Aufruf zur Veränderung: Wie schreibt man ein Manifest?
Robert Lorenz und Johanna Klatt
Eigentlich sind Manifeste eine steinalte Methode, Politik zu machen. In der Frühen Neuzeit dienten sie Königen und Kaisern zur Bekanntmachung des herrschaftlichen Willens.
1 Herolde verlasen sie vor den überwiegend analphabetischen Untertanen, um Gesetze und Erlasse der Monarchen zu verkünden. Insofern erstaunt die Entwicklung, die Manifeste im Verlauf der Geschichte durchmachten. Denn mit der Zeit wandelten sie sich von einem autokratischen zu einem demokratischen Artikulationsinstrument.
2 In der Französischen Revolution avancierten sie zum Hilfsmittel des politischen Meinungsaustauschs, insbesondere zur oppositionellen Mitteilung. Nicht mehr die herrschende Mehrheit, sondern die Minderheiten kommunizierten über Manifeste und versuchten darüber, die Bevölkerung für ihre Anliegen zu gewinnen. Im 18. Jahrhundert hatten Manifeste also ihren aristokratischen Charakter abgestreift und waren in der Demokratie angekommen.
Die deutsche Geschichte kennt zahlreiche Beispiele politischen Manifestierens. Im Vormärz 1834 versuchte der Literat Georg Büchner mit seinem »Hessischen Landboten«, der einfachen Bevölkerung ihre Knechtschaft vor Augen zu führen und sie zur Rebellion gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln; unvergessen auch die Schrift von Karl Marx und Friedrich Engels – natürlich: das Kommunistische Manifest –, das im Revolutionsjahr 1848 die Menschheitsgeschichte als eine ununterbrochene Abfolge von Klassenkämpfen schilderte und die »Proletarier aller Länder« zum »gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung« aufforderte; dann die patriotischen Wissenschaftler und Künstler, die im Oktober 1914 in ihrem berühmt-berüchtigten »Manifest der 93« einen »Aufruf ›An die Kulturwelt‹« starteten, in dem sie die Deutungshoheit über das umstrittene Vorgehen Deutschlands zu Beginn des Ersten Weltkriegs anstrebten; als die DDR in ihren letzten Zügen lag, kündete ein Manifest des »NEUEN FORUMS« vom friedensrevolutionären »Aufbruch 89«; und im Mai 2002 lieferten sich über 100 deutsche Intellektuelle über ein Manifest einen verbalen Schlagabtausch mit US-amerikanischen Vertretern aus Politik und Wissenschaft über Krieg und Frieden im damaligen Irak-Konflikt.
Manifeste tauchen also immer wieder verlässlich in spannungsgeladenen Augenblicken der Geschichte auf. Doch lassen sie sich auch zu weniger fundamentalen, wenngleich keineswegs bedeutungslosen Anlässen finden. So wandte sich beispielsweise im Herbst 2009 in Hamburg eine schillernde Kulturszene gegen den Senat, der eine Umgestaltung des Gängeviertels plante. Das Hamburger Künstlermanifest bewirkte dann auch eine Revision des ursprünglichen Regierungskonzepts. Manifeste, kurzum, sind also keineswegs ein antiquiertes Mittel, um Politik zu machen, wie ihre jahrhundertealte Historie zunächst vermuten lässt. Auch heute noch lässt sich mit ihnen Politik gestalten.
Versuch einer Definition
Aber was ist eigentlich ein politisches Manifest? Zuallererst richten sich Manifeste an die Öffentlichkeit – gleich, ob sie in ihrer Anrede an einen einzelnen Politiker oder an die gesamte Menschheit adressiert sind, sollen sie doch prinzipiell allen Bürgern zugänglich sein. Denn der Öffentlichkeit wird eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit von Demokratie zugeschrieben.
3 In der Öffentlichkeit sollen der Machtgebrauch politischer Akteure sichtbar gemacht, vor allem aber Argumente ausgetauscht werden, mit denen die Bürger sich ihr politisches Urteil bilden und am Wahltag ihre Entscheidung via Stimmabgabe treffen können.
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Und hier wiederum ist die öffentliche Meinung prägend – eine Auffassung, die sich in der Arena öffentlicher Kommunikation gebildet und durchgesetzt hat.
