Die Heckenrosen an der Neuen Kirche blühten, als wollten sie der Welt etwas beweisen. Jan parkte seinen Streifenwagen am Straßenrand und blieb einen Augenblick lang sitzen, um ihren intensiven Duft und den Blick über die Marsch Richtung Alte Kirche zu genießen. Seit über einer Woche war es auf Pellworm so warm und sonnig, als hätten sie Mitte August und nicht Juni. Jan fuhr seit Tagen schon mit heruntergelassenem Fenster.
Eine Familie mit drei Kindern kamen auf ihren Fahrrädern aus Richtung Waldhusen. Die Mutter fuhr vorweg, das kleinere der Kinder direkt hinter ihr. Es war noch nicht besonders sattelfest und schlingerte in großen Bögen quer über die halbe Fahrbahn, was der Vater, der ganz am Ende fuhr, mit leichter Sorge betrachtete. Hinter der kleinen Truppe fuhr Christian Petersen, ein Bauer aus dem Norden der Insel, mit seinem alten Mercedes. Er hatte keine Chance zu überholen, aber er hatte es sowieso nicht eilig. Das hatte er nie. Angetan mit seiner Prinz-Heinrich-Mütze lümmelte er entspannt hinter dem Steuer, das Fenster an der Fahrerseite war offen, der Ellbogen ragte raus, und vermutlich hatte der Mann gerade mal zwei Finger am Lenkrad. Als die Familie an Jan vorbei war und Petersen auf gleicher Höhe, hob er eben diese zwei Finger an die Mütze und nickte Jan zu. In seinem Autoradio lief irgendein klassisches Stück, das Jan nicht kannte, und das mit seinen zarten Flöten- und Geigenklängen so gar nicht zu dem knorrigen Petersen passte.
Jan musste lächeln. Die Pellwormer überraschten ihn auch nach fast einem Jahr auf der Insel immer noch, denn sie ließen sich einfach in keine Schublade stecken. So war es schon seit seinem ersten Tag, als er die Stelle als Inselpolizist von Pellworm angetreten hatte. Und genau so mochte er es. Er liebte diese kleine Insel mitten im Wattenmeer, den weiten Himmel mit den ständig wechselnden Farben, als hätte ein Künstler seinen Malkasten über einem feuchten Blatt Papier ausgekippt. Er mochte die Wortkargheit der Menschen hier, an die er sich ganz langsam sogar selbst anpasste, obwohl er als ehemaliger Rheinländer eigentlich eher von der kommunikativen Sorte war. Er mochte es zuzusehen, wie ein Mann wie Petersen völlig selbstverständlich und ganz gelassen hinter einem schlingernden Kinderfahrrad herzuckelte, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als den Spaß dieses Kindes.
Kurz vor der Kurve, hinter der die Pellwormer Inselkäserei lag und die Jan von seinem Standort aus gerade noch sehen konnte, rief der Familienvater seinen Kindern etwas zu. Die ganze Familie fuhr an den Straßenrand, um Petersen durchzulassen. Der Bauer grüßte auch sie mit zwei Fingern an der Mütze, dann gab er Gas. Jan vermutete, dass er auf dem Weg zum Kaydeich war, wo er sich wie jeden Mittwochnachmittag mit zwei Freunden zum Skat traf. Immerhin das passte ins Klischee, dachte er amüsiert.
Er wartete ein weiteres Auto aus Richtung Ostertilli ab. Bevor er ausstieg, machte er sich im Geist eine Notiz, den Fahrer demnächst wieder einmal offiziell darauf hinzuweisen, dass auch auf dieser Insel die Gurtpflicht galt. Nicht dass es viel genutzt hätte. Thede Johannsen würde sich seine Ermahnung anhören, dazu freundlich nicken und sich seinen Teil denken. Und vermutlich würde Jan ihn dann ein paar Tage später erneut nicht angeschnallt erwischen. Schließlich lebte man hier auf der Insel schon seit Jahrhunderten mit rauem Wetter, unbarmherzigen Stürmen und den Gezeiten. Was kümmerte es einen da, dass eine Regierung, noch dazu auf dem Festland und ewig weit weg, vor noch nicht einmal fünfzig Jahren die Gurtpflicht eingeführt hatte? Lächerlich!
Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen schlug Jan die Wagentür zu. Schluss mit dem Faulenzen! Die Arbeit rief.
Er ging die Auffahrt zur Neuen Kirche hinauf, in der auf der linken Seite die Lüttschoolgalerie lag. Ein Ehepaar aus Hessen lebte dort und hatte das ehemalige Schulhaus in ein Mal- und Fotoatelier verwandelt. In ihrem Garten blühten die Rosen mit aller Kraft, genau wie überall auf der Insel.
Gegenüber von der Lüttschool schlug ein großer Hund an, und als Jan die kleine Gartenpforte der Galerie aufklinkte und den kurzen Weg zur Haustür hinaufging, rief jemand: »Thyras! Halt den Sabbel!« Aber das kümmerte den Hund nicht. Er bellte weiter, es klang in Jans Ohren allerdings nicht bedrohlich, sondern eher wie ein: »Hey, guckt mal, Leute, da kommt jemand!«
Die Glocke über der Haustür bimmelte leise, als Jan die Galerie betrat. Linkerhand ging es in den Ausstellungsraum, der voll war mit den Werken von Susanne Krüger-Jung, einer Malerin, und mit den großformatigen Fotos von Alexander Krüger, ihrem Mann. Susanne hatte Jan vorhin angerufen und einen Einbruch gemeldet. Jetzt stand sie hinter dem kleinen Tischchen, der als Verkaufstresen diente und auf dem zwei Kästchen voller Postkarten mit Alex’ Fotomotiven standen. Susanne war eine schlanke Frau mit dunklen Haaren und dem ruhigen, forschenden Blick einer Künstlerin. Heute jedoch spürte Jan ihre Nervosität, was nicht verwunderlich war, wenn man bedachte, dass in der Nacht jemand in ihr Haus eingestiegen war.
»Hallo, Jan«, begrüßte sie ihn. »Gut, dass du gleich kommen konntest.«
»Ist doch selbstverständlich.« Er reichte ihr die Hand.
»Alex ist oben, warte, ich hole ihn.«
»Nicht nötig.« Ihr Mann kam aus dem hinteren Teil des Hauses nach vorn in den Ausstellungsraum. Er trug Jeans und Sweater. Jan hatte ihn noch nicht oft ohne Kamera in der Hand gesehen, darum wirkte er auf ihn irgendwie nackt. Auch die beiden Männer begrüßten sich.
»Also dann. Erzählt mal!«, forderte Jan die Künstler auf.
Alex übernahm das Reden. »Es ist mir heute Morgen aufgefallen, als ich von oben gekommen bin. Da habe ich sofort gesehen, dass die Scheibe ein Loch hat.« Er führte Jan in den hinteren Teil des Hauses, wo sich eine Küche befand. Jans Blick fiel geradeaus auf eines der typischen Friesenfenster, die mit kleinen Metallhaken verschlossen – und auch gegen Sturm gesichert – werden konnten. Das Fenster stand offen, und in der Scheibe prangte ein kreisrundes Loch, durch das der Einbrecher ganz offensichtlich hindurchgefasst und das Fenster geöffnet hatte. Eine zarte, durchsichtige Gardine wehte sachte im warmen, rosenduftgeschwängerten Luftzug, der von draußen hereindrang.
»Ich habe natürlich als Erstes alles kontrolliert«, fuhr Alex fort. »Dabei habe ich festgestellt, dass der Mistkerl meinen Laptop geklaut hat. Und eine externe Festplatte.«
Jans Blick fiel auf Alex’ Schreibtisch im Nebenraum, auf dem der fehlende Laptop sofort ins Auge sprang. Einige Stapel Fotopapier lagen auf der Tischplatte, dazu ein Cutter und ein Lineal. Die Stelle, an der der Computer gestanden hatte, wirkte leer und anklagend, das Stromkabel war säuberlich über die Tischkante gelegt, sodass es nicht zu Boden rutschen konnte.
Ein überaus sorgfältiger und ordentlicher Einbrecher, notierte Jan sich im Geiste. »Die Kamera hat er nicht mitgenommen«, stellte er fest. Alex’ Fotoapparat, ein teuer aussehendes Gerät, dessen Markenname ihm nichts sagte, lag im Regal über dem Schreibtisch.
Alex ging zu diesem Schreibtisch und streckte die Hand nach der Kamera aus. »Ja. Seltsam, oder? Ich meine, der Laptop war nicht ganz billig, aber irgendwie auch nichts Besonderes. Die Kamera dagegen …« Fast zärtlich streifte er das Gerät mit den Fingerspitzen, dann zuckte er mit den Schultern.
»Vielleicht hatte der Einbrecher keine Ahnung, was wirklich wertvoll war.«
»Oder ihm ging es nicht um Wertgegenstände. Es fehlt nämlich noch was anderes.«
»Moment!« Jan drehte sich einmal im Kreis, um die gesamte Szenerie auf sich wirken zu lassen. Das geöffnete Fenster mit dem Loch in der Scheibe, der wehende Vorhang, die Küchenzeile mit der italienischen Kaffeekanne auf dem Herd, die blank gescheuerten Fußbodendielen, auf denen kein Krümel und kein einziger Schuhabdruck zu sehen waren …
Er versuchte, sich den Tathergang vorzustellen. »Er muss gewusst haben, dass ihr im Haus seid, sonst hätte er die Scheibe einfach eingeschlagen. Stattdessen hatte er passendes Werkzeug dabei.« Er trat an das Fenster, warf einen Blick hinaus. In diese Richtung lag das nächste Haus mehr als fünfzig Meter weit entfernt, dazwischen befanden sich Gärten und ein Feldweg. Die Gefahr, dass Nachbarn das Geräusch von zerbrechendem Glas gehört hätten, war in Jans Augen minimal. Und trotzdem hatte der Täter ein Glasschneidewerkzeug benutzt. Der gläserne Kreis, den der Kerl ausgeschnitten hatte, lag im Gras neben dem Fenster. Die Sonne glitzerte darauf, sodass er aussah wie eine winzige, runde Pfütze.
»Gruselig, wenn man sich vorstellt, dass wir oben geschlafen haben, während der Typ hier unten rumgeschlichen ist.« Susanne fröstelte, und Alex legte ihr den Arm um die Schulter.
Jan straffte sich und schaute sie an. »Außer dem Laptop und der Festplatte fehlt noch etwas, hast du gesagt?«
»Ja.« Alex gab Susanne einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel, dann ließ er sie los und winkte Jan zurück nach vorn in den Ausstellungsraum. »Und das ist irgendwie noch seltsamer als die Tatsache, dass er die teure Kamera verschmäht hat. Ich habe vor ein paar Tagen Abzüge von einer Serie Aufnahmen gemacht, die ich kürzlich im Watt geschossen habe.« Er deutete auf einen Ständer, in dem er ungefähr Din-A4-große Fotos zum Verkauf anbot. Die einzelnen Aufnahmen waren versetzt hintereinander eingesteckt, damit man sie durchblättern konnte. Ein Teil der Aufnahmen war nach vorn geklappt, als habe jemand sie kurz zuvor angeschaut und sei dabei unterbrochen worden. »Wenn wir abends abschließen, klappen wir die alle ordentlich nach hinten«, erklärte Alex, »nur darum ist mir überhaupt aufgefallen, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hat.«
»Der Einbrecher«, vermutete Jan.
»Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte Alex. Er wirkte angespannt, aber nicht über Gebühr panisch. Eher verärgert darüber, dass jemand unbefugt sein Haus betreten und ihn bestohlen hatte, dachte Jan.
»Und du bist sicher, es fehlen genau diese Aufnahmen aus dem Watt?«
Alex tippte auf einen Reiter an einer der zwischen die Fotos gesteckten Pappen. Südfall stand darauf. »Ja. Nur Bilder, die ich bei Südfall gemacht habe.«
»Ich vermute, die Dateien von den Fotos waren auf deinem Rechner?«
»Mit dem habe ich sie bearbeitet, ja. Aber sie müssten auch noch auf der Kamera sein, Moment!« Alex holte den Fotoapparat und wollte ihn einschalten, aber etwas machte ihn stutzig. »Seltsam«, sagte er. Er öffnete eine kleine Klappe an der Seite des Gerätes. Riss die Augen auf. »Die Speicherkarte ist auch weg!«
Irgendwie passte das ins Bild, das langsam dabei war, sich in Jans Kopf zu formen. Gedankenverloren nickte er.
»Was denkst du?«, wollte Susanne wissen.
Er rieb sich das Kinn. »Wenn ihr mich fragt, dann ging es dem Einbrecher nicht um irgendwelche elektronischen Geräte, die er verscherbeln kann. Dazu ist auch die Vorgehensweise zu zielgerichtet. Der Einbruch mit einem Glasschneider und so.« Er schaute auf die Kamera in Alex’ Händen, die sehr viel mehr wert war als ein normaler Laptop. Nein, dem Kerl war es eindeutig nicht um Geld gegangen. Wie es aussah, hatte er die Gegenstände an sich bringen wollen, auf denen sich besagte Fotos befanden. »Ich denke, dass es dem Täter um die Fotos ging«, sagte Jan.
Die beiden Künstler nickten nahezu synchron. Natürlich waren sie selbst auch schon auf diese Idee gekommen.
»Aber warum?«, fragte Alex. »Ich meine: Das sind nur harmlose Aufnahmen vom Watt.«
»Was genau hast du fotografiert?«, fragte Jan.
Da grinste Alex plötzlich. »Wenn du willst, kannst du dir das selbst anschauen.« Als Jan fragend die Augenbrauen hochzog, fügte er hinzu: »Ich speichere meine Fotos nicht nur auf dem Rechner und auf einer Festplatte«, erklärte er. »Sondern auch noch in einer Cloud.« Ein Schatten flog über seine Miene. »Allerdings befanden sich die Zugangsdaten dafür auf dem Rechner.«
»Heißt?«, fragte Jan.
»Heißt, ich muss mit dem Cloud-Anbieter Kontakt aufnehmen und mich erst ausweisen, bevor ich wieder Zugriff auf meine Daten bekomme.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Keine Ahnung. Ein paar Tage, vermute ich. Die sind ziemlich akribisch und werden mir die neuen Zugangsdaten per Post schicken.«
»Hm.« Jan überlegte. »Und was ist, wenn der Dieb die Bilder in der Cloud löscht? Ist der Laptop passwortgeschützt?«
»Ja, sowohl der Rechner als auch der Log-in zur Cloud.«
»Immerhin etwas. Wenn du die Fotos hast, kannst du sie mir dann auf das E-Mail-Postfach der Polizeistation schicken?«
Der Fotograf nickte. »Klar.«
Jan seufzte. »Gut. Dann lasst uns jetzt am besten mal den Tatort sichern«, erklärte er und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, um den Spurensicherungskoffer zu holen.
