Dienstag

Am nächsten Morgen schaffte Jan es endlich, bei Alex anzurufen und für den frühen Nachmittag einen Termin zu vereinbaren, um einen Blick auf die gestohlenen Fotos zu werfen. Er hatte kaum aufgelegt, als sich Thorsten meldete. Der DNA -Abgleich hatte tatsächlich ergeben, dass sich unter Merle von Bodenbachs Fingernägeln Haut von Elias Fischer befunden hatte.

»Ich habe daraufhin mit der Vermieterin der beiden auf Hallig Hooge telefoniert, einer gewissen Katja Just«, erklärte Thorsten. »Sie hat Fischers Aussage insofern bestätigt, dass sie meinte, es sei bei den beiden öfter mal etwas lauter zur Sache gegangen.«

»Okay. Sie bestätigt also Fischers eigene Aussage. Damit ist die übereinstimmende DNA also auch kein Beweis, sondern allenfalls ein Indiz.«

»Genau. Wenn ich damit zum Staatsanwalt gehe, wird der mir lang und breit erklären, wie ein guter Anwalt Fischer vor Gericht raushauen wird. Wir brauchen was Handfesteres.«

Was Handfesteres als Haut unter den Fingernägeln des Opfers , dachte Jan. Absurd. Dieser Fall war irgendwie weitaus zäher als die anderen beiden, in denen er bisher hier auf der Insel hatte ermitteln müssen.

Es klopfte an seiner Bürotür. »Moment noch!«, rief er.

»Wir sind hier fertig«, meinte Thorsten. »Ich melde mich wieder, wenn es Neues gibt.«

»Laura hat die Vermutung geäußert, dass Merle vielleicht noch ein weiteres Schmuckstück mit einem USB -Stick besessen hat. Ich dachte mir, ich suche doch noch mal danach.«

»Ach. Da fällt mir ein: Als ich mit Frau Just telefoniert habe, habe ich sie gleich auch noch gefragt, ob sie vielleicht in der Ferienwohnung beim Putzen einen USB -Stick gefunden hat. Hat sie nicht. Die Fahrt zur Hallig kannst du dir also sparen.«

Jan wollte etwas erwidern, aber in dem Moment wurde die Bürotür ein Stück aufgeschoben, und eine Frau streckte den Kopf herein.

»Ich habe gesagt, einen Moment noch«, erinnerte Jan sie.

»Kümmere du dich um deine Inselvergnügungen«, spottete Thorsten. »Wir sprechen wieder.«

Als Jan auflegte, hatte seine Besucherin, eine etwas matronenhaft aussehende Frau in Windjacke und mit kariertem Rock, die Tür schon ganz aufgeschoben und stand mitten im Raum.

»Ich verstehe Sie also richtig«, sagte er ein paar Minuten später zu ihr. »Sie möchten Anzeige erstatten gegen eine Frau, deren Hund Ihnen unten am Hafen das Fischbrötchen gekl… gestohlen hat.«

»Ein Labrador«, bestätigte die Frau. Ihren Namen hatte sie als Carmen Wagner angegeben. »Es war ein schwarzer Labrador! Und er hat mir das Brötchen heimtückisch und hinterhältig aus der Hand geschnappt.«

Jan konnte nicht anders: Er fragte sich, ob er in den letzten Tagen vielleicht das Opfer eines groß angelegten Streiches mit versteckter Kamera wurde. Aber er hatte seit seinem Dienstantritt auf dieser Insel schon mit einer Menge merkwürdiger Menschen zu tun gehabt, und er hatte gelernt, in jedem Fall gute Miene zum manchmal lächerlichen Spiel zu machen.

»Ein schwarzer Labrador.« Jan starrte auf die Startseite seines Vorgangsbearbeitungsprogramms, die er aufgerufen hatte, als die Frau sich mit der vorwurfsvoll geäußerten Aussage, dass sie jemanden anzeigen wolle, hingesetzt hatte. Bisher blinkte der Cursor seines Computers im ersten Eingabefeld, in dem man die Auswahl treffen konnte, ob es sich um einen Bericht, eine Straftat oder um diverse andere Arten von möglichen Vorgängen handelte. »Hat der Hund Sie denn beim, ähm, bei dem heimtückischen und hinterhältigen Diebstahl verletzt?«

Sie blinzelte erstaunt. »Nein, wieso?« Sie blickte auf ihre rechte Hand, als müsste sie sich vergewissern, ob das wirklich der Wahrheit entsprach.