5 An ihr orientieren sich die Bürger, greifen zumindest die Schlagzeilen und Kommentare für ihre persönliche Meinungsbildung auf. Gegen die öffentliche Meinung beschlossene Maßnahmen können schwerlich mit dem Rückhalt der Bevölkerung rechnen – zumindest gehen davon vermutlich die meisten demokratisch gewählten Entscheidungsträger aus.
6 Deswegen verfolgen sie die tägliche Presseberichterstattung auch mit Argusaugen. Und deshalb ist es für Manifeste auch so wichtig, ja unerlässlich, in die Öffentlichkeit zu gelangen. Und schließlich bezieht sich das Wort »manifest« unmittelbar auf die Sichtbarkeit.
Um nun ein Manifest aber von »gewöhnlichen« Zeitungskommentaren, Büchern oder vielen anderen Textformen abzugrenzen, die ebenfalls öffentlich sind, gibt es drei weitere Kriterien:
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Erstens handelt es sich bei Manifesten aus Sicht ihrer Urheber um eine außergewöhnliche, unkonventionelle Ausdrucksform. Obschon sich in nahezu jedem Statement eine Ansicht des jeweiligen Verfassers »manifestiert«, ist nicht jede öffentliche Meinungsäußerung gleich ein Manifest. Politische Manifeste entsprechen nicht den Kommunikationsgewohnheiten ihrer Autoren; sie sind nicht das Resultat berufsmäßigen Journalismus oder der wissenschaftlichen Facharbeit, sie erscheinen nicht im Format eines Zeitungskommentars oder Forschungsberichts; sie sind nicht formaler Bestandteil der alltäglichen Berufsausübung, sondern eine ganz und gar unübliche Artikulationsvariante. Erst recht erfolgen sie nicht im kommerziellen Auftrag der Medien oder eines Verlages.
Zweitens enthalten sie eine explizite Kritik, verbunden mit einer pointierten Forderung bzw. einem konkreten Alternativvorschlag. Sie geben die Haltung ihrer Unterzeichner wieder, kritisieren gesellschaftliche Zustände oder politische (Nicht-)Entscheidungen und formulieren ein Lösungskonzept oder fordern zum sofortigen Handeln auf. Und dies alles ist in einer Sprache gehalten, die zumeist feierlich, bisweilen pathetisch und appellierend ist. Ihr Stil signalisiert Streitbarkeit und Ernst.
Drittens sind Manifeste, einem Brief gleich, namentlich unterzeichnet, in der Regel von einem Autorenkollektiv – damit klar ist, wessen Auffassungen sich überhaupt »manifestieren« und mit wem eventuell in Dialog getreten werden kann.
Im Strom der Weltgeschichte hat sich eine Vielzahl von Manifesten über die Menschheit ergossen. Doch nur die wenigsten sind uns in Erinnerung geblieben, haben Wirkungskraft entfaltet. In drei Kategorien können Manifeste wirksam, wenn man so will: erfolgreich sein. Öffentlichkeitserfolg stellt sich ein, sobald sie von vielen Menschen wahrgenommen werden, in Zeitungen abgedruckt und besprochen werden, kurzum: in aller Munde sind. Politisch haben sie Erfolg, wenn sie Einfluss auf die Macht nehmen, wenn Politikerinnen und Politiker durch sie ins Grübeln kommen oder unter Zugzwang gesetzt werden – häufig steht dies in engem Zusammenhang mit der öffentlichen Wirkung des jeweiligen Manifests. Und historisch erfolgreich sind sie, sofern sie Eingang in die Geschichtsschreibung finden, noch Jahre oder Jahrzehnte später in Erinnerung geblieben sind oder als politisch bzw. gesellschaftlich wichtige Aktion gedeutet werden – wenn sie also in Lexika stehen, im Schulunterricht behandelt werden oder sich in Diskursen auf sie bezogen wird.