Er war gerade dabei, Fensterrahmen, Scheibe und den ausgeschnittenen Glaskreis auf Fingerabdrücke zu untersuchen – vergeblich, da der Täter offenbar Handschuhe getragen hatte –, als sein Handy klingelte. Die Leitstelle in Harrislee war dran. »Entschuldige«, sagte er zu Alex und nahm ab.
»Moin, Jan«, ließ sich der diensthabende Kollege vernehmen. »Wir haben einen gemeldeten Leichenfund im Watt südlich vom Leuchtturm.«
Er stand am Fenster dieses nagelneuen und hypermodernen Ferienhauses im Süden der Insel und starrte hinaus auf den Leuchtturm, hinter dem die Wolken schnell über den sonst blitzblauen Himmel dahinzogen. Obwohl es Juni war und die Sonne ziemlich warm schien, rüttelte der Wind am Dach. Die Bäume, die er in einiger Entfernung sehen konnte, neigten sich unter den Böen. Er knirschte mit den Zähnen. Er hatte die Nordsee noch nie so recht gemocht, dachte er. Und dann lachte er auf. Was für eine Untertreibung! Er hasste die See und das Watt! Seit er ein Kind gewesen war und seine Eltern ihn jedes Jahr in den Sommerferien nach Norderney ins Ferienlager geschickt hatten, um ihre Ruhe vor ihm zu haben, hasste er all das hier aus tiefstem Herzen.
Aber was sollte es?
Er war schließlich nicht zum Vergnügen da, sondern weil sein Boss ihn mit einem Auftrag hierher geschickt hatte. Ein Auftrag, der einige Vorbereitungen nötig machte. Was eben bedeutete, dass er ein paar Tage hierbleiben musste. Er würde es überleben.
Wieder musste er lachen, weil der Gedanke ein wenig unpassend war.
Ja, er würde es überleben. Er würde in ein paar Tagen die Fähre zurück aufs Festland nehmen und der See und dem Watt wieder den Rücken kehren. Ganz im Gegensatz zu der Frau, deretwegen sein Boss ihn hergeschickt hatte.
Er wandte den Blick von Leuchtturm und Himmel ab und senkte ihn auf den Stapel Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die er in der Hand hielt. Eine nach der anderen sah er durch. Da waren Fotos von Schafen auf dem Deich, dann wieder durchaus künstlerisch anmutende Details vom sonnenbeschienen Rippelmuster im Watt, Herzmuscheln. Wolkenformationen. Lauter Zeug, das ihn nicht im Geringsten interessierte.
Er warf die Fotos auf den Esstisch und wandte sich dem Laptop zu, der darauf stand. Das Ding war passwortgeschützt, und er war definitiv kein Hacker. Also nahm er seinen eigenen Computer aus einer Tasche, stellte ihn auf und verband einen SD -Kartenleser damit. Er griff nach der kleinen Karte, die er aus der Kamera dieses Fotografen entfernt hatte, und steckte sie ein.
Bingo.
Ein Fenster ging auf, in dem die Fotos des Typen fein säuberlich in Briefmarkengröße angezeigt wurden.
Er klickte das erste an.
Die gleichen Bilder von Schafen, Schlick, Muscheln.
Er war drauf und dran loszufluchen, als er am Ende doch noch fündig wurde. Erst öffnete sich ein Bild der weiten Landschaft, und am Horizont sah man eine Gruppe Menschen. Auf dem nächsten Foto war die Gruppe ein ganzes Stück näher gekommen, aber immer noch waren die Leute darauf nur bunte Flecken vor dem Grau des Himmels und der Erde.
Doch bei dem vorletzten Bild der Serie wusste er, dass es eine kluge Idee gewesen war, vorsichtig zu sein, als er bei seinem Erkundungsgang durch das Watt diesen Profifotografen gesehen und sich danach an der Rezeption seines Ferienhausressorts danach erkundigt hatte, wer er wohl sein mochte. Auf diesem vorletzten Bild nämlich, das der Mann geschossen hatte, war eine Gestalt zu sehen. Ihr rotes Haar leuchtete im Sonnenlicht wie Kupfer.
Er beugte sich dichter an den Bildschirm heran und vergrößerte einen Ausschnitt des Fotos, auf dem nun auch noch eine zweite Gestalt zum Vorschein kam.
Hatte er es doch gewusst!
Dieses Foto war gefährlich. Es konnte nicht nur ihn, sondern auch seinen Auftraggeber und noch ein paar andere Leute den Kopf kosten. Es war also richtig gewesen, das Risiko einzugehen und bei diesem Fotografen einzubrechen.
Er schloss das Bildbearbeitungsprogramm. Dann nahm er die Karte aus dem Lesegerät, stopfte sie zusammen mit dem gestohlenen Laptop, der externen Festplatte und auch den Papierabzügen in eine schwarze Mülltüte. Prüfend wog er alles in der Hand, und um ganz sicherzugehen, legte er zwei Backsteine zu den anderen Gegenständen in die Tüte und knotete sie zu.
Willibald lief während der ganzen Überfahrt aufgeregt hin und her. Laura Benden musste den Käfig, in dem der halbwüchsige Hahn saß, festhalten, damit er nicht versehentlich über Bord ging.
Andreas Hellmann, der am Steuer seines kleinen Ausflugsbootes MS Gebrüder I stand, warf ihr über die Schulter hinweg einen amüsierten Blick zu. Er war ein groß gewachsener, schlanker Mann. Seine Gesichtszüge strahlten eine gutmütige Ausgeglichenheit und Zufriedenheit aus, und unter dem Schirm seiner grauen Baseballkappe hindurch blinzelte er in das Fahrwasser des an diesem Tag sanften Wattenmeeres. Als Willibald sich in seinem Käfig erneut bemerkbar machte, grinste Hellmann Laura an, die lächelte zurück. Sie war mit ihrem Junghahn auf dem Weg zur Hallig Hooge, um das Tier bei Katja Just zu lassen, ihrer Freundin, die dort eine kleine Reetdachkate mit zwei Ferienwohnungen besaß. Auf dem Paulinenhof, wo Willibald bisher zusammen mit Laura und Jan, mit der Australian-Shepherd-Hündin Lilly, den Katzen Hauke und Emilie, vor allem aber mit einer großen Hühnerschar gelebt hatte, war es nicht leicht für ihn gewesen. Die ausgewachsenen Hähne Lasse und Muckel hatten ihm das Leben zur Hölle gemacht, und da das ständige Gerangel darum, wer nun der stärkste Hahn im Korb war, auch die Hennen nervös machte, hatte Laura sich entschieden, Willibald abzugeben. Da traf es sich gut, dass Katja einen neuen Hahn gebrauchen konnte, weil ihr alter vor ein paar Tagen gestorben war.
Zusammen mit Laura saßen mehrere Feriengäste im Boot, unter anderem zwei Familien mit Kindern, die den nervösen Hahn in seinem Käfig schon die ganze Zeit neugierig musterten. Laura zwinkerte dem kleinsten, einem vielleicht fünfjährigen Mädchen, freundlich zu. »Der ist ganz schön mies drauf, oder?«, sprach sie die Kleine an.
Die versteckte das Gesicht hinter dem Arm ihrer Mutter, neben der sie auf der Bank saß.
Die Mutter lächelte Laura an. »Du kannst der Frau ruhig antworten, Lilly«, sagte sie.
Die Kleine wagte sich hinter dem Arm vor. »Ja.« Mehr brachte sie nicht hervor.
»Lilly, das ist aber ein schöner Name«, sagte Laura und dachte an ihren Hund, den sie zu Hause gelassen hatte.
»Eigentlich heiße ich Lilith!«, erklärte die Kleine in diesem Tonfall, den Kinder manchmal an den Tag legten und der irgendwo zwischen stolz und neunmalklug pendelte.
»Lilith.« Laura zeigte sich beeindruckt. Willibald lief bestimmt zum hundertsten Mal in seinem Käfig von links nach rechts.
»Warum hast du den Hahn eingesperrt?«, fragte Lilly und deutete mit ihrer Kinderhand auf das Tier.
Laura erklärte es ihr.
»Du schenkst ihn deiner Freundin?«, fragte die Kleine weiter.
Laura nickte.
»Das ist aber nett von dir.«
Eine gute Viertelstunde später saß Laura bei Katja in dem hübschen Bauerngarten an einem gedeckten Kaffeetisch. Willibald war aus seinem Gefängnis entlassen worden und vermutlich gerade schon dabei, seine neue Hühnerschar zu inspizieren. In regelmäßigen Abständen konnte Laura ihn krähen hören, als wollte er der gesamten Hallig kundtun, dass er nun der neue Chef im Revier war.
»Der tut, als wollte er bis Pellworm schreien.« Katja schmunzelte. Sie hatte einen selbst gebackenen gedeckten Apfelkuchen aufgetischt und frischen Kaffee gekocht, während die Gäste, die zusammen mit Laura auf dem Boot gewesen waren, die Hallig mit ihren Warften erkundeten. Die beiden Frauen nutzten die viel zu seltene Gelegenheit, sich über die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Sie waren gerade dabei, ein wenig über die auf Pellworm ansässige Buchhändlerin Cathrin Lange zu lästern, als ein Mann mittleren Alters am Gartenzaun entlang in Richtung Einfahrt ging.
»Moin, Elias!«, rief Katja ihm zu.
Er blieb stehen. »Moin, Katja.«
»Heute allein unterwegs? Wo ist Merle?«
Er rieb sich die Stirn. »Die macht einen Spaziergang.« Er war in den Vierzigern, also ein paar Jahre älter als Laura. Auf den ersten Blick wirkte er schlank, eher schlaksig, und auf eine unauffällige Art blass. Seine Brille hatte einen schmalen, goldenen Rand. Im Ganzen kam er Laura farblos vor – nicht gerade der Typ, an den man sich nach einer Begegnung lange erinnerte. Er trug robuste Schuhe, die bis fast zum Knöchel mit eingetrocknetem Schlick verschmiert waren. Auch an der Hose fielen Laura Schlickspritzer auf. Seine schwarze Windjacke war nur halb geschlossen, sodass sie das hellblaue Hemd darunter sehen konnte. Er überlegte kurz, ob er sich auf ein Gespräch mit den beiden Frauen einlassen sollte, aber dann entschied er sich dagegen. »Entschuldigt«, sagte er und marschierte an ihnen vorbei in Richtung Eingang zu einer der beiden Ferienwohnungen, die Katja im ersten Stock der alten Reetdachkate unterhielt.
Katja blickte ihm nach. »Schade. Ich hätte dir Merle gern vorgestellt. Du würdest staunen, wenn du sie siehst.«
Laura zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«
Katja grinste. »Sie und Elias kommen regelmäßig für ein paar Tage hierher, mindestens zwei-, dreimal im Jahr. Hier ist es so schön abgelegen, sagen sie, und das brauchen sie vermutlich auch.«
»Wieso das?«
Katja schmunzelte. Sie war eigentlich nicht die Frau, die über ihre Gäste tratschte, aber als Laura sie jetzt forschend ansah, meinte sie: »Wir sprechen von Merle von Bodenbach-Losinger.«
»Muss mir das was sagen?«
»Kennst du Franz-Josef Losinger?«
»Den Franjo?« Laura grinste. »Man müsste die letzten Jahre unter einem Stein gelebt haben, um den nicht zu kennen.« Sie hatte definitiv nicht unter einem Stein gelebt, aber im Grunde wusste sie trotzdem über Franjo Losinger nicht sehr viel mehr, als dass er ein bekannter Berliner Bauunternehmer und Partylöwe war. Er galt als extrem reich, was gemeinhin auf die Art zurückgeführt wurde, wie er seine Geschäfte betrieb. Ein bekanntes deutsches Wochenmagazin hatte vor Kurzem geschrieben: Männer wie Losinger weigern sich deswegen, etwas gegen die explodierenden Mieten in Deutschlands Städten zu tun, weil sie davon profitieren. »Oha!«, sagte Laura. »Du willst sagen, dass Franjo Losingers Frau und dieser Elias …«
Katjas Blick huschte in Richtung Haus. »Pst«, machte sie. »Fischer. Das ist sein Nachname.«
Laura rief sich Bilder von Franjo Losinger und seiner Gattin ins Gedächtnis. Ganz sicher war sie nicht, aber wenn sie sich richtig erinnerte, dann war Merle von Bodenbach-Losinger eine Frau ungefähr in ihrem Alter. Ihre Haare gingen ihr bis zum Gesäß und waren leuchtend rot, das wusste Laura.
»Wie gesagt«, meinte Katja, »Merle würde dir mit Sicherheit gefallen.«
»Wieso das?«
»Sie und dieses Ekelpaket Franjo passen so gar nicht zusammen. Und außerdem: Merle interessiert sich genau wie du für die Literatur und die Geschichte dieser Gegend.«
Nachdem er die Fotos und die elektronischen Gerätschaften zusammen mit den beiden Backsteinen in der Tüte verstaut hatte, kehrte er zurück zum Fenster und starrte ein weiteres Mal nach draußen. Er hatte sich Kopfhörer aufgesetzt, aus denen Unheiligs Geboren, um zu leben ertönte. Er musste grinsen. Er mochte die Ironie, die darin lag, dass er ausgerechnet dieses Lied auf Dauerschleife hörte, wenn er einen Auftrag ausführte.
Er stützte den Unterarm an die Scheibe und legte seine Stirn auf den Handrücken. Der Leuchtturm ragte immer noch wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel. Der Deich dahinter war jetzt überzogen von weißen Tupfern. Schafe.
Er schnaufte.
Das Postkartenidyll dieser Insel ging ihm jetzt schon auf die Nerven.
Er wandte sich vom Fenster ab und dem Müllsack zu. Er würde ihn kommende Nacht an der Hooger Fähre ins Meer werfen. Er wusste von den Seekarten, die er im Vorfeld seines Auftrags hier studiert hatte, dass es bei ablaufendem Wasser dort eine starke Strömung gab. Der Sack und sein Inhalt würden hinaus aufs Meer gezogen werden, dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden und damit auch die verräterischen Informationen auf dem einen Foto.
Er nahm den Sack und stellte ihn neben die Wohnungstür. Dort befand sich noch immer seine schwarze Sporttasche, die er bei der Ankunft einfach im Flur abgestellt hatte. Seine Ausrüstung, die er für jeden Job mitnahm, die er aber vermutlich diesmal nicht benutzen würde.
Lass es wie einen Unfall aussehen, hatte sein Boss gesagt.
Und genau das würde er tun.
