Kapitel 9
Tabita und Marc lagen im Bett und starrten die weiße Zimmerdecke an. Der Verfall eines großen Schriftstellers und sein Untergang beschäftigte sie sehr. Man las oft über solche tragischen Schicksale in der Klatschzeitung oder hörte davon in den Nachrichten. Aber die Realität selbst vor Augen zu haben, war etwas ganz anderes. Getrunken und gefeiert, wie sie es eigentlich vorgehabt hatten, hatten sie auch nicht.
»Wir sollten morgen weiterziehen. Irgendwo muss es doch einen Ort ohne Schrecken geben, wo niemand durchdreht und auf andere losgeht. Wir scheinen das Pech magisch anzuziehen.«
Marc blickte zu Tabita, die noch ein zustimmendes Murmeln von sich gab und schließlich leise zu schnarchen begann. Er würde sie am nächsten Morgen fragen, worauf diese Zustimmung bezogen war. Auf die Abreise oder das an ihren Fersen haftende Pech? Über diesen Gedanken schlief auch er schließlich ein.
***
Am Morgen war keiner der beiden richtig ausgeschlafen und die Stimmung war gedämpft.
Sie gingen hinunter in die kleine, heimelige Küche des Hotels und setzten sich an den Tisch, auf dem sie bereits dampfende Kaffeetassen erwarteten, und im Ofen backten duftende Brötchen auf. Die Hausdame versorgte sie großartig. Sie aßen, tranken Kaffee und verabschiedeten sich mitsamt Gepäck und einem Dankeschön in Form eines kleinen Trinkgeldes,
welches die Frau lächelnd entgegennahm.
Tabita entspannte sich allmählich wieder und plapperte auf dem Weg zum Bahnhof munter drauflos: »Wohin wollen wir jetzt? Was hältst du von Berlin? Berlin ist riesig und nachts ist dort richtig was los. Die Stadt schläft nie.«
Marc bremste ihren Feuereifer sogleich. »In Berlin auf der Straße herumzuhängen, ist keine gute Idee. Man wird uns wahrscheinlich ausrauben und verprügeln. Wie du schon sagtest: Diese Stadt schläft nie.
Wir sollten uns etwas Beschaulicheres suchen, wo wir auch sicher sind, ohne in einem Hotel zu wohnen. Das Budget wird langsam knapp.«
Tabita nickte etwas enttäuscht, grübelte aber kurz darauf laut weiter: »Und Hamburg? Wäre Hamburg eine Option? Auf dem platten Land erleben wir nichts Tolles. Und das wollten wir doch.«
Sie hatte recht. Ein schöner Rebell war er. Hatte Angst vor ein bisschen Action. Was sollte sie von ihm halten? Er wollte nicht den Spießer heraushängen lassen.
»Okay, also Hamburg.«
Sie kauften zwei Tickets und setzten sich in die große Bahnhofshalle. Dort gab es nichts, bis auf den Schalter und zwei Reihen alter Bänke.
Sie beobachteten schweigend die wenigen Menschen, die an ihnen vorbeiliefen. Ein paar streitende Obdachlose lungerten in einer Ecke herum und wurden immer wieder von Passanten abschätzig beäugt. Gut, dass niemand wusste, dass Marc und Tabita selbst obdachlose Vagabunden waren. Als ein weißhaariger alter Mann in einem Blaumann an ihnen vorbeiging, kreisten Tabitas Gedanken plötzlich wieder um den netten Alten aus der Scheune. Sie hätte ihm irgendwie helfen müssen. Wenn er an dem Schlag auf den Kopf gestorben war, würde sie lebenslang eine Mitschuld daran tragen.
»Komm«, unterbrach Marc ihre Grübelei. »Lass uns eine rauchen gehen.«
Sie nickte etwas abwesend und folgte ihm.
Der Zug fuhr gerade in den Bahnhof ein, als sie ins Freie traten. Sie rauchten auf und stiegen erst ein, als der Schaffner die baldige Abfahrt mit einem lauten Pfiff seiner Trillerpfeife ankündigte. Dann saßen sie endlich im warmen Abteil. Ihre Reise stand offensichtlich unter keinem guten Stern und sie hofften, dass ihr neues Ziel endlich etwas Besseres bot als erneuten Schrecken.
***
Nach knappen drei Stunden inklusive Umsteigen kamen sie in Hamburg an. Es gab unglaublich viel zu sehen und Tabita sog sämtliche Eindrücke in sich auf, die endlich die Gedanken an den
alten Mann aus der Scheune in den Hintergrund drängten. Sie war noch nie in einer Großstadt gewesen und wusste gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Alles war bunt, laut und schmutzig. Aber auch wunderschön. Die großen Altbauten hatten es ihr besonders angetan. Ihr Geburtsort hingegen war im Vergleich ein Dorf. Nach einer Weile entdeckten sie eine Bushaltestelle und beschlossen, mit dem Bus weiter in die Stadt vorzudringen. Sie wollten sie erkunden und so viel wie nur möglich von ihr sehen.
»Lass uns noch weiterfahren«, schlug das Mädchen vor. »Ich möchte dahin, wo die ganzen Reichen einkaufen und Kaffee trinken. Auch wenn wir dort bestimmt auffallen wie sprechende Hunde. Aber ich will alles sehen.« Sie lachten. Als sie Marc ins Gesicht sah, wirkte er erschöpft. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet und es sah aus, als würde er schwitzen. Wahrscheinlich nahmen ihn die Erlebnisse ebenso sehr mit wie sie. Der Bus brachte sie ein Stück weiter in die Innenstadt, wo die Linie endete. Sie stiegen aus und beschlossen, zunächst die Einkaufsmeile zu erkunden. Dort wimmelte es nur so vor Geschäften, Menschen und Autos. Tabita war vollkommen erschlagen. Die teuren Boutiquen zogen sie magisch an. Doch ganz plötzlich wurde ihr schwindelig. Die Straße begann sich vor ihren Augen zu drehen. Es war zu laut, zu voll, zu groß, zu unruhig. Dann sank Tabita in sich zusammen.