Leitfaden zum erfolgreichen Manifestieren
Angesichts der ungeheuren Vielzahl vergessener und wirkungsloser Schriften stellt sich an dieser Stelle die Frage: Welche »Zutaten« benötigt ein wirkungsvolles Manifest? In der Tat lassen sich hier einige Faktoren nennen, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Ausgang einer Manifestation bestimmen. Ein beträchtlicher Teil der Wirkung ergibt sich bereits aus der Manifestantenschaft, den Unterzeichnenden. Hier sollte es einen Manifest-Strategen oder ein -Strategenkollegium geben, das im wahrsten Sinne des Wortes die Federführung übernimmt. Denn eine Gruppe aus Manifestanten ist sehr oft ein komplexes Gebilde, das Hierarchien und Rollen benötigt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Zumeist bietet sich ein Hauptautor an, der den Text entwirft – denn allzu viele Köche verderben auch hier den Brei. Sodann bedarf es eines Integrators, der zwischen oftmals verschiedenartigen Charakteren ausgleicht, persönliche Animositäten und weltanschauliche Fremdheit zu überwinden hilft, kurz: die Gruppe zusammenhält. Für die Außendarstellung der Manifestantenschaft bieten sich Sympathieträger und Respektspersonen an, die in erheblichem Maße das Image der gesamten Gruppe prägen.
Auch die soziale Zusammensetzung des Unterzeichnerkollektivs hat gehörigen Einfluss auf die Wirkung des gemeinsamen Werkes: Zielen sie auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung, so ist es hilfreich, wenn sie ihrer Zielgruppe ähneln – denselben Sprachstil verwenden, ähnlich gekleidet sind, in mehreren politischen Fragen nicht ganz weit auseinanderliegen, ein ebenbürtiges Bildungsniveau oder eine verwandte Biografie aufweisen. Das macht sie glaubwürdig. So waren zum Beispiel etliche der Frauen und Männer des »NEUEN FORUMS« zu Zeiten der »Wende« ausgewiesene Veteranen der SED-Opposition. Mit einem Wirkungsbonus können die Manifestanten überdies rechnen, wenn das Thema ihrer Schrift mit ihrer Profession übereinstimmt.
Die an Experten gerichtete Erwartung, im Notfall aufklärerisch tätig zu werden und in die Rolle verantwortungsbewusster Staatsbürger zu schlüpfen,
8 ist für Manifestanten ein hervorragendes Motiv, um schlüssig zu erklären, weshalb sie sich außerhalb ihres unmittelbaren Berufsumfelds in die Politik einschalten. Außerdem können sie ihre Stellungnahme und Argumentationskette mit ihrer persönlichen, zumal akademisch zertifizierten Qualifikation untermauern. So dürften beispielsweise 1957 viele Bürger dem Urteil der 18 Atomphysiker vertraut haben, die in ihrer »Göttinger Erklärung« die Atomwaffenpolitik der Bundesregierung angriffen.
Doch Vorsicht: Manifestanten dürfen ihrem Anliegen nicht allzu verhaftet sein, weltanschaulich mit ihrer Stoßrichtung nicht zu sehr übereinstimmen. Denn sonst erscheinen sie als die »üblichen Verdächtigen«, von denen niemand eine andere Sichtweise erwartet hätte, die durch ihre Weltsicht viel zu befangen wirken, um noch ein neutrales, besonnenes Urteil abgeben zu können. Für ihre politischen Gegner ist es dann ein Leichtes, sie als notorische Meinungsführer bestimmter Politikansätze oder Wertevorstellungen, als Bestätigung von Klischees darzustellen und ihre Urteilskraft in Zweifel zu ziehen. So wären besagte Atomforscher der Adenauer-Ära, die überwiegend als Wähler des bürgerlichen Lagers erschienen, vermutlich weniger stark von der Öffentlichkeit positiv zur Kenntnis genommen worden, hätte man sie als SPD-Anhänger identifiziert, bei denen eine Attacke auf eine christdemokratisch geführte Regierung nur allzu naheliegend war. So aber ließ sich der überraschende Widerspruch auflösen, indem man ihre Kritik am eigenen politischen Lager mit dem Wahrheitsgehalt ihrer Schrift erklären konnte. Jedenfalls: Kaum ein Manifest ist allein aufgrund seiner Botschaft wirkungsmächtig, sondern steht in starker Abhängigkeit von dem Profil seiner Unterzeichnenden.