Die Leiche lag ungefähr anderthalb Kilometer von der Südspitze Pellworms entfernt mitten im Watt. Weil nur noch wenige Stunden Niedrigwasser herrschte und dementsprechend die Zeit drängte, hatte Jan Claas Hamkens gebeten, ihm zu helfen. Hamkens war nicht nur Mitglied der hiesigen Feuerwehr, sondern besaß darüber hinaus auch einige Friesen, riesige, schwarze Pferde mit üppigem Behang an den Beinen. Auf Jans Anruf hin hatte er einen davon, ein riesiges Tier mit Namen Knut, angespannt, aus dem Bestand der Feuerwehr eine Korbtrage organisiert und sie am Tier befestigt. Damit wollte Jan die Leiche vor dem auflaufenden Wasser in Sicherheit bringen, und die Konstruktion hatte noch einen anderen Vorteil: Zumindest auf dem Hinweg musste er den Spurensicherungskoffer nicht tragen.
»Da sind wir.« Hamkens hielt Knut an und deutete auf das Bündel voraus. Das Erste, was einem daran auffiel, waren die langen rot leuchtenden Haarsträhnen der Leiche. Wie ein riesiger kupferfarbener Strahlenkranz lagen sie um deren Kopf. Ein einzelner Spaziergänger stand in sicherem Abstand und wirkte ziemlich verloren mit seinen tief in die Taschen geschobenen Händen und dem zwischen den Schultern hängenden Kopf. Der Feriengast, der die Leiche gefunden, den Notruf gewählt und die Kollegen in Harrislee informiert hatte, dachte Jan. Der Kollege in der Leitstelle hatte ihn darüber informiert, dass der Mann angewiesen worden war, den Ort nicht zu verlassen, bis Jan eintraf.
Hamkens deutete auf die Haare. »Dat is een Fru«, murmelte er, während er Jans Koffer von der Trage hob und ihm reichte.
Jan nahm ihn an sich. »Wir werden sehen«, gab er zurück. Beim Anblick des Nordfriesen, der zu Jeans und Gummireitstiefeln ein typisches Fischerhemd trug, schüttelte er den Kopf.
»Was?«, erkundigte Hamkens sich.
»Nichts. Ich musste nur gerade an Tamme denken.« Sein Möchtegernassistent würde rotieren, wenn er erfuhr, dass erneut eine Leiche gefunden worden war und er beim sogenannten Erstangriff nicht dabei gewesen war. Tamme Hansen hielt sich selbst für einen genialen Ermittler und darüber hinaus auch für Jans designierten Hilfssheriff, was in der Vergangenheit schon mehrmals zu Chaos geführt hatte.
Hamkens nickte. »Er wird vor Frust ins Gras beißen.«
Tamme befand sich zurzeit nicht auf der Insel. Irgendein Verwandter von ihm, der in Husum wohnte, feierte einen hohen runden Geburtstag, und Tamme war für ein paar Tage auf dem Festland. Jan stellte sich seinen Möchtegernassistenten vor, wie er an einer gedeckten Kaffeetafel hockte, sich bei den Gesprächen der anderen langweilte und zurück auf die Insel wünschte. Wenn Tamme gewusst hätte, was hier gerade geschah, wäre er vermutlich auf der Stelle aufgestanden und zu Fuß über das Watt marschiert.
Als Jan den Leichnam fast erreicht hatte, trat der Urlauber auf ihn zu.
»Herr Benden?«, fragte er.
Jan trug an diesem Morgen keine Uniform, sondern Jeans, langärmliges T-Shirt und Boots. »Ja«, bestätigte er. »Polizeihauptkommissar Jan Benden.« Er reichte dem Mann die Hand, und der schüttelte sie. Er hatte einen kräftigen Händedruck, aber seine Finger waren eiskalt und klamm. Überhaupt wirkte er käsig und geschockt. Geradezu zwanghaft vermied er es, in Richtung der Leiche zu blicken. Er trug ebenfalls Jeans, dazu robuste Wanderstiefel, ein kariertes Hemd, das ihm über den Gürtel hing, und eine leichte Windjacke. Er mochte um die vierzig sein, sein Haaransatz wich bereits zurück, und er hatte einen Vollbart, in dem etliche weiße Haare schimmerten.
»Hubertus Ohler«, stellte er sich vor und schluckte schwer.
Jan warf einen kurzen Seitenblick auf die tote Frau. »Sie haben die Leiche gefunden?«
Ohler nickte. Wieder schluckte er. Jan fragte sich, ob er sich in der vergangenen Stunde irgendwo hier in der Nähe übergeben hatte. »Ich bin auf einer kleinen Wattwanderung gewesen«, sagte Ohler. »Ich verbringe jeden Sommer ein paar Tage auf Pellworm, und ich wandere fast jeden Tag hier lang. Aber ich habe noch nie …«
»Schon gut«, fiel Jan ihm ins Wort. »Ich komme gleich zu Ihnen, dann können Sie mir alles erzählen, was Sie wissen, in Ordnung? Erst mal muss ich einen Blick auf die Leiche werfen.«
Ohler blinzelte. »Natürlich. Natürlich«, murmelte er und zog sich ein paar Schritte zurück.
Jan trat neben die Leiche. Sie lag halb auf dem Bauch und halb auf der Seite, sodass er eine Hälfte ihres Gesichtes sehen konnte. Selbst jetzt noch, im Tod, konnte man erahnen, dass die Tote einmal hübsch gewesen sein musste. Gekleidet war sie in praktische Wanderkleidung samt den üblichen dunkelgrünen Gummistiefeln. Die Fingernägel ihrer rechten Hand waren in einem hellen Rotton lackiert. Es sah aus, als würde die Frau noch im Tod nach irgendetwas greifen.
»Meinst du, die ist von der Flut überrascht worden und ertrunken?«, rief Hamkens zu Jan hinüber.
»Erst mal gehen wir davon aus.« Jan warf Hubertus Ohler einen kurzen Blick zu. Der Mann wanderte unruhig im Watt auf und ab. Jan atmete durch und rang einen Anflug von Endzeitstimmung nieder. Seit er vor gut zwölf Monaten als Polizist auf die Insel gekommen war, hatte er schon in zwei Tötungsdelikten ermitteln müssen. Und jetzt bekam er es schon wieder mit einem Todesfall zu tun. Irgendwie beschlich ihn langsam das ungute Gefühl, dass er das Unheil anzog. Vielleicht hatte er es ja aus seinem früheren Leben als Mordermittler bei der Kripo Essen mit auf die Insel gebracht.
»Sei nicht albern«, murmelte er zu sich selbst. Kopfschüttelnd zog er Einmalhandschuhe an, beugte sich über die Leiche, zögerte, berührte sie dann an der Schulter. Als seine Finger auf den nassen, klammen Stoff der hellblauen Windjacke trafen, den er selbst durch die Handschuhe hindurch spüren konnte, schauderte es ihn. So behutsam wie möglich drehte er die Tote um. Mehrere kleine Krebse, die sich unter ihr verborgen hatten, huschten panisch über den Schlick davon. Die Stelle, an der der Körper gelegen hatte, füllte sich rasch mit nachlaufendem Wasser, sodass nur ein schwacher Abdruck zurückblieb.
Auf den ersten Blick waren keine äußeren Verletzungen erkennbar. Genauer würde sich das bei der Leichenschau zeigen, aber erst mal würde er davon ausgehen, dass diese Frau sich tatsächlich zu weit ins Watt vorgewagt hatte und von der Flut überrascht worden war. »Okay«, murmelte er. »Okay.«
Dann ging er zu seinem Zeugen.
Hubertus Ohler sah ihm mit besorgtem Blick entgegen. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen«, haspelte er, noch bevor Jan das Wort an ihn richten konnte. »Wie gesagt, ich bin hier spazieren gegangen, und da ist mir aufgefallen, dass da was liegt. Ich dachte erst, es ist ein toter Seehund oder so.« Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum, während er sprach. »Aber dann habe ich gesehen, dass das ein Mensch ist. Danach habe ich gleich den Notruf gewählt.«
Jan musterte den Mann, der immer noch geschockt wirkte. »Wo wohnen Sie?«
Der Mann nannte ihm die Adresse eines privaten Vermieters am Kaydeich. Er händigte Jan auch ohne Murren seinen Personalausweis aus, sodass Jan sich seine Heimatadresse und anschließend seine Telefonnummer in einem kleinen Notizbuch notieren konnte, das er für solche Fälle immer bei sich trug.
»Danke, Herr Ohler«, sagte er, nachdem das erledigt war. »Ich denke, Sie können dann gehen. Sollten wir weitere Fragen haben, melden wir uns wieder bei Ihnen.« Er musterte den Mann ausgiebig. »Kommen Sie klar, oder brauchen Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«
Ohler schüttelte den Kopf, dass seine Wangen schlackerten. »Nein, nein, nicht nötig. Ich gehe jetzt nach Hause, lege mich ein bisschen hin und dann trinke ich, glaube ich, einen guten Schnaps. Dann wird es schon gehen.«
Jan lächelte ihm zu. »Machen Sie es andersrum: Erst Schnaps, dann schlafen.«
»Gute Idee. Also dann …« Mit einem unbeholfenen Winken wandte Ohler sich ab und marschierte über das Watt in Richtung Insel davon.
Claas Hamkens hatte während des gesamten Gesprächs gewartet. Jan nahm die Kamera aus dem Koffer, lichtete die Tote aus allen Blickwinkeln ab, und als das getan war, verstaute er die Kamera wieder. »So, dann schauen wir doch mal, ob wir rausfinden, wer du bist.« Er begann, die Jackentaschen der Toten abzutasten, doch alles was er zutage förderte, waren ein Zimmerschlüssel von der Nordseelodge, einem Hotel ganz im Westen der Insel. Außerdem eine völlig durchweichte und zerquetschte Packung Zigaretten samt gelbem Einwegfeuerzeug und ein modernes, schlankes Handy. Kein Portemonnaie. Kein Ausweis. Jan sah nach, ob das Handy noch funktionierte, aber ohne Erfolg. Dafür schien das Gerät zu lange im Wasser gelegen zu haben. Mist.
Hamkens, der die ganze Aktion mit gerecktem Hals verfolgt hatte, meinte trocken: »Du solltest einen Antrag stellen, dass die Leute ihren Ausweis einstecken, wenn sie vorhaben, sich im Watt zu verlaufen.« Sein Gesicht glänzte, als sei er aufgeregt und begeistert, bei dieser Sache dabei zu sein.
Jan warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. »Witzbold.« Da war er froh, dass ihm Tammes Gegenwart wenigstens einmal erspart blieb, und dann bekam er dafür gleich den nächsten Helfer, der schlaue Sprüche von sich gab? Er trat einen Schritt zurück und ließ die Situation noch einmal als Ganzes auf sich wirken. Ein paar Möwen hatten ihn entdeckt, hielten ihn offenbar für einen Feriengast, bei dem es sich lohnte nachzusehen, ob etwas Essbares abfiel. Dicht über seinem Kopf standen die weißen Vögel im Wind, und Jan glaubte, die Blicke ihrer kleinen schwarzen Augen auf sich zu spüren. Er schaute in Richtung Südwesten und überlegte. Gewöhnlich würde er jetzt Dr. Carstensen anrufen, den Inselarzt, um eine erste Leichenschau direkt vor Ort vorzunehmen. Aber dummerweise lag Carstensen in Husum im Krankenhaus, um sich einen Nierenstein entfernen zu lassen. Und wenn die Flut kam und die Leiche erreichte, würde jede weitere Untersuchung unmöglich sein. Jan hatte also nur eine Option.
»Ich fürchte, du musst mir helfen«, sagte er zu Hamkens.
Dessen gute Laune wich einem Ausdruck von Bestürzung, der Jan bewies, dass er das Vorhaben, mit Pferd und Korbtrage hierherzukommen, nicht bis ganz zu Ende durchdacht hatte. »Wobei?«
Jan deutete auf die Trage. »Ich fürchte, wir müssen die Leiche zu zweit auf die Trage heben. Allein schaffe ich das nicht.«
Anders als Jan vermutete, befand sich Tamme Hansen nicht auf einer Familienfeier. Zwar wurde sein Großonkel heute tatsächlich neunzig, aber Onkel Krischen saß schon seit Jahren im Pflegeheim, deshalb würde es heute Abend nur eine kleine Party mit ihm und zwei Großcousins von Tamme geben. Dennoch war Tamme über Mittag schon einmal kurz mit einem Blumenstrauß bei seinem Onkel gewesen. Der Alte hatte den Strauß mit den Worten »Was soll ich denn mit dem Grünzeug?« kommentiert. Erst als die Pflegerin ihn und Tamme allein gelassen hatte, hatte er sich an Tamme gewandt. »Und? Wo hast du den Köm?«
Tamme hatte mit einem breiten Grinsen eine Flasche aus der Jackentasche gezogen. »Aber lass dich nicht erwischen«, hatte er gesagt, dann mit seinem Onkel zusammen zwei Lütte gekippt und dabei die Feier später am Tag besprochen.
Jetzt saß er nicht mehr in Krischens Zimmer, sondern auf einem ziemlich unbequemen Stuhl in einem Flur, in dem es nach neuem Linoleum und Mittagessen roch. Über einer Tür ihm direkt gegenüber leuchtete ein rotes Licht mit der Aufschrift Aufnahme , und irgendwo in den Tiefen der Räumlichkeiten telefonierte jemand ziemlich laut und aufgebracht mit einem Mann namens Dr. Sommer. Alles, was Tamme verstehen konnte, war ein immer wieder hastig hervorgestoßenes »Dr. Sommer, lassen Sie mich doch erklären …« Aber offenbar hatte Dr. Sommer keine Lust, den Anrufer erklären zu lassen, sondern redete seinerseits ohne Punkt und Komma.
Tamme lehnte den Kopf an die Rauputzwand. Um sich die Zeit zu vertreiben, dachte er an den einzigen Dr. Sommer, den er kannte, nämlich den, der in der BRAVO die Aufklärungsseiten betreute. Nicht dass er diese Zeitschrift jemals gelesen hätte, nur ab und zu hatte er in der Pause über die Schultern einer Klassenkameradin gelinst, wenn sie die entsprechenden Seiten aufgeschlagen hatte …
Das rote Licht über der Tür ging aus. Tamme setzte sich aufrechter hin. Das junge Mädchen am Empfang hatte ihm gesagt, dass »die Antje« – die Frau, mit der er verabredet war – gerade eine Sendung aufzeichnete. Sobald sie damit fertig wäre, würde sie Zeit für Tamme haben. Tamme knetete seine Knie und wischte die schwitzigen Hände an der Hose ab. Er war zum ersten Mal in einem Radiosender, aber auch wenn es sich natürlich bei Radio NF – dem Sender für die Inseln, die Halligen und die ganze nordfriesische Küste – nur um eine ganz kleine Station handelte, bereitete ihm die Vorstellung Magengrummeln, dass er gleich mit einem Mikro vor der Nase dasitzen und verständliche Sätze herausbringen sollte. Mehr noch: In seinen Eingeweiden rumorte es so heftig, dass man es bestimmt hören konnte. Wie peinlich!
