Spieler spielen zwar dasselbe Spiel – aber nach unterschiedlichen Regeln. So werden beispielsweise Fragen nach der Gewichtung von konkreten Inhalten versus unkonkreter Metabotschaften von Themen und Personen oder von Sach- und Machtfragen von den Parteien unterschiedlich beantwortet.
Bei Wahlen gibt es keine Trostpreise: Siegreich hervor geht die Partei, die in der Gesamtperformance (Personen, Themen, Gewichtung von Sach- und Machtfragen usw.) überzeugen kann. Die einzelnen Kategorien (»bestes normatives Politikverständnis«) bleiben indes unausgezeichnet. Diese nüchterne Logik der rationalen Entscheidung unterwirft Parteien dem Zwang, auch auf der abstrakten Ebene das eigene Angebot kompetitiv zu bewerten. Qualität ist insofern eine relationale Größe: »Waren wir gut?«, kann nur in Bezug auf »Wie waren die anderen?« beurteilt werden.
»Mehr Strategie wagen« wird auf dieser Basis immer dann zum Fallstrick, wenn Strategien offensiv normativen Werten oder Erwartungen gegenüberstehen. Kommunikation kann in diesem Kontext Brücken bauen, indem kritische oder schwierige Vorhaben argumentativ begründet werden. Der normative Konsens der Wählerschaft bleibt dafür der wesentliche Referenzpunkt.
Tipps zum Weiterlesen
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