Dennoch ist der Inhalt des Manifests freilich kein unerheblicher Faktor. Vielmehr leben Manifeste auch von der Macht der Sprache. Gute Manifeste überzeugen durch eingängige Formulierungen und Bilder, nicht zuletzt mit einer schlüssigen Argumentation. Verschachtelte Sätze und exotische Fremdwörter können zwar argumentative Schwächen verbergen und Widerspruch erschweren; aber sie verhindern auch, dass die Kernaussagen beim Publikum ankommen – bisweilen schrecken sie ab und errichten Verständnisbarrieren. Wirkungsvolle Textbausteine sind hingegen eine persönliche Konsequenz, mit der die Manifestanten im Falle einer Missachtung ihrer Forderungen drohen, oder konkrete Alltags- und Lebensweltbezüge, mit denen die Verfasser beim Publikum individuelle Betroffenheit auslösen. Wenn die Bürger bemerken, dass gegenwärtige Zustände sie unmittelbar bedrohen, ihnen in naher Zukunft Schaden zugefügt wird, sind sie zumeist eher bereit, einem Manifest zuzustimmen, als wenn dort abstrakte Dinge gesagt werden, deren Konsequenzen zunächst einmal für die Mehrheit der Menschen ungefährlich erscheinen.
Welche Möglichkeiten zur sprachlichen und inhaltlichen Raffinesse sich den Verfassern von Manifesten bieten, hängt natürlich auch stark von dem jeweiligen Thema und Kontext ab. Hier kommt es darauf an, wie relevant das politische Anliegen ist, letztlich auch: wen und wie viele es betrifft. Themen, die ohnehin schon seit Längerem in den Köpfen der Bürger umherschwirren, haben es naturgemäß leichter, auf Interesse zu stoßen und eine öffentliche Diskussion zu entfachen. Allerdings ist deshalb auch die Wahrscheinlichkeit niedrig, dass politische Manifeste den Fokus auf Probleme lenken können, die noch nicht in ein Stadium dringlichen Handlungsbedarfs getreten sind.
Erfolgreiche Manifeste benötigen – bislang jedenfalls – große Persönlichkeiten. Neben dem Inhalt leisten sie einen erheblichen Beitrag zur Medientauglichkeit des Manifests. Prominente Namen, allseits beliebte Sympathieträger, ausgewiesene Experten – das ist das Format, das eine Manifestantenschaft in der weitgehend von Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit aufweisen sollte. Und am besten ist es natürlich, wenn die Manifestanten gute Kontakte in die Redaktionsstuben der Tagespresse haben. So kann manchmal auch die politische Bedeutungslosigkeit eines Manifests durch die Bedeutungsschwere seiner Unterzeichnenden aufgewogen werden. Je größer die angestrebte Öffentlichkeit, desto weniger genügt der auf ein Quartier oder eine Szene beschränkte Bekanntheitsgrad.
Und schließlich vergrößert sich die Reichweite von Manifesten, sobald sie von weiteren Schriften aufgegriffen und in Erinnerung gerufen werden. Ferner gedeihen oder verdorren sie je nach der Beschaffenheit der politischen Atmosphäre, in die sie geraten. Wahlkämpfe, Parteitage, Volksabstimmungen – all das bietet hervorragende Anknüpfungspunkte für politische Aktionen wie eben ein Manifest. Insbesondere Wahltermine eröffnen gemeinhin Zeiträume, die besonders günstig sind, politische Verantwortungsträger in Bedrängnis zu bringen, zu Reaktionen und Rechtfertigungen zu nötigen. Die Medien interessieren sich für kritische Situationen, in die Kandidaten für Spitzenämter geraten, und diese wiederum können es sich weniger als sonst leisten, Proteste oder Einwürfe zu ignorieren, mit denen sie verbunden werden.
All diese Bedingungen erweisen sich allerdings als nutzlos, sobald die Aufmerksamkeitskonkurrenz in den Medien zu groß ist, wenn andere Ereignisse oder Meinungen im Vordergrund stehen, in den Zeitungsspalten und auf der Spiegel-online-Seite schlichtweg kein Platz für eine Meldung zum Manifest ist. Wie gesagt, müssen Manifeste heute einiges aufbieten, um die Schwellen zu überwinden, die den Zugang zur Verbreitung über die Massenmedien versperren. Zumeist ist die Schnelllebigkeit der medialen Berichterstattung und Diskussion für Manifeste und ihre Anliegen pures Gift. Aufgrund all dieser Faktoren kann es also sein, dass das eine Manifest allenfalls eine Randnotiz der Geschichte verbleibt, wohingegen ein anderes die Massen mobilisiert und den Verlauf der Politik, ja der Geschichte verändert.
Jedenfalls: Wer mit einem Manifest politischen Einfluss nehmen will, der muss seine Schrift in die Medien bringen. Die unumgängliche Bedeutung von Medien für die politische Einflussnahme ergibt sich aus einem simplen Sachverhalt: Die Bürger beziehen ihr Wissen über politische Vorgänge und gesellschaftliche Fragen weitgehend aus den Medien. Fernsehen, Radio, Internet und die Presse sind die Hauptinformationsquellen unserer Gegenwart.