Die Tür öffnete sich, Tamme sprang auf, aber offenbar hatte die Antje etwas vergessen, denn sie lehnte die Tür wieder an. Tamme wusste nicht, ob er stehen bleiben oder sich wieder hinsetzen sollte. Er blies die Backen auf. Roch er etwa nach Köm?
Der Gedanke durchzuckte ihn mit solcher Heftigkeit, dass ihm davon ganz anders wurde. Eilig hob er die Hand vor den Mund, hauchte hinein. Er roch nichts. Gut. Immerhin hatte er nach den beiden Lütten bei Onkel Krischen auf dem Weg hierher auch noch ein Krabbenbrötchen gegessen.
Da sich hinter der Tür nichts tat, setzte er sich wieder, nur um keine Sekunde darauf zum zweiten Mal aufzuspringen, als die Antje jetzt doch herauskam.
Ihr Blick fiel auf ihn. »Du bist bestimmt Tamme, oder?« Sie war eine hagere, kleine Person mit langen grauen Locken, die sie hinter beide Ohren zurückstrich und die so dick waren, dass sie davon regelrecht Segelohren bekam. Tammes Blick hing fasziniert an ihren knallrot geschminkten Lippen.
Unfähig, den Mund aufzumachen, nickte er nur.
Sie streckte die Hand aus. »Ich bin die Antje.«
Die Antje . Genauso hatte das Mädchen am Empfang sie genannt. Mit vollem Namen hieß sie Antje Kramer, sie war Moderatorin einer Morgenshow auf Radio NF und hatte sich bei Tamme gemeldet, weil sie gehört hatte, dass er vor Kurzem dieses Schwert im Watt gefunden hatte. Sie wollte ihn deswegen interviewen, hatte sie gesagt. Ob er dafür in den Sender kommen könne. Zuerst hatte er gemeint, dass er doch gar nicht wusste, was er sagen sollte, aber die Antje hatte ihn beruhigt. Das würde schon werden.
Nun, da war er.
»Moin«, brachte er mühsam heraus.
Sie grinste. »Moin«, erwiderte sie und deutete auf die Tür, aus der sie soeben getreten war. »Geh schon mal rein, ich muss nur einmal kurz telefonieren, dann komme ich.« Mit diesen Worten verschwand sie den Gang hinunter in Richtung Empfang.
Tamme blickte ihr nach. Dann tat er, wozu er aufgefordert worden war, und betrat das Aufnahmestudio. Neugierig sah er sich um. Das hier sah alles ganz anders aus, als er es sich vorgestellt hatte. Da stand nur ein großer Schreibtisch mitten im Raum, auf der einen Seite mit einem Drehstuhl und auf der anderen Seite mit zwei Besucherstühlen bestückt. Dann gab es einen Computer mit mehreren Monitoren, eine Art Mischpult und zwei riesige Mikrofone an langen Schwenkarmen. Das einzige Fenster des Raumes war mit einem Lamellenvorhang versehen, der so stand, dass die Sonne denjenigen auf dem Drehstuhl nicht blenden konnte. Es roch nach Kaffee und Schokolade, was nicht verwunderlich war, weil neben der Computertastatur sowohl ein Becher als auch eine Schale mit Brownies stand. Tamme trat einen Schritt näher, betrachtete die Schale und wunderte sich darüber, dass eine Radiomoderatorin bei ihrer Arbeit aß.
»Willst du einen?«
Antjes Stimme ließ ihn herumfahren. »Äh …« Er spürte, wie seine Wangen heiß wurden, als hätte sie ihn bei einem Diebstahl ertappt. »Nö.«
»Sind aber lecker«, sagte sie, während sie sich hinter ihrem Schreibtisch niederließ, den Mikrofonarm zur Seite schob und auf einen der leeren Besucherstühle deutete. »Hat meine Frau gebacken.«
Tamme nickte nur und ging darüber hinweg, dass Antje so provozierend von ihrer Frau gesprochen hatte. Was erwartete sie? Dass er darauf ansprang? Wofür hielt sie ihn, für einen Hinterwäldler, oder was? Er wusste natürlich, dass man heutzutage auch unter Frauen – oder unter Männern – heiraten konnte, und es war ihm völlig egal, ob jemand das machte oder nicht. Er erzählte dieser Antje ja auch nicht sofort, dass er mit einer verrückten Künstlerin zusammen war. Warum also mussten Leute wie sie einem permanent ihre sexuelle Ausrichtung auf die Nase binden?
Antje musterte ihn aus verblüffend hellblauen Augen, die Tamme an einen Husky erinnerten. »Du bist nervös«, stellte sie fest und redete schon weiter, bevor er darauf reagieren konnte. »Musst du nicht. Wir zeichnen unser Gespräch auf, und ich schneide später alle Ähhs und Versprecher raus.«
Wieder nickte er. Sein Nacken tat weh, stellte er fest. »Na, denn«, meinte er.
Antje lehnte sich zurück. »Bevor wir anfangen, erzähl doch erst mal. Du hast dieses Schwert im Watt gefunden, hab ich gelesen. Da, wo früher Rungholt lag?«
Er sog so viel Luft in die Lunge, wie er nur konnte. »Ja. Allerdings hat das Schwert nichts mit Rungholt zu tun, sagen die Fachleute.«
»Interessant. Erzähl mal!«, forderte die Antje ihn auf.
Und er begann zu erzählen, was er über seinen Fund wusste.
Ungefähr eine Stunde später trat er vor dem Sender auf die Straße. Ein Fahrradkurier, der auf dem Bürgersteig dahinschoss, musste ihm ausweichen, tat es aber mit solcher Geschicklichkeit, dass Tamme ihm bewundernd hinterherblickte. Er war mehr als erleichtert. Das Gespräch mit dieser Antje und auch das anschließend aufgezeichnete Interview waren besser verlaufen als befürchtet. Zwar hatte er sich ein paarmal verhaspelt, aber Antje hatte ihm dann jedes Mal über die Mikrofone hinweg aufmunternd zugelächelt und ihn gebeten, einfach noch mal von vorn anzufangen. Und irgendwann war es besser geworden. Er hatte das Mikrofon vor seiner Nase fast vergessen, hatte sich beim Reden ganz auf Antje konzentriert und sich vorgestellt, dass er mit ihr eine kleine private Plauderei führte. Die Sache mit dem Schwertfund war relativ schnell erledigt gewesen, darum hatte Antje zum Abschluss wissen wollen, was er beruflich machte. »Ich brauche die Infos, um dich unseren Hörerinnen und Hörern ein bisschen besser vorzustellen«, hatte sie gesagt.
Seine Antwort darauf lag Tamme allerdings ziemlich schwer im Magen.
Gut möglich, dass er ein wenig zu viel darüber geplaudert hatte, dass er manchmal für Jan den Kriminalassistenten gab. Düwel ook . Hoffentlich gab das keinen Ärger!
Eine Leiche mit einem Pferd über das Watt zu ziehen, machte man auch nicht alle Tage, dachte Jan auf dem Rückweg zur Insel. Um so wenig Spuren wie möglich zu verwischen, hatten Hamkens und er die Tote in einen Leichensack aus Kunststoff gelegt, den er in weiser Voraussicht aus seinem Streifenwagen mitgenommen hatte.
Jetzt ging Knut in ruhigem Schritt Richtung Leuchtturm. Jan hatte den Eindruck, dass ihn seine ungewöhnliche Fracht nicht im Mindesten interessierte. Obwohl: Was wusste er schon davon, was in so einem großen Pferdekopf vor sich ging? Für ihn und Hamkens war die Situation durchaus ungewöhnlich, und dementsprechend still waren sie beide auf dem Rückweg.
Hamkens lenkte Knut hin zu dem Hundestrand an der Südspitze der Insel und von dort aus auf den Deich, wo bereits der Bestatter auf sie wartete. Gemeinsam mit dem Mann hoben sie die Leiche von der Trage und legten sie in einen Sarg, den der Bestatter und sein Gehilfe gleich darauf in den Wagen schoben. Jan bedankte sich bei Hamkens, stieg in seinen Streifenwagen und folgte dem Leichenwagen den Kaydeich entlang und Richtung Neue Kirche, wo sich die Leichenhalle der Insel befand. Als er an der Lüttschoolgalerie vorbei auf das hoch aufragende Backsteingebäude der Kirche zusteuerte, werkelten Susanne und Alex gerade im Garten. Sie schauten auf, als sie den Leichenwagen bemerkten, und Jan winkte ihnen kurz zu. Nach der Meldung von dem Leichenfund hatte er sie um ein wenig Geduld in ihrem Einbruchsfall gebeten.
Als die Tote auf der Bahre in der Leichenhalle lag, atmete Jan unwillkürlich durch. Jetzt musste er auf den Arzt warten, mit dem zusammen er die Leichenschau vornehmen wollte. Er hatte auf dem Weg hierher bereits Klaus Brodersen angerufen, Allgemeinmediziner vom Festland und Dr. Carstensens Vertretung, solange der im Krankenhaus lag. Brodersen war auf Pellworm geboren, hatte die Insel aber direkt nach der Schule verlassen, um Medizin zu studieren und danach etliche Jahre lang im Ausland zu arbeiten.
Jan nutzte die Wartezeit, um kurz zu Alex und Susanne zu gehen und mit ihnen zu reden. Sie wirkten einigermaßen betroffen vom Fund der Toten. Er versprach ihnen, dass er sich um den Einbruchdiebstahl kümmern würde, sobald er dazukam.
»Klar«, sagte Susanne, und Jan war erleichtert.
Es gab auf der Insel durchaus Bewohner, die kein Verständnis dafür hatten, dass er nicht sofort und ausschließlich Zeit hatte, sich um sie zu kümmern.
Dr. Brodersen kam ungefähr zehn Minuten später mit seinem roten Mini aus Richtung Ostertilli. Er fuhr bis direkt vor die Leichenhalle, parkte dort und stieg aus. Er war ein mittelgroßer Mann mit beginnender Glatze und einer auffällig schmalen Nase in einem eher blassen Gesicht. Jan hatte noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber er wusste, dass Brodersen sich für einen Feingeist hielt. Er mochte teure französische Weine und gutes Essen. Darüber hinaus schien er ein umgänglicher und freundlicher Mensch zu sein, der Jan mit einem Lächeln die Hand schüttelte und »Da bin ich«, sagte.
Jan hatte ihm schon am Telefon ein paar Details erzählt, darum führte er Brodersen jetzt ohne viele weitere Worte zur Leichenhalle und ließ ihm den Vortritt. Am Fußende der Bahre blieb der Arzt stehen und betrachtete die Tote lange.
»Kennen Sie sie?«, fragte Jan. Aus irgendeinem Grund machte Brodersen diesen Eindruck auf ihn.
»Nie gesehen.« Brodersen stellte seinen Arztkoffer auf den Boden, bückte sich und nahm zwei Paar Handschuhe heraus. Eins davon gab er Jan, und gemeinsam machten sie sich an das übliche Prozedere, das in Fällen wie diesen vorgeschrieben war: genaue Untersuchung der Leiche erst in angezogenem, schließlich in ausgezogenem Zustand. Die Kleidung und die Schuhe der Toten verpackte Jan einzeln in große Papiertüten.
Währenddessen diktierte Brodersen seine Eindrücke in sein Handy. »Keine äußerlichen Verletzungen an der Vorderseite der Leiche, abgesehen von leichten Abschürfungen an den Fingerspitzen. Um Mund und Nase Spuren von Schaumbildung, die allerdings nur schwach erkennbar sind, da das Meerwasser sie fortgewaschen hat. Letzteres untermauert in meinen Augen den Eindruck, dass die Tote ertrunken ist.« Über die Leiche hinweg blickte er Jan auffordernd an. Gemeinsam drehten sie die Tote auf den Rücken.
»Scheiße!«, entfuhr es Jan.
Schlagartig befand er sich nicht mehr in einer Leichenhalle auf einer kleinen Insel mitten im Wattenmeer, sondern sieben Jahre in der Vergangenheit, in einer winzigen Wohnung eines Sozialbauhochhauses im Norden von Essen. Die Frau, die er plötzlich vor Augen hatte, lag in ihrer eigenen Badewanne, ihr langes Haar war zwar nicht rot wie das seines Opfers aus dem Watt, sondern brünett und lockig. Aber auch sie war tot. Ihre Augen starrten durch die Wasseroberfläche in unergründliche Ferne, und ihre Haut war am ganzen Körper blass und teigig – bis auf die zwei Stellen an ihren Schultern. Dort zeichneten sich dunkelblau die Abdrücke zweier Hände ab …
Jan blinzelte die Erinnerung fort.
Die beiden Handabdrücke auf dem Rücken ihrer Toten hier sahen exakt so aus wie die bei der Toten in der Badewanne damals. Jan rieb sich mit den flachen Händen über Stirn und Augen.
»Scheint fast so«, murmelte Brodersen betroffen, »als hätte jemand die arme Frau gewaltsam unter Wasser gedrückt.«
Jan wollte nicken, aber seine Nackenmuskeln waren plötzlich hart und unbeweglich wie Drahtseile. »Scheiße!«, sagte er noch einmal. Nix war es mit Tod durch Ertrinken aufgrund eines Unfalls.
Wie es aussah, hatte er hier gerade sein drittes Tötungsdelikt innerhalb eines Jahres vor sich.
Er brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu fangen, darum entschuldigte er sich bei Brodersen. Gleich darauf ging er draußen vor der Leichenhalle auf und ab, der Kies knirschte unter seinen Schuhen.
Der Wind rauschte in den Bäumen, und Jan konnte das Geräusch nicht von dem Rauschen in seinen Ohren unterscheiden. Eine Amsel saß auf einem Ast direkt über dem Eingang der Leichenhalle und zeterte lauthals. Alles fühlte sich distanziert an, wie durch einen dichten Nebelschleier verhüllt. Als würde der Fall von damals zusammen mit der Vergangenheit vor ihm wieder auferstehen.
Nach ein paar Minuten hatte er seine wirbelnden Erinnerungen wie auch das maue Gefühl in seinem Magen wieder unter Kontrolle und kehrte zu Brodersen und der Toten zurück.
Der Arzt musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis. »Alles in Ordnung? Sie sind plötzlich leichenblass geworden.«
Jan rang die Erinnerung nieder. Tief atmete er durch. »Geht schon. Die Handabdrücke haben mich nur an einen früheren Fall erinnert.«
Brodersen legte den Kopf schief. Er sah dadurch aus wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte. »Lassen Sie mich raten: Sie haben den Täter nie gefasst.«
Beinahe hätte Jan aufgelacht bei dieser fast klischeeartigen Vorstellung des Arztes. Der Bulle mit dem alten, nie verarbeiteten Trauma. Jan biss die Zähne zusammen. »Doch«, widersprach er. »Haben wir.«
Er schloss für eine Sekunde die Augen, weil die Erinnerungen sich schon wieder seiner zu bemächtigen drohten. »Der Ehemann war der Täter.« Was allerdings nicht der Grund dafür gewesen war, dass dieser Fall ihn immer noch umtrieb … Vielmehr waren die schlimmen Ereignisse, die der Entdeckung der Toten in der Badewanne gefolgt waren, der Grund für seine momentane Erschütterung. Mit Mühe drängte er sie in den hintersten Winkel seines Geistes zurück.