9 Um von diesen Themensetzern und Meinungsmachern überhaupt wahrgenommen und letztlich auch berücksichtigt zu werden, müssen Manifeste einen hohen Nachrichtenwert haben. Dazu müssen sie die Redakteure mit medialen Reizen verführen, duellartige Konflikte (beispielsweise wutentbrannte Bürger gegen eine offenbar unfähige Politik), brisante Themen (zum Beispiel Atomausstieg) und skandalöse Vorgänge (Plagiatsfälle oder vertuschte Fehlentscheidungen) oder prominente Autoren aufbieten, kurzum: Sie müssen dem Sensationsbedürfnis des Medienbetriebs entgegenkommen.
Was Manifeste zur Demokratie beitragen
Und deshalb sind Manifeste bislang vorwiegend ein politisches Instrument gesellschaftlicher Eliten gewesen – von bekannten oder beliebten, hochrangigen oder einflussreichen Persönlichkeiten. Der Inhalt allein reicht häufig nicht aus, um die Postulate eines Manifests einer großen Anzahl von Bürgern zu vermitteln oder in der Bevölkerung ein neues Bewusstsein zu schaffen. Zumindest historisch haben Manifeste mehrheitlich bloß solchen Personen zu politischem und öffentlichem Einfluss verholfen, die ohnehin schon darüber verfügten. Dennoch bieten sie sich prinzipiell zur spontanen Einmischung und zum friedfertigen Protest an, insbesondere für Menschen, die sich nicht regelmäßig oder in festen Organisationen politisch engagieren wollen. Sie finden in Manifesten ein geeignetes Instrument, um sich mitzuteilen, Aufmerksamkeit für ein Problem zu erregen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Manifeste bieten eine Gelegenheit, binnen kurzer Zeit durch den Druck einer erregten oder irritierten Öffentlichkeit politische Reaktionen zu erzwingen. Sie sind eine unkonventionelle Beteiligungsform
10 der Politik, zweckvoll für all jene, die sich nicht in die klassischen politischen Organisationen, Parteien und Gewerkschaften, begeben wollen. Dadurch erweitern sie das Spektrum der politischen Partizipationsmöglichkeiten.
Außerdem können Manifeste die Qualität und Bandbreite der öffentlichen Meinung erhöhen. Denn sie sind in der Lage, politische Debatten anzustoßen, Meinungsduelle zu entzünden, Diskurse aufzufrischen.
11 Sie setzen Themen und liefern Argumente. Manchmal vollziehen sie Tabubrüche und ebnen Diskussionen den Weg, die zuvor nicht möglich gewesen wären. So erleichterte beispielsweise das Tübinger Memorandum von 1962, das eine ehedem undenkbare Anerkennung der »Oder-Neiße-Linie« thematisierte, Willy Brandts und Egon Bahrs Ostpolitik des berühmten »Wandels durch Annäherung«. Ein besonders wichtiger Beitrag zur Demokratie – gerade in unserer parteienverdrossenen Gegenwart – ist hierbei die Fähigkeit politischer Manifeste, Parteien, Parlamente und Regierungen unter Zugzwang und Rechtfertigungsdruck zu setzen, Stellungnahmen zu erwirken, anhand derer die Wähler die Positionen der politischen Elite überprüfen und überdenken können. Im besten Fall können Manifeste damit zur politischen Debatte motivieren, Meinungsaustausch anregen oder beschleunigen und Entscheidungsprozesse ins Rollen bringen.
Zudem verknüpfen Manifeste unterschiedliche Räume des Wissens, übertragen Erkenntnisse und Erfahrungen des einen gesellschaftlichen Bereichs in einen anderen, beispielsweise von der Wissenschaft in die Politik. Durch diese Grenzüberschreitungen können sich zum Beispiel normalerweise außerpolitische Experten zu Wort melden und ihren Sachverstand den politischen Entscheidungsträgern ebenso anbieten wie den interessierten Bürgern. Expertenrat verbirgt sich dann nicht mehr in schwer verständlichen Traktaten oder esoterischen Fachzeitschriften, sondern steht via Manifest – im Idealfall – in der Zeitung oder dem Internet. Kurzum: Politische Manifeste sind Bestandteil der demokratischen Kommunikation, sie sind in der Lage, Meinungen zu bündeln und in die Öffentlichkeit zu tragen – aber, wie gesagt, gelingt dies nicht jedem, erfahrungsgemäß eher Professoren, Künstlern und Schriftstellern.