»Hmhm.« Brodersen starrte auf ihre Tote. »Also für mich sieht es aus, als ob jemand diese Frau ermordet hat.«
Jan betrachtete die Handabdrücke. Dem Anschein nach war die Frau durch Fremdeinwirkung gewaltsam zu Tode gekommen, das war vorerst alles, was er für sein weiteres Vorgehen wissen musste. Mit einem Anflug von Erschöpfung sagte er: »Das wird die Rechtsmedizin rausfinden.« Daraufhin wandte er sich der Kleidung der Toten zu, um sie noch einmal gründlich zu durchsuchen, und tatsächlich war er diesmal erfolgreicher als bei seiner oberflächlichen Durchsuchung draußen im Watt.
In der hinteren Hosentasche stießen seine Finger auf etwas, das sich wie ein dick zusammengefaltetes Stück Papier anfühlte. Es sah auch so aus: weiß, ungefähr halb so groß wie eine Postkarte. Ein Impfausweis. Die Tote musste ihn routinemäßig dabeigehabt haben, vermutlich eine herübergerettete Angewohnheit nach den Monaten der ständigen Lockdowns der letzten Zeit.
Jan betrachtete das Dokument, das von einem schmutzigen Weiß war und nicht gelb, wie die meisten anderen. Als Ausstellungsdatum war 1979 angegeben. Jans Blick glitt zu dem mit Schreibmaschine geschriebenen Namen.
Merle von Bodenbach. Dazu eine Adresse in der Nähe von Rendsburg, die jemand jedoch mit Kugelschreiber durchgestrichen und durch eine neue ersetzt hatte. Leider waren sowohl die Streichungen als auch der aktuelle Wohnort von Frau von Bodenbach im Salzwasser bis fast zur Unkenntlichkeit verlaufen. Das Einzige, was sich noch einigermaßen entziffern ließ, war das Wort Berlin , aber auch da war sich Jan nicht ganz sicher.
Er trat einen Schritt von der Bahre zurück, hielt den Impfausweis hoch und zeigte ihn Brodersen. »Unsere Tote heißt Merle von Bodenbach.«
»Von Bodenbach? War das nicht ein Freiherrengeschlecht irgendwo hier in Schleswig-Holstein?«
Jan zuckte mit den Schultern, er kannte sich mit Adelsdingen überhaupt nicht aus. »Keine Ahnung.« Dann schob er den Impfausweis ebenfalls in eine Beweismitteltüte aus Plastik, klebte sie sorgfältig zu und kontrollierte auch noch die anderen Taschen der Toten. In einer der hinteren kam noch etwas zum Vorschein, diesmal war es ein Fotoabzug, der genau wie der Impfausweis im Salzwasser gelitten hatte. Die Folie schälte sich an allen Ecken ab, und das Papier selbst war so wellig, dass das Bild kaum noch zu erkennen war. Nur mit Mühe konnte Jan ein Schwert ausmachen.
Als Jan mit einer Kiste, in der er sämtliche Habseligkeiten der Toten verstaut hatte, in das Amtsgebäude zurückkehrte, begegnete er zufällig einem jungen Mann, den er in den vergangenen Tagen schon ein paarmal gesehen hatte. Es war Tjark Wangels, irgendwas zwischen Mitte und Ende zwanzig, Student der Uni Kiel und hier, um im Inselarchiv ein für sein Studium nötiges Praktikum zu machen. Im Zuge ihrer jeweiligen Arbeit waren Jan und Tjark sich ein paarmal auf den Fluren im Amt begegnet, hatten bisher aber kaum zwei Worte gewechselt.
Jetzt jedoch schien Tjark das ändern zu wollen. Als er Jan sah, steuerte er direkt und mit weit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich glaube, wir sollten uns endlich mal richtig bekannt machen!«, rief er aus. »Tjark, der neue Praktikant von Herrn Fohrbeck. Du musst Jan sein. Ist es okay, wenn wir Du sagen? Ich bin es von der Uni gewohnt, alle zu duzen.«
Leicht überrumpelt stellte Jan eilig die Kiste auf seinen Schreibtisch, dann schüttelte er Tjarks Hand. »Klar. Jan. Hier auf der Insel duzen sich sowieso die meisten. Schön, dich kennenzulernen.« Um der Höflichkeit Genüge zu tun, schob er eine Frage nach. »Du studierst in Kiel, hat man mir gesagt. Was genau?«
Tjark strahlte ihn an. »Frisistik und Geschichte.«
»Frisistik?«
Tjarks Strahlen verwandelte sich in ein verlegenes Grinsen, was sein schmales Jungsgesicht noch ein bisschen kindlicher wirken ließ. »Ich weiß. Kennt kaum jemand. Ich befasse mich mit der friesischen Sprache und friesischer Literatur.«
»Aha«, erwiderte Jan. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es ein Studienfach dieses Namens überhaupt gab.
»Ja. Aber darüber hinaus interessiere ich mich auch ein wenig für Archäologie, darum finde ich dieses Schwert überaus spannend, das hier neulich im Watt gefunden wurde. Weil mein Geschichtsprofessor ab und zu für das archäologische Landesamt arbeitet, hat er mir erlaubt, während meiner Zeit hier eine Arbeit darüber zu schreiben, bevor die Waffe ins Museum nach Schleswig gebracht wird.«
Bei Tjarks Worten musste Jan an das Foto in Merle von Bodenbachs Hosentasche denken. »Das ist ja ein willkommener Zufall! Hast du mal kurz ein paar Minuten Zeit für mich?«
Tjark hob die Augenbrauen, die so hellblond waren, dass man sie nur im Sonnenlicht erkennen konnte. »Logo.« Er trat dichter an Jan heran, der ein paar frische Einweghandschuhe überzog.
»Moment.« Jan holte aus einer der Tüten, in denen sich die sichergestellten Asservate befanden, das Foto heraus, das die Tote in der Tasche gehabt hatte, und zeigte es dem jungen Mann.
Mit roten Ohren schaute Tjark es an. »Geht es hier um irgendein Verbrechen?«
»Werden wir sehen.« Neuigkeiten, besonders so spektakuläre wie der Fund einer Leiche, machten auf der Insel zwar schnell die Runde, aber so schnell nun auch wieder nicht. Tjark jedenfalls hatte eindeutig noch nichts von der toten Frau im Watt gehört. »Du würdest mir auf jeden Fall sehr helfen, wenn du auf dieses Foto einmal einen Blick werfen würdest.«
Mit konzentrierter Miene betrachtete Tjark das durch das Salzwasser nur schwer erkennbare Motiv. Jan sah, wie sich sein Adamsapfel hob und senkte. »Das sieht aus wie unser Schwert hier.«
»Irgendeine Idee, warum eine Frau, die nicht von der Insel stammt, dieses Foto bei sich haben könnte?«
Tjark kratzte sich am nicht vorhandenen Bart. »Keine.«
Okay, dachte Jan. Vielleicht war es ja auch gar nichts. Dass die Tote ein Foto eines vor Kurzem hier gefundenen Schwertes in der Tasche gehabt hatte, musste überhaupt nichts mit ihrem Tod zu tun haben. Vielleicht war es einfach nur Zufall.
Ob er mit diesem Gedanken richtig lag, würde sich später hoffentlich zeigen.
Nachdem Tjark sich verabschiedet hatte, setzte Jan sich an seinen Schreibtisch und starrte einige Minuten lang auf die Wand gegenüber. Das knallbunte Poster, das er dort hängen hatte und das eine Karte von NRW darstellte, verschwamm vor seinen Augen. Der Fund der Leiche, die daraus resultierenden Maßnahmen, die er sorgfältig abgearbeitet hatte, und vor allem die Erinnerung an die Tage nach dem Fund der Frau in der Badewanne damals in Essen hatten ihn in einen seltsamen Zustand versetzt. Er fühlte sich übermäßig lebendig angesichts des Todes, und es war, als würde ihm das eigene Leben durch die Adern rauschen. Er dachte an die Handabdrücke auf Merle von Bodenbachs Leiche.
Der Anblick lag ihm wie ein Stein im Magen.
Er schaute aus dem Fenster. Der Sommerflieder, der auf dem winzigen Stück Rasen davor stand, blühte um diese Jahreszeit noch nicht, aber seine langen Äste wippten sachte im Wind. Jan senkte den Blick auf das Foto, das er vor sich auf die Tastatur seines Computers gelegt hatte. Eine Weile lang starrte er es an, natürlich ohne dass ihm dazu auch nur der geringste Gedanke kam.
Seufzend schob er das Foto zurück in eine der Papiertüten, dann wandte er sich seinem Computer zu, rief die Seite des Einwohnermeldeamtes auf und gab Merle von Bodenbach ein. Die Liste der Personen, die deutschlandweit diesen Namen trugen, war sehr kurz. Sie bestand aus genau einem Eintrag. Jan klickte ihn an und las die Informationen, die er lieferte. Merle von Bodenbach war 1979 in Rendsburg geboren und entstammte, genau wie Brodersen gesagt hatte, einem Freiherrengeschlecht. Ihr Vater war Johannes Matthias Freiherr von Bodenbach und gemeldet in einem Seniorenheim am Rande von Rendsburg. Ihre Mutter Elisa von Bodenbach, geborene Bernauer, war seit ein paar Jahren tot. Geschwister oder andere Verwandte gab es offenbar keine. Merle war verheiratet gewesen, und zwar mit einem Mann namens Franz-Josef Losinger. Sie trug den Doppelnamen von Bodenbach-Losinger und wohnte mit ihrem Mann in Berlin.
Jan schickte eine Mail an das zuständige Einwohnermeldeamt in der Hauptstadt und bat um die Zusendung des Personalausweisfotos von Merle von Bodenbach, das dort hinterlegt war. Zu seiner Verwunderung erhielt er die Antwort kaum eine Viertelstunde später. Das angehängte Foto zeigte eine ernst in die Kamera blickende Frau mit langen roten Haaren. Eindeutig ihre Tote aus dem Watt.
Eine kurze Recherche im Internet verriet Jan, dass Franz-Josef Losinger zwanzig Jahre älter war als seine Frau. Während er eher der Typ unsportlicher Geschäftsmann war – Bauch und leicht ungesunde rötliche Gesichtsfarbe inklusive –, war sie sportlich. Jan fand mehrere Artikel, die davon berichteten, dass Merle von Bodenbach-Losingers Hobby das Freeclimbing war. Ihr Mann war Inhaber einer erfolgreichen Berliner Immobilienfirma und gehörte offenbar zum Hauptstadt-Jet-Set. Die Seiten mit Klatsch und Tratsch über ihn und seine attraktive, junge Frau überflog Jan nur kurz, aber dafür blieb er auf einer Seite hängen, die eine wichtige Tagung der Immobilienbranche in einem Hotel in München mit dem Titel »Bautechnische Vorschriften. Hindernisse oder Chance?« ankündigte.
Bei dieser Veranstaltung war Franz-Josef Losinger einer der Hauptredner. Er sollte mehrere Vorträge darüber halten, wie er es geschafft hatte, seine Firma so groß und erfolgreich zu machen. Auf Jan wirkte die ganze Veranstaltung, die bereits gestern angefangen und noch bis übermorgen gehen sollte, irgendwie halbseiden. Er schloss die Tagungsseite und ging auf die Website von Losingers Firma, die den fantasielosen Namen Immobilien Losinger und Company GmbH trug. Er suchte nach der Seite mit den Fotos der wichtigsten Personen des Unternehmens. Natürlich stand das Bild von Losinger ganz oben, und es war versehen mit dem Eintrag Gründer und Inhaber .
Losinger schien dem Betrachter mit einem aufgesetzten Lächeln direkt in die Augen zu blicken.
Aus einem Impuls heraus wählte Jan die Telefonnummer, die zu Losingers Eintrag gehörte. Gleich nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme, die einen unüberhörbar bayerischen Einschlag hatte, obwohl sie Hochdeutsch sprach. »Sekretariat Direktor Losinger, Sabine Krauß am Apparat.«
»Guten Tag, Frau Krauß«, meldete Jan sich. »Mein Name ist Hauptkommissar Benden, Polizeistation Pellworm. Ich würde gern mit Herrn Losinger sprechen, wenn das möglich ist.«
»Tut mir leid, Herr Direktor Losinger ist zurzeit verreist«, bekam er zur Antwort. Wenn die Sekretärin sich darüber wunderte, dass die Polizei anrief, so ließ sie es sich nicht anmerken.
»Ich weiß. Er ist auf dieser Branchentagung in München, richtig?«
»Wenn Sie möchten, kann ich ihm etwas von Ihnen ausrichten. Sobald er Zeit für Sie findet, ruft er Sie mit Sicherheit zurück.«
Jan entging nicht, mit welcher Selbstsicherheit die Frau seiner Frage ausgewichen war. Kurz war er versucht, sie darauf hinzuweisen, dass er möglicherweise in einem Mordfall ermittelte, aber er verzichtete auf eine entsprechende Bemerkung. Er war nicht bei der für diesen Fall zuständigen Kriminalpolizei. Für die weiteren Ermittlungen würden sich die Kollegen in Flensburg an die Polizei in Berlin wenden, wo Merle von Bodenbach-Losinger gemeldet war. Und die Kollegen in München würden es übernehmen, den Mann über den Tod seiner Frau zu informieren, was definitiv eine Pflicht war, um die Jan sie nicht beneidete.
Er bedankte sich bei Frau Krauß für ihre Hilfe und legte auf. Immerhin wusste er jetzt schon einmal, dass Merle von Bodenbachs Mann wahrscheinlich nicht in ihrer Nähe gewesen sein konnte, als sie gestorben war.
Einige Sekunden lang rieb er sich seine Schläfen und wählte anschließend eine Nummer in Flensburg.
»Welzow«, meldete sich eine vertraute Frauenstimme.
Jan lächelte. »Daniela, hier ist Jan.«
Daniela Welzow war Oberkommissarin bei der Kriminalpolizei der Polizeidirektion Flensburg, und Jan hatte schon bei seinen beiden letzten Todesfallermittlungen hier auf der Insel mit ihr zusammengearbeitet. Daniela stammte ursprünglich aus Berlin, war vor einer Weile aber der Liebe wegen in den hohen Norden gezogen. Die Beziehung war in die Brüche gegangen, und seitdem konzentrierte sich Daniela völlig auf ihre Karriere bei der Kriminalpolizei.
»Jan!« Sie hielt kurz inne. Dann fuhr sie in einem vorsichtigen Tonfall fort: »Ich hoffe, du rufst nur an, weil du mich zum Geburtstag einladen willst.«
Er konnte ihr anhören, dass sie ahnte, was jetzt kommen würde.
»Leider nicht.«
»Sag nicht, du hast schon wieder eine Leiche auf der Insel!«
»Doch.« In knappen Zügen umriss er Daniela, wie Merle von Bodenbach gefunden worden war. »Ich habe zusammen mit dem Arzt schon mal die erste Leichenschau durchgeführt.« Er biss die Zähne aufeinander, weil er damit rechnete, dass Daniela ihn dafür zurechtweisen würde. Normalerweise wurde nämlich bei einer Wasserleiche auch ohne Leichenschau automatisch von einer ungeklärten Todesursache ausgegangen, womit die Kripo in Flensburg ins Spiel kam. Dass Jan die Leichenschau zusammen mit Brodersen dennoch durchgeführt hatte, war seiner noch immer vorhandenen Gewohnheit und seinem Eifer als ehemaliger Kripobeamter geschuldet.
Zu seiner Erleichterung ging Daniela über diesen Umstand stillschweigend hinweg. »Und?«, fragte sie nur.
»Wir haben sowohl Abwehrverletzungen an den Händen als auch zwei ziemlich auffällige Hämatome am Rücken der Toten gefunden.«
»Fremdverschulden?«
»Durchaus möglich. Ich meine: Es kann natürlich auch sein, dass sie von der Flut überrascht worden und ertrunken ist und dass die Hämatome mit ihrem Tod gar nichts zu tun haben.«
»Aber so, wie du gerade klingst, glaubst du das nicht.«
»Nein«, sagte er. »Ich glaube, dass jemand sie gewaltsam unter Wasser gedrückt und so ertränkt hat. Genaueres muss natürlich die Obduktion ergeben.«
»Gut«, sagte Daniela. »Dann sollten wir die abwarten.«
»Hmhm.«
Sie hörte ihm an, was in ihm vorging. »Du bist dir ziemlich sicher, dass wir es in diesem Fall mit einem Tötungsdelikt zu tun haben, oder?«
»Ja.«
Sie überlegte einen Moment, und er erwartete schon, dass sie ihn fragen würde, ob er nicht einfach nur zum dritten Mal den Kriminalbeamten spielen wollte. Daniela wusste natürlich, dass ein Teil von ihm die Arbeit bei der Kripo in Essen vermisste und er es manchmal bereute, hierher auf die idyllische Insel gezogen zu sein. Sie hätte ihn gut und gerne damit aufziehen können. Aber sie schien zu spüren, dass ihn irgendetwas umtrieb, und sie schwieg. Er rechnete es ihr hoch an. Er versuchte, nicht schon wieder an den Fall damals in Essen zu denken. Es war völlig irrational, dass er der Toten in der Badewanne von damals gegenüber nach all den Jahren immer noch Schuldgefühle hatte, und noch irrationaler war es natürlich, dass er es diese Schuldgefühle auf Merle von Bodenbach übertrug. Weil eine Katastrophe geschehen war, hatte er selbst den Fall damals nicht zu Ende ermitteln können, aber seine Kollegen hatten der Frau schließlich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Genau genommen war es jene Katastrophe, die ihm seit dem Fund von Merles Leiche nicht mehr aus dem Kopf ging. Eines jedenfalls war ganz sicher: Seit er die Handabdrücke auf Merles Rücken entdeckt hatte, fühlte er sich wie unter Strom. Er fasste Daniela auch noch seine bisherigen Recherchen zusammen. »Jemand muss den Ehemann benachrichtigen, aber der befindet sich zurzeit auf einer Tagung in München.«
»Kannst du mir alle nötigen Infos schicken? Dann sorge ich dafür, dass die Kollegen in München sich darum kümmern können.«
Jan versprach es ihr. »Ihr Vater lebt in einem Seniorenheim bei Rendsburg. Vielleicht informiert ihr den auch?«
»Kümmern wir uns drum.«
»Gut. Die Tote hatte ein Foto in der Tasche, von einem archäologischen Fund, der vor Kurzem hier gemacht wurde. Ein Schwert. Tamme hat es im Watt gefunden.«
»Ein Schwert. Stammt das von Rungholt? Dann wäre es eine kleine Sensation, oder?«
»Keine Ahnung.«
»Glaubst du, dass das Foto was zu bedeuten hat?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Gut.« Daniela seufzte tief. »Diese Sache kommt echt zu einer total unseligen Zeit. Wir sind hier nämlich gerade alle bis über beide Ohren beschäftigt. Die Straftaten in unserem Zuständigkeitsbereich werden in der letzten Zeit leider nicht weniger, und die Personaldecke wird durch Urlaub und diverse coronabedingte Ausfälle auch immer dünner. Natürlich werden wir diesen Fall offiziell übernehmen, aber glaubst du, dass du dich in Absprache mit unserer Dienststelle ausnahmsweise schon einmal vorab allein um das ein oder andere kümmern könntest?«
Jan glaubte, ein Grienen in Danielas Stimme wahrnehmen zu können, und er freute sich über diese Frage. Natürlich war es überhaupt nicht üblich, dass die Kriminalpolizei die Ermittlungsarbeit an einen normalen Streifenpolizisten übertrug, selbst dann nicht, wenn dieser der einzige Polizist auf der gesamten Insel war. Aber Jan und Daniela hatten schon zweimal überaus gut und erfolgreich zusammengearbeitet. Und sie schien gespürt zu haben, dass er darauf brannte, den Fall selbst zu übernehmen. Vielleicht hatte sie genau deswegen die Arbeitsüberlastung ihrer Abteilung vorgeschoben. »Bist du sicher, dass dein Chef das gutheißt?«, fragte er lächelnd.
Sie überlegte einen Augenblick. »Der? Der kann froh sein, dass du dich kümmerst. Er hat deine Arbeit in den letzten beiden Fällen ziemlich wohlwollend kommentiert. Und außerdem stimmen wir uns ja eng ab, sodass es weder intern noch bei der Staatsanwaltschaft Probleme geben sollte.«
Auch das freute Jan.
»Natürlich können wir dir die Sache nicht hochoffiziell übertragen, aber ich schicke dir Thorsten auf die Insel, damit er deiner Arbeit einen offiziellen Anstrich gibt.« Thorsten Herder war erst seit ein paar Monaten bei der Kriminalpolizei Flensburg, das wusste Jan noch von seinem Fall im Februar, als man in einer abgebrannten Bauernhausruine eine männliche Leiche gefunden hatte. Thorsten war damals gerade erst als frisch gebackener Kriminalkommissar von der Fachhochschule in Altenholz gekommen, dementsprechend unerfahren war er noch.
»Ich freue mich darauf, Thorsten kennenzulernen«, sagte Jan, der Thorsten noch nie persönlich begegnet war.
»Gut. Ich rede mit meinem Chef, und der muss das vermutlich noch mit deiner Revierleiterin klären. Aber du kannst schon mal davon ausgehen, dass ihr Okay nur Formsache ist.«
Da allerdings war Jan sich nicht ganz so sicher. Auf Pellworm standen die Rosentage bevor, in denen es eine ganze Reihe von Veranstaltungen unterschiedlichster Art gab, angefangen von den sogenannten offenen Gärten, bei denen die Pellwormer den Inselgästen ihre Grundstücke öffneten und zeigten, was für Prachtexemplare von Rosen sie züchteten, bis hin zum sogenannten Rosenmarkt, einer Art kleinem Bauernmarkt. Da diese Tage immer sehr viele Urlauber und auch Tagesausflügler anlockten, rechnete Jan damit, dass er in seiner Funktion als Streifenpolizist einiges zu tun bekommen würde. Und dann war da ja auch noch der Einbruch in die Lüttschoolgalerie. Aber er vertraute Daniela, dass sie es schaffen würde, seine Revierleiterin zu überzeugen. »Danke«, sagte er.
»Nein, ich danke dir. Ich muss dich allerdings bitten, dich mit den offiziellen Ermittlungen ein bisschen bedeckt zu halten, bis Thorsten bei dir auf der Insel ist.«
»Kein Problem.«
Nachdem auch das geklärt war, unterhielten sie sich noch eine Minute lang über private Dinge, dann verabschiedeten sie sich und legten auf.
Kurz darauf griff Jan zu der Beweismitteltüte mit dem Hotelschlüssel der Nordseelodge darin. Er kannte die Eigentümer des Hotels, Annika und Ove Jensen, recht gut, und da er erst kürzlich mit ihnen telefoniert hatte – es war um einen Unfall auf dem Parkplatz vor ihrem Haus gegangen –, musste er ihre Nummer nicht heraussuchen. Er wusste sie auswendig, obwohl ihr Anschluss, anders als viele andere auf der Insel, aus mehr als drei Ziffern bestand.
Als Annika sich meldete, erkundigte er sich bei ihr nach Merle von Bodenbach.
»Ja«, bekam er zur Antwort. »Die hat ein Zimmer bei uns im Haus, richtig. Wieso fragst du?«
»Polizeiliche Ermittlungen«, gab er aus reiner Gewohnheit zurück und dachte an Danielas Bitte, sich bis zu Thorstens Ankunft auf der Insel etwas bedeckt zu halten.
»Aha«, sagte Annika nur.
»Kannst du mir sagen, wann du sie zuletzt gesehen hast?«
»Das war, warte mal, ist schon ein paar Tage her. Jetzt, wo du fragst: Das ist sowieso irgendwie seltsam.«
Jan setzte sich aufrechter hin. »Was meinst du?«
»Frau von Bodenbach hat sich für zwei Wochen ein Zimmer gemietet. Sie ist letzten Samstag angekommen und hat an dem Abend auch im Restaurant gegessen. Aber danach hat sie niemand mehr gesehen, und ihr Bett war die ganze Zeit unbenutzt.« Sie hielt inne. »Ihr ist was passiert, oder?«
Jan murmelte etwas Unbestimmtes. »Seit Sonntag hat sie bei euch also niemand mehr gesehen«, wiederholte er.
»Richtig, ja.«
In Gedanken ging er die Sache durch. Merle von Bodenbach war drei Tage nicht mehr gesehen worden. Gestorben war sie, dem Zustand ihrer Leiche nach zu urteilen, aber erst vor wenigen Stunden. Was hatte sie in der Zwischenzeit gemacht, und wo hatte sie sich aufgehalten?
Jan bedankte sich bei Annika und bat darum, dass niemand Merles Zimmer betrat, bis die Kollegen von der Kripo sich dort umgesehen hatten. Eigentlich hätte er das Zimmer sofort versiegeln müssen, aber das biss sich mit seinem Versprechen Daniela gegenüber, sich mit offiziellen Maßnahmen vorerst noch zurückzuhalten. Annika Jensen jedoch war sehr zuverlässig. Sie würde das Zimmer abschließen, hatte sie versprochen. Er konnte sich darauf verlassen, dass das auch geschah. Nachdem Jan aufgelegt hatte, überlegte er, wie er nun weiter vorgehen sollte.
Nicht nur die Durchsuchung des Hotelzimmers musste er auf morgen verschieben, sondern auch alles Weitere, also auch Befragungen von möglichen Zeugen. Er beschloss, sich zunächst auf die Dinge zu konzentrieren, die er bei der Toten gefunden hatte. Er startete seine offizielle Ermittlung in diesem Fall damit, sich mit der Padmaschine auf seinem Schrank einen Kaffee zu machen. Mit der Tasse in der Hand betrachtete er anschließend eine Weile lang Merles Habseligkeiten in dem Karton auf seinem Schreibtisch, dann zog er erneut Handschuhe an und nahm den Impfausweis aus seiner Beweismitteltüte. Nachdenklich betrachtete er das kleine, rechteckige Stück Papier, die mit Schreibmaschine getippte Adresse darauf, ging erneut auf die Seite mit den Einwohnermeldedaten und gab Daten in die Suchmaske ein.
Es handelte sich bei der Adresse um eine Villa am Rande von Rendsburg, aber dort war niemand mehr gemeldet, der von Bodenbach hieß, sondern ein Paar mit Namen Ipsen. Holger und Jennifer Ipsen. Weil er mit den Befragungen von Merles Mann und ihrem Vater auf Thorsten warten musste, beschloss Jan, wenigstens mit den beiden hier zu sprechen. Er ging nicht davon aus, dass das viel brachte, aber er suchte trotzdem ihre Telefonnummer heraus und wählte.
Es dauerte lange, bevor jemand abnahm, und als es endlich so weit war, erklang eine gehetzte Frauenstimme. »Ja?«
Jan räusperte sich. »Frau Ipsen?«
»Am Apparat.« Die Frau schnaufte einmal tief durch. »Entschuldigung, ich war im Garten und hab das Klingeln erst nicht gehört.«
»Kein Problem. Mein Name ist Jan Benden, Polizei Pellworm.« Jan nahm das leise Ächzen der Frau wahr, maß ihm aber keine weitere Bedeutung bei. Die meisten Menschen reagierten alarmiert, wenn man sich ihnen als Polizist zu erkennen gab. »Ich rufe Sie an, weil ich auf der Suche nach jemandem namens von Bodenbach bin.«
»Von Bodenbach? Aber die wohnen doch schon ewig nicht mehr hier! Wir haben deren Haus gekauft, vor zwanzig Jahren oder so.«
»Haben Sie noch Kontakt zu der Familie?«
»Etwas Schlimmes ist passiert, oder?«, stellte Frau Ipsen eine Gegenfrage.
Jan ging nicht darauf ein. »Haben Sie oder haben Sie nicht?«
»Nein. Wie gesagt, ihnen gehörte früher unser Haus, aber wir haben die Familie nie kennengelernt. Der Verkauf lief damals über einen Makler, ich weiß das noch genau. Eine Firma Losinger aus Berlin war das.«
»Danke.« Interessant, dachte Jan. Losinger hatte die Familienvilla seiner Frau also über seine Immobilienfirma verkauft.
»Ich glaube, die von Bodenbachs leben jetzt in Berlin.«
»Ja. Das weiß ich. Ich …«
»Soweit ich weiß, ist Merle die letzte aus der von Bodenbach-Dynastie. Sie hat das Haus geerbt, als ihre Mutter starb, und danach so einen reichen Unternehmer aus Bayern geheiratet. Franjo Losinger. Darum weiß ich auch noch den Maklernamen, das war nämlich seine Firma, über die der Verkauf lief.«
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Jan.