Ein neuer Faktor in der Geschichte politischer Manifeste ist freilich das Internet, das zumindest über die Anlage verfügt, das überkommene, vorwiegend gesellschaftlichen Eliten vorbehaltene Interventionsmittel in ein neues Entwicklungsstadium zu überführen. Doch kann die Entwicklung gegenwärtig noch in zwei Richtungen gehen: Zum einen gehen Manifeste in den unergründlichen Weiten des World Wide Web verloren, haben inmitten der alltäglichen Informationsflut schlechtere Karten als jemals zuvor, von den Medien aufgegriffen zu werden. Zum anderen profitieren Manifeste aber auch von Social-Net-Gemeinden, indem sie sich virusartig über Facebook und Twitter verbreiten können, nachdem sie erst einmal eine kritische Grenze von Likes und Retweets überschritten haben. Ob Manifeste also ein elitäres, nur für wenige vermittlungsstarke Personen geeignetes Kommunikationsutensil bleiben oder ob sie zum populären Ausdrucksmittel der Bürgerproteste werden und damit ein neues Kapitel in der Manifest-Geschichte aufgeschlagen wird, muss sich erst noch erweisen.
Tipps zum Weiterlesen
De Nève, Dorothée/Olteanu, Tina (Hg.), Politische Partizipation jenseits der Konventionen, Opladen/Berlin/Toronto 2013.
Klatt, Johanna/Lorenz, Robert (Hg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011.
Lorenz, Robert: Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011.
Richter, Emanuel, Was ist politische Kompetenz? Politiker und engagierte Bürger in der Demokratie, Frankfurt a. M./New York 2011.
Van den Berg, Hubert/Grüttemeier, Ralf (Hg.), Manifeste: Intentionalität, Amsterdam 1998.
Literatur
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Eilders, Christiane, »Massenmedien als Produzenten öffentlicher Meinungen – Pressekommentare als Manifestation der politischen Akteursrolle«, in: Pfetsch, Barbara/Adam, Silke (Hg.), Massenmedien als politische Akteure. Konzepte und Analysen, Wiesbaden 2008, S. 27–51.
Gerhards, Jürgen, »Welchen Einfluß haben die Massenmedien auf die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland?«, in: Göhler, Gerhard (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 149–177.
Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm, »Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze«, in: Müller-Doohm, Stefan/Neuman-Braun, Klaus (Hg.), Öffentlichkeit. Kultur. Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S. 31–89.
Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1998.
Kepplinger, Hans Mathias, Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, Freiburg i. Br./München 1998.
Klatt, Johanna/Lorenz, Robert, »Politische Manifeste. Randnotizen der Geschichte oder Wegbereiter sozialen Wandels?«, in: dies. (Hg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 7–45.
Malsch, Friedrich Wilhelm; Künstlermanifeste. Studien zu einem Aspekt moderner Kunst am Beispiel des italienischen Futurismus, Weimar 1997.
Rijke, Johann de, »Politische Partizipation Jugendlicher und junger Erwachsener: Altes und Neues«, in: Kaspar, Hanna/Schoen, Harald/Schumann, Siegfried/Winkler, Jürgen (Hg.), Politik – Wissenschaft – Medien, Wiesbaden 2009, S. 221–237.
Schenk, Michael/Pfenning, Uwe, »Individuelle Einstellungen, soziale Netzwerke, Massenkommunikation und öffentliches Meinungsklima: Ein analytisches Interdependenzmodell«, in: Müller-Doohm, Stefan/Neuman-Braun, Klaus (Hg.), Öffentlichkeit. Kultur. Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S. 165–184.
Seubert, Sandra: »Bürgermut und Bürgertugend. Verantwortung und Verpflichtung in der modernen Demokratie«, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 10 (2000) H. 3, S. 1015–1032.
Waldherr, Annie, »Gatekeeper, Diskursproduzenten und Agenda-Setter – Akteursrollen von Massenmedien in Innovationsprozessen«, in: Pfetsch, Barbara/Adam, Silke (Hg.), Massenmedien als politische Akteure. Konzepte und Analysen, Wiesbaden 2008, S. 171–195.