Frau Ipsen lachte leise. »Ich lese mit großer Begeisterung Das Goldene Blatt , aber wehe, Sie verraten mich!«
»Ah«, machte Jan nur. Er kannte diese Zeitschrift nur von seinen eher seltenen Besuchen beim Friseur oder bei der Physiotherapeutin, zu der er ging, wenn er sich mal wieder bei der Gartenarbeit den Rücken verrenkt hatte. »Eine letzte Frage. Ich habe Informationen darüber, dass Merles Vater noch lebt. Aber trotzdem wurde die Villa nach dem Tod ihrer Mutter an Sie verkauft. Korrekt?«
»Ja. Irgendwie hat mich das damals auch gewundert. Ich meine, der alte von Bodenbach ist der letzte aus einer langen Adelsreihe. Dass er zu seinen Lebzeiten zulässt, dass das Familienanwesen verkauft wird, fand ich auch seltsam. Ich dachte mir halt, er braucht das Geld für ein gutes Altersheim, oder so.«
»Danke, Frau Ipsen. Das war alles sehr hilfreich.« Jan verabschiedete sich und legte auf.
Mehr aus Neugier als aus Notwendigkeit googelte er anschließend noch einmal die Namen Merle von Bodenbach und Franz-Josef Losinger und las sich nun doch durch ein paar der Klatsch- und Tratschseiten, die sich um das Jetset-Leben eines Paares mittleren Alters drehte. Wenn Jan den Berichten Glauben schenken konnte, dann hatte Franz-Josef – Franjo, wie er offenbar genannt wurde – ein kleines Vermögen mit Immobiliendeals gemacht, war damit aber erst erfolgreich geworden, nachdem er Merle geheiratet und angefangen hatte, das ihr vererbte Geld zu investieren.
Jan klickte eines der vielen Fotos an, die die beiden nebeneinander zeigten, und betrachtete es eine Weile. Lange kupferrote Haare, porzellanweiße Haut, weit auseinanderstehende, helle Augen.
Jan klickte sich durch eine ganze Flut von Bildern des Paares. Auf den meisten trugen Merle und Franjo Abendgarderobe, er lachte strahlend in die Kamera, während sie oft eher bemüht lächelte, als fühle sie sich unbehaglich vor der Linse. Immer wieder tauchten auch Schnappschüsse auf, die die beiden mit irgendeinem von Deutschlands berühmtesten Schauspielern zeigte. Meist standen die Schauspieler zwischen ihnen und hatten beiden freundschaftlich die Arme um die Schultern gelegt.
Nach ein paar Minuten der Recherche war Jan klar geworden, dass das glamouröse Ehepaar offenbar nur einen Teil seines Lebens in Berlin verbrachte, die andere Hälfte in wechselnden Orten auf der ganzen Welt. Er fand einen Bericht über ihre Jacht Melody , die in Saint-Tropez im Hafen lag, einen über ein Chalet in der Schweiz und mehrere über eine ausgedehnte Weltreise, die die beiden vor ein paar Jahren unternommen hatten. Und er fand mehrere Artikel über Franjos Kunstsammlung. Anders als viele zu Geld gekommene Menschen, die ihr Vermögen in zeitgenössischer Kunst anlegten, sammelte Franjo Losinger offensichtlich archäologische Funde, deren wertvollste Stücke er in einer öffentlichen Ausstellung in Berlin zu präsentieren gedachte. Die geplante Vernissage sollte am Mittwoch in der kommenden Woche stattfinden, und in einem Interview sagte Losinger, er sei mächtig stolz darauf, seine Schätze erstmals der Öffentlichkeit präsentieren zu können, und das ausgerechnet am zwanzigsten Jahrestag der Gründung seiner Firma.
»Tja«, murmelte Jan. »Die Neuigkeiten, die die Kollegen für dich haben, werden alles andere als angenehm für dich sein, fürchte ich.«
Um sich ein noch detaillierteres Bild von dem Mann zu machen, klickte er einen schon mehrere Jahre alten Artikel aus einem Archäologie-Magazin an und überflog ihn. Der Autor schrieb mit einer Mischung aus Bewunderung und Ärger über all die Schätze, die Franjo in seinem Berliner Stadthaus hortete. Dem Artikel nach hatte Franjos Sammlung kein eigentliches »Sujet«, abgesehen davon, dass die Stücke, die er auf Auktionen erwarb, in irgendeiner Weise sensationell sein mussten. Offenbar hatte er sich vor ein paar Jahren erdreistet, beim Landesmuseum für Vorgeschichte in Saale anzufragen, ob er die Himmelsscheibe von Nebra erstehen könne, war damit aber zur Schadenfreude des Redakteurs gescheitert.
Auf dem Rückweg von Hallig Hooge erhielt Laura eine Nachricht von Jan. Leichenfund im Watt. Komme vermutlich später. Warte nicht auf mich. KJ Das KJ stand für »Kuss, Jan«.
Sie entschied sich, das eigentlich zum Abendessen geplante Chinakohl-Wokgericht zu verschieben und später einfach ein paar belegte Brote zu machen, wenn er zu Hause war. Dann kümmerte sie sich um die allabendlichen Pflichten: Als Erstes checkte sie die Buchungen, die heute reingekommen waren, und beantwortete die Fragen von unentschlossenen Interessenten. Einer Familie schrieb sie auf ihre Frage hin, dass die Treppe in der von ihnen bevorzugten Ferienwohnung Deichblick nicht mit einem Kindergitter ausgestattet war, und einem offenbar älteren Ehepaar erklärte sie per E-Mail, dass es leider nicht möglich war, nur für zwei Nächte eine Wohnung zu mieten. Dann machte sie sich daran, die Gästezahlen des letzten Monats zu statistischen Zwecken an das Land zu melden, und ging anschließend die Ponys und Hühner füttern. Es war deutlich zu erkennen, dass der Umzug von Willibald auf die Hallig den Tieren gutgetan hatte. Die beiden anderen Hähne Lasse und Muckel wirkten wesentlich weniger nervös, und auch ihre Hennen schienen entspannter, seit kein junger Konkurrent mehr versuchte, sie für sich zu reklamieren. Muckel umkreiste seinen Harem mit seinem typischen Gockelgehabe, während die Hennen sich beeilten, Laura zum Stall zu folgen.
»Kikeriki!« Eine helle Kinderstimme erklang von der Terrasse der Ferienwohnung Leuchtturmblick .
Laura wandte sich um. Zurzeit wohnte eine Familie aus Hannover in der Wohnung, ein Mann und eine Frau mit einem Kleinkind, bei dem Laura zuerst gedacht hatte, es handle sich um ein Mädchen. Aber der zweieinhalbjährige Knirps mit den schulterlangen blonden Locken hieß Milo und war ein Junge, wie Laura von den Eltern Lars und Helena erfahren hatte. Jetzt lugte Milo durch den hüfthohen Staketenzaun, mit dem sämtliche Terrassen der Ferienwohnungen umgeben waren. Er hatte seine kleinen Händchen rechts und links um je eine der Streben geklammert und presste sein Gesichtchen in einen der Zwischenräume, sodass er auf Laura wirkte, wie ein winziger, aber gut gelaunter Gefängnisinsasse. Er strahlte beim Anblick der Hühner über das ganze Gesichtchen. »Kikeriki!«, wiederholte er.
»Hahn«, korrigierte ihn seine Mutter , eine sportliche Frau, die nun zu ihm auf die Terrasse trat. »Nicht Kikeriki.« Dann schaute sie zu Laura. »Hallo, Laura!«
»Hallo, Helena«, gab Laura zurück. Helena hatte ihr erzählt, dass sie und ihr Mann an der Universität in Hannover arbeiteten, und Laura hatte auch schon mitbekommen, wie intensiv die beiden darauf achteten, dass der kleine Milo umfassend gefördert wurde. Abends, wenn es Zeit war, ins Bett zu gehen, wurde ihm klassische Musik vorgespielt, und vor ein paar Tagen hatte Laura zufällig gehört, wie Lars dem Kind auf der Terrasse vorgelesen hatte, und zwar eine der Herkules-Sagen. Laura war nicht sicher, ob sie das amüsierte oder eher zum Kopfschütteln veranlasste. »Wie war euer Tag?«, fragte sie.
»Toll. Wir waren mit Milo im Wattenmeerhaus, nicht wahr, Schatz?« Während sie antwortete, hob Helena das Kind auf ihre Hüfte, sodass der Kleine jetzt nicht mehr durch die Zaunstäbe spähen musste.
»Kikeriki«, sagte er und deutete auf Lasse, der vollauf damit beschäftigt war, den Becher mit Körnern in Lauras Hand zu fixieren.
»Hahn«, korrigierte Helena erneut reflexartig. »Erzähl doch Laura mal, was du heute alles gesehen hast.«
»Kikeriki«, wiederholte Milo. Dann heftete er den Blick auf Laura. Seine blonden Locken kringelten sich um seine Stirn und sein rundes Kindergesicht. »Hahn«, sagte er sehr ernsthaft.
»Hähne auf dem Deich, Milo?«, sagte Helena im Tonfall einer alten Gouvernante. »Überleg noch mal, mein Schatz. Was waren das für Tiere, die wir auf dem Deich gesehen haben?«
»Hahn.«
Helena schaute ein wenig konsterniert. »Schafe«, korrigierte sie. Sie versuchte, geduldig zu klingen, aber Laura konnte ihr ansehen, dass sie genervt war. »Schafe, mein Schatz.« Dann sah sie Laura an. »Wir haben uns gewundert, warum die Tiere alle mit Farbe besprüht sind. Dient das dazu, sie auseinanderzuhalten?«
Laura nickte. »Jeder Landwirt hat seine eigene Farbe, ja.«
»Essen ist fertig!«, ertönte aus dem Inneren der Wohnung Lars’ Stimme. Gleich darauf erschien sein Gesicht in der Terrassentür. »Ah. Hallo, Laura. Danke für die Eier. Die sind auch bestimmt Bio, oder?«
Genau dieselbe Frage hatte Helena Laura früher am Tag auch schon gestellt, und sie beantwortete sie auch jetzt auf dieselbe Art und Weise: »Ich habe kein Zertifikat dafür, aber du kannst sicher sein, dass unsere Hühner nur Biofutter bekommen. Wie sie leben, kannst du ja sehen. Ich denke, glücklicher und artgerechter geht es nicht.«
Lars sah ganz leicht beunruhigt aus, nickte aber.
Laura amüsierte sich über ihn. Er und seine Frau waren in ihren Augen die typischen wohlhabenden Stadtmenschen, die sonst im Bio-Supermarkt einkauften. Offenbar trauten sie einem staatlichen Biosiegel mehr als dem Wort eines leibhaftigen Menschen.
»Kommt rein, sonst wird das Essen kalt«, bat Lars Helena und Milo.
»Hahn!«, krähte Milo daraufhin. »Kikeriki!«
Laura musste lachen.
Als sie kurz darauf zurück in die Wohnung kam, war Jan immer noch nicht da.
Erst ungefähr eine Stunde später kam er nach Hause. Ihre Hündin Lilly begrüßte ihn so freudig, als sei Jan mindestens eine Woche lang weg gewesen. Laura, die in der Küchentür stand und zusah, wie ihr Göttergatte den aufgeregten Hund kraulte, lachte auf.
»So ausgiebig möchte ich auch mal begrüßt werden«, beschwerte sie sich amüsiert.
Jan richtete sich auf und legte den Kopf schief. Er sah müde und abgespannt aus, aber trotzdem grinste er schelmisch. Dann trat er vor sie hin, legte ihr beide Hände ans Gesicht und begann allen Ernstes, sie hinter den Ohren zu kraulen. »Braves Mädchen«, gurrte er. »Freust du dich so, dass ich wieder da bin, ja?«
Lachend schlug sie seine Hände weg. »Du bist ein Blödmann!« Dann gab sie ihm einen Kuss und sah ihm prüfend in die Augen. »Alles okay?«
Er atmete so tief durch, dass sie wusste, eine Last fiel von ihm ab, die er bis eben verborgen hatte. »Ja.« Er folgte ihr in die Küche, wo der gedeckte Abendbrottisch auf sie wartete, und setzte sich.
»Erzähl!«, forderte sie ihn auf.
Jan berichtete ihr von dem Leichenfund und den Dingen, die im Laufe des Tages geschehen waren. Sie registrierte sehr genau, unter welcher Anspannung er dabei stand. Genau wie bei den letzten beiden Fällen im vergangenen Herbst und im Februar, wirkte er auch heute begierig, sich wieder als Ermittler beweisen zu können, aber diesmal hatte sein Verhalten etwas Grimmiges, das so überhaupt nicht zu seinem sonst eher sonnigen Gemüt passte. Es machte sie nervös.
Sie setzte sich ihrem Mann gegenüber. »Was ist los, Jan?«
Jan senkte den Blick auf seine Hände. Als er Laura wieder ins Gesicht sah, ergriff ihn ein sonderbar vielschichtiges Gefühl. Er empfand Bewunderung für seine Frau, die ihm wieder einmal an der Nasenspitze ablesen konnte, dass ihn etwas umtrieb. Und gleichzeitig machte ihm genau das eine Heidenangst. Ganz kurz kam er sich vor wie ein Verdächtiger, den sie gleich einem intensiven Verhör unterziehen würde. Er wusste, sie würde ihm auch noch den letzten Fetzen seiner Sorgen entlocken, also konnte er sich gleich seinem Schicksal ergeben und ihr reinen Wein einschenken.
»Die Tote hatte dunkelblaue Hämatome am Rücken«, murmelte er. »Abdrücke einer Hand.«
Der Satz stand zwischen ihnen, füllte die gesamte Küche mit einer Anspannung, die Jan beinahe nach draußen an die frische Luft getrieben hätte. Er blieb sitzen und wartete auf Lauras Reaktion.
»So wie bei dieser Frau in der Badewanne damals.« Ihre Stimme war ganz ruhig, aber er sah den Sturm in ihren Meeraugen aufziehen.
Schweigend nickte er.
Sie stand auf, trat an die Küchenzeile. Mehrere Minuten lang wandte sie ihm den Rücken zu und versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Er wusste nicht, ob er zu ihr gehen und sie in den Arm nehmen sollte, aber bevor er zu einem Entschluss gekommen war, drehte Laura sich wieder um. Sie atmete ein letztes Mal tief durch, dann stützte sie sich an der Arbeitsplatte ab. »Was denkst du?«
Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte, versuchte es aber trotzdem. »Ich denke, dass ich dieser Toten hier vielleicht die Gerechtigkeit widerfahren lassen kann, die ich der Frau damals nicht zukommen lassen konnte.« Vor seinem geistigen Auge erschien erneut das Bild der Leiche in der Badewanne. Er war damals der erste Kriminalbeamte gewesen, der zum Fundort der Leiche gerufen worden war. Und er hatte auch die Leitung der Ermittlungen übernommen, als klar geworden war, dass jemand die Frau brutal unter Wasser gedrückt und auf diese Weise getötet hatte. Der Verdacht war schnell auf den Ehemann gefallen.
Und dann …
Er sah, wie Laura den Kopf schüttelte.
»Was?«, fragte er.
Sie stand immer noch an die Arbeitsplatte gelehnt. »Du bist niemandem etwas schuldig.« Sie stieß sich von der Arbeitsfläche ab und trat vor ihn hin. Aus ernsten Augen sah sie auf ihn nieder. »Es war nicht allein deine Aufgabe, den Mörder der Frau zu finden. Das hat dein Team erledigt. Du schuldest dieser Frau gar nichts.« Natürlich hatte sie recht. Seine Kollegen hatten damals den Ehemann überführt und festgenommen. Sie hatten ihn vernommen und ihn zu einem Geständnis bewegt. Der Mann hatte seine Frau in einem Anfall von rasender Eifersucht getötet und war im Anschluss darauf zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden. Alles war gut.
Auch wenn es sich immer noch nicht so anfühlte.
Er spürte Lauras Blick auf sich ruhen. »Es ist nicht dieser Badewannenfall, der dich umtreibt«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Sondern das, was kurz danach passiert ist, stimmt’s?«
Das, was danach passiert war.
Die Katastrophe …
Jan wollte nicht an die Tage und Wochen denken, von denen Laura sprach, aber die Art, wie sie ihn ansah, zwang ihn dazu. Er hatte damals gerade mit den Ermittlungen im Fall der Frau in der Badewanne begonnen, als es in einem von Lauras eigenen Einsätzen zu einem Schusswechsel gekommen war.
Drei Schüsse.
Drei Treffer in Lauras Brust. Ein Tatverdächtiger in einem ihrer Fälle hatte plötzlich eine automatische Pistole gezogen und abgedrückt. Die Tage danach, die Jan auf der Intensivstation an ihrem Bett verbracht und um ihr Leben gefürchtet hatte, verschwammen noch heute in einem dichten Nebel aus Angst, Verzweiflung und namenloser Wut. Nachdem klar gewesen war, dass Laura überleben würde – und der Ehemann der Toten in der Badewanne längst überführt war –, hatte Jan sich wie ein Besessener in die Suche nach dem Schützen gestürzt. Vergeblich. Er war an der Tatsache, dass der Kerl wie vom Erdboden verschluckt war, beinahe kaputtgegangen, was letztendlich auch der Grund dafür gewesen war, warum sie beide irgendwann das Ruhrgebiet verlassen und all diese Dinge hinter sich gelassen hatten. Letztendlich waren sie genau deswegen hierher nach Pellworm gekommen.
Er nickte schweigend. Mit den blauen Malen an Merle von Bodenbachs Rücken konfrontiert zu werden, hatte ihn an den alten Fall und damit auch an die furchtbaren Tage erinnert, in denen Laura in Lebensgefahr geschwebt hatte. Daran, dass der Täter immer noch irgendwo frei dort draußen herumlief …
»Den Schützen von damals konntest du nicht fassen«, hörte er Laura leise sagen. »Aber dieser neue Fall hier hat dich daran erinnert. Darum hast du jetzt dieses starke Gefühl, handeln zu müssen. Das nennt man Übertragung , mein Lieber.« Sie zog ihn in ihre Arme. Sie roch gut.
Sein Verstand sagte ihm, dass sie recht hatte. Und dabei war es total irrational. Trotzdem kam er einfach nicht gegen das Gefühl an, dass Merle von Bodenbachs Tod ihm eine Gelegenheit gab, eine alte, immer noch offene Rechnung zu begleichen.
»Es fühlt sich irgendwie an wie Bedauern«, murmelte er.
»Bedauern?«
»Ja. Ich kann es nicht besser ausdrücken.«
Sie konnte es. Natürlich. »Dir ist klar geworden, dass diese Insel hier nicht die reine Idylle ist, in der du nur noch Verkehrsdelikte zu bearbeiten hast.«
»Und Drittklässlern erklären, dass ein Polizist nicht den ganzen Tag mit gezogener Waffe rumrennt, ja.« Er grinste, aber es fühlte sich unehrlich an. »Nein, ohne Scherz. Das hier ist ja nicht der erste Mord, den wir hier zu ermitteln haben. Trotzdem fühlt es sich erst jetzt so an, als hätte die Brutalität, die wir zurücklassen wollten, mich eingeholt.« Er lauschte in sich hinein. »Und das macht mich wütend.«
»Da hat dir jemand deine Idylle zerstört«, fasste Laura zusammen.
»Irgendwie ja. Ich meine: häusliche Gewalt kommt hier auch vor, das ist ja klar. Trotzdem fühlt sich dieser dritte Fall innerhalb eines knappen Jahres an, als hätte mich das aus einem schönen Traum aufgeweckt, den ich von der Insel hatte.« Er zuckte mit den Schultern. »Und plötzlich fühle ich mich schrecklich naiv, dass ich diesen Traum überhaupt geträumt habe.«
»Ach, Jan.«
Er machte sich von ihr los, zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Weißt du, was gut ist an diesem Fall? Tamme ist auf dem Festland. Diesmal wird er nicht in einem …« Mit den Fingern malte er Anführungszeichen um die Worte. »Spektakulären Mordfall ermitteln und alles durcheinanderbringen.« Er sah Laura an, dass sie ihm seinen plötzlichen Stimmungswechsel nicht abnahm, aber trotzdem ging sie darauf ein. Sie war ebenfalls erleichtert, dass sie beide vom Abgrund zurückgetreten waren.
»Der Arme. Er wird Zeter und Mordio schreien, wenn er davon erfährt.« Sie setzte sich wieder zu ihm. »Wen werden sie auf die Insel schicken, um sich um den Fall zu kümmern?«
Er nahm sich eine Scheibe Brot und begann, sie mit Butter zu bestreichen. »Daniela hat mich gebeten, die Ermittlungen zu leiten. Quasi inoffiziell und zusammen mit Thorsten Herder.«
Laura wusste ebenfalls, dass Thorsten noch jung und unerfahren war. »Okay …«, meinte sie gedehnt. »Ich vermute, du hast es ihr gern versprochen und dich gleich an die Arbeit gemacht.«
Jan zuckte mit den Achseln. »Ein wenig. Mit den offiziellen Ermittlungen kann ich erst anfangen, wenn Thorsten da ist.«
Laura nickte bedächtig. »Und? Was hast du bis jetzt rausgefunden?«
»Die Tote ist Merle von Bodenbach-Losinger. Ich habe die Sekretärin ihres Mannes erreicht und erfahren, dass er auf einer Tagung in München ist. Daniela informiert die Kollegen vor Ort, damit sie ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringen können.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Eine Nacht hat er noch, bevor sein Leben zerfällt«, murmelte er.
Laura hatte die Augen aufgerissen, als er den Namen genannt hatte. »Merle von Bodenbach-Losinger …«
Ihre Überraschung verwunderte ihn. »Ja. Warum schockt dich das so? Jetzt sag nicht, dass du heimlich Klatschzeitungen liest!«
Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Nein. Natürlich nicht. Aber ich war heute bei Katja auf Hooge, und einer ihrer Feriengäste trifft sich dort heimlich mit Merle von Bodenbach.« Sie wirkte konzentriert und nachdenklich. »Merle. Lange knallrote Haare?«
Jan nickte. »Das ist sie.«
Laura biss sich auf die Unterlippe. »Elias Fischer heißt der Mann. Katja vermutet, dass die beiden eine Affäre haben.«
Jan dachte an die Fotos, die er zu Dutzenden im Internet gesehen hatte. Die gequält lächelnde Merle von Bodenbach an der Seite von diesem übertrieben laut auftretenden Franjo. Vielleicht war ja gar nicht Franjo der Mann, dessen Leben morgen in Scherben daliegen würde, sondern dieser Elias Fischer. Spontan empfand Jan so was wie Mitgefühl für den Mann, auch wenn der natürlich einen hervorragenden Tatverdächtigen abgab. »Er wohnt bei Katja?«, hakte er nach.
Laura nickte. »Er ist so ein schlaksiger Gelehrtentyp. Irgendwie unscheinbar.«
»Erzähl mir mehr von ihm.« Jan beugte sich vor, nahm sich ein Stück Käse und legte es auf seine Brotscheibe. In Gedanken ging er durch, was er jetzt tun sollte. Ein Instinkt sagte ihm, dass es besser wäre, gleich nach Hooge zu fahren und mit dem Mann zu sprechen. Aber es war schon spät, er würde dafür einen der Hellmann-Brüder bitten müssen, ihn mitten in der Nacht rüberzufahren, oder gar die Leute von dem Seenotretter auf Nordstrand. Vielleicht sollte er also doch lieber bis morgen früh warten, bevor er mit diesem Elias Fischer redete.
Am Abend fand die kleine Feier statt, zu der außer Tamme nur noch zwei weitere Verwandte von ihm kamen, Bente und Johannes. Sie waren die Söhne von Onkel Krischens verstorbener Tochter und damit so weitläufig mit Tamme verwandt, dass er immer wieder ins Grübeln kam, wenn er sagen sollte, in welchem Verwandtschaftsgrad sie zu ihm standen. Seine Freundin Inka verdrehte dann immer die Augen: »Großcousins, Tamme, sie sind deine Großcousins! Das ist doch nicht so schwer!«
Aber er fand das einfach sauschwer zu merken. Kein Wunder. Er hatte ja schon Probleme, wenn er auch nur erklären sollte, was ein Cousin war. Großcousin! Watt’n Quatsch .
Viel wichtiger war, dass Bente ein fürchterlicher Langweiler war, der den ganzen Abend von nichts anderem erzählte als von Geld und möglichen Anlagestrategien. Mit Johannes konnte man wenigstens noch über Autos reden, und Tamme fachsimpelte mit ihm über seinen VW T1, der auf Pellworm bekannt war wie ein bunter Hund. Aber nachdem sie eine Weile über die beste Möglichkeit, an Ersatzteile zu kommen, diskutiert und sich danach ein wenig über Sinn und Unsinn von E-Autos gestritten hatten, versiegte auch dieses Gespräch, sodass Tamme froh war, als sich irgendwann sein Handy bemerkbar machte.
Inka rief an.
Er ignorierte das spöttische Grinsen seiner Cousins, entschuldigte sich bei Onkel Krischen und seinen beiden … Großcousins und verließ das Zimmer. Auf dem Flur nahm er den Anruf an, aber der Empfang war so schlecht, dass die Verbindung sofort wieder abriss. Also ging er nach draußen und rief zurück. Während die Leitung aufgebaut wurde, griff ein kühler Wind nach ihm, und er drehte ihm den Rücken zu. Jemand hatte mit Farbe eine naive Blumenwiese auf die Fassade des Heimes gemalt. Eine dicke, breit lachende Hummel flog von einer Blüte zur nächsten und reckte Tamme den gestreckten Daumen entgegen. Ihr Grinsen hätte besser zu einem Kindergarten gepasst als zu einem Seniorenheim, dachte er.
»Hey!«, meldete Inka sich. »Ich dachte schon, du willst nicht mit mir reden.«
»Doch. Aber drinnen gab es keinen Empfang.«
»Ah. Okay. Alles fein bei dir?«
Er erzählte ihr ein wenig von der Feier, von Bentes Anlagetricks und seinem Gespräch über E-Autos mit Johannes.
Sie lachte. »Klingt nach einer richtig tollen Party! Wie war dein Termin beim Radio?« Sie war die Einzige, der er von dem Interview erzählt hatte, und sie hatte ihm ein paar Tipps gegeben, wie er sich vor dem Mikro verhalten sollte. Einer davon war gewesen: Denk dran, wenn die Reporterin nett zu dir ist, will sie brisante Informationen aus dir rausholen. Er biss sich auf die Lippe, als er daran dachte. Sollte er ihr von seinem dummen Gequatsche über Jan erzählen?
Besser nicht. Vielleicht verwendete diese Antje ja gar nichts davon, dann hätte er sich völlig umsonst Inkas Spott ausgesetzt. Und vor allem: Er hätte ihr völlig umsonst Sorgen gemacht. Reichte ja, wenn er sich damit rumquälte, dass er Jan vielleicht schlimmen Ärger verursacht hatte. Also antwortete er nur ganz schlicht: »Gut.«
»Junge, Junge, kau mir bloß nicht das Ohr ab!« Man konnte hören, dass Inka das mit einem Grinsen sagte. Sie wusste, dass er am Telefon noch wortkarger wurde als sowieso schon. Mit dir zu telefonieren ist wie Zähne ziehen , hatte sie erst kürzlich zu ihm gesagt und ihm geschworen, ihn nie wieder anzurufen.
»Warum rufst du an?«, fragte er jetzt.
»Hast du schon gehört? Im Watt vor dem Leuchtturm wurde eine Frauenleiche gefunden.«
»Nicht dein Ernst!« Er hatte das Bedürfnis, sich hinzusetzen, aber leider gab es hier nirgendwo eine Bank. Also lehnte er nur den Unterarm an die Hauswand und stützte sich ab.
»Doch. Ich weiß das von Gudrun Hamkens.«
Gudrun war aus Tammensiel. Das wusste Tamme natürlich. Und er wusste auch, wie gut auf Pellworm der Buschfunk funktionierte. Vermutlich wusste jeder auf der Insel schon seit Stunden von der Toten. Und er erfuhr jetzt erst davon!
»Weiß man schon, wer die Frau ist?«, fragte er, auf einmal ganz professioneller Ermittler. Vergessen war die kleine Feier da drinnen, vergessen waren Bente mit seinen langweiligen Geldgeschichten und die E-Autos. Eine feine Gänsehaut überzog Tammes Arme und kroch bis hinauf unter seinen Haaransatz im Nacken.
»Keine Ahnung.« Inka wartete, was nun kommen würde. Als Tamme schwieg, schob sie nach: »Was wirst du jetzt tun?«
Was für eine Frage! Tamme sah auf die Uhr. Mist! Die letzte Fähre legte in fünf Minuten ab, die würde er auf keinen Fall mehr erreichen. Er knirschte mit den Zähnen, weil das bedeutete, dass er wieder dort reingehen und mit seinen beiden Cousins – Großcousins! – reden musste. »Ich nehme gleich morgen die erste Fähre«, sagte er.
»Warum? Ich dachte, du wolltest ein paar Tage auf dem Festland bleiben.«
Mist. Das stimmte. Eigentlich hatte er vorgehabt, seinen Besuch auf dem Festland mit ein paar längst fälligen Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt zu verbinden. Aber das würde warten müssen, denn schließlich brauchte Jan seinen besten Mann, wenn er in diesem Fall mit der toten Frau aus dem Watt ermitteln musste! Er verzichtete darauf, Inka das zu sagen, aber an ihrem leisen Lachen konnte er hören, dass sie ahnte, was in ihm vorging. Vielleicht hatte sie ihn ja sogar aus genau diesem Grund angerufen. Sie wusste, wie gern er Jan bei seiner Arbeit half.
Er lächelte in sich hinein.
Seine Inka.
»Wir sehen uns morgen«, sagte er.
»Ja. Ich freue mich. Jetzt feiere noch ein bisschen.«
»Mok ik«, sagte er und legte auf.