»Weil eine Anzeige nur Sinn macht, wenn Sie über den Wert eines einfachen Fischbrötchens hinaus geschädigt wurden«, erklärte Jan ihr geduldig.

Carmen Wagner überlegte. »Na ja«, meinte sie dann gedehnt. »Ich habe mich erschrocken, als das Biest einfach im Vorbeigehen das Brötchen aus meiner Hand geschnappt hat. Wer sagt denn, dass ich dabei keinen irreparablen psychischen Schaden erlitten habe?«

Und wer sagt mir, dass ich hierbei nicht irreparabel psychisch geschädigt werde? , fragte sich Jan.

Carmen Wagner schaute noch immer auf ihre Hand. Dann fiel ihr Blick auf ihre schwarze Hose. »Außerdem hat dieses Biest mich angesabbert. Wissen Sie, wie schwer Hundesabber aus schwarzer Kleidung wieder rausgeht? Und meine Hose war teuer, sie …«

Jan hatte das Bedürfnis, mit dem Kopf auf die Schreibtischplatte zu schlagen. »Einen Moment!«, unterbrach er die Frau. »Das heißt also, Sie kennen sich mit Hunden aus?«

»Wieso?« Wieder blinzelte Frau Wagner verwundert.

»Sie sagten gerade, sie wüssten, wie schwer Hundesabber aus schwarzer Kleidung rausgeht. Das bringt mich zu der Vermutung, dass Sie Erfahrung mit Hunden haben.«

»Wir haben selbst einen, ja.«

»Ah.« Jan lächelte hinterhältig interessiert. »Wie schön! Was für eine Rasse ist das denn?«

»Ein Rottweiler.«

Langsam lehnte Jan sich auf seinem Stuhl zurück. Das hier fing doch tatsächlich an, ihm Spaß zu machen. »Nur noch einmal für mich zum Verständnis. Sie sind Besitzerin eines Rottweilers, also einer Hunderasse, die meines Wissens nach von vielen Menschen als Kampfhund gesehen wird. Und Sie wollen hier eine Anzeige aufgeben, weil ein anderer Hund Ihnen irreparable psychische Schäden zugefügt hat, indem er Ihnen – ich zitiere: im Vorbeigehen ein Brötchen aus der Hand geschnappt hat.« Er ließ seine Worte bedeutsam in der Luft hängen.

Frau Wagner dachte nach. »Nun ja, vielleicht …« Sie hielt inne, überlegte fieberhaft.

Jan ließ sie überlegen, aber als von ihr nichts mehr kam, meinte er sanft: »Ich würde vorschlagen, Sie gehen jetzt dort raus, suchen die Besitzerin dieses schwarzen Labradors und bitten sie, Ihnen ein neues Fischbrötchen zu kaufen.«

»Hat sie mir ja angeboten!«

Warum zum Henker bist du dann hier? , schoss es Jan durch den Kopf. Völlig unverbindlich und freundlich klickte er das Anzeigenformular zu, ohne es zu speichern. Nach der Aktion gestern mit der behaupteten Fahrerflucht hatte er nicht die geringste Lust, die Staatsanwaltschaft mit einem weiteren Nonsensfall zu belästigen. »Na also! Dann ist doch alles gut, oder?«

»Na ja. Ich …«

»Auf Wiedersehen, Frau Wagner. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt auf Pellworm.«

Als die Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank er zurück auf seinen Stuhl und atmete auf. Leute gab es! Er schüttelte noch den Kopf über die Frau, als kurz und kräftig an seine Tür geklopft wurde.

Ohne sein »Herein!« abzuwarten, streckte Tamme den Kopf ins Zimmer. »Moin, Herr Kommissar!«

Jan stöhnte. »Du hast mir gerade noch gefehlt!«, ächzte er.

Okay. Offenbar hatte Jan wieder mal einen seiner schlechten Tage, dachte Tamme und beschloss, den missmutigen Tonfall vom Herrn Kommissar zu überhören. Er war schließlich in einer wichtigen Angelegenheit hier. Nachdem Jan wegen seines unseligen Interviews so bannich viel Ärger gekriegt hatte, hatte er selbst sich wirklich bemüht, die Füße still zu halten Aber die Sache mit diesem Ben Müller ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Und heute Morgen dann hatte er es nicht mehr ausgehalten. Er musste dringend mit Jan über den Mann reden! Immerhin war der Typ ein Auftragsmörder! Und er trieb hier auf der Insel sein Unwesen! Dieses Wissen musste er unbedingt mit Jan teilen, und das umso dringender, weil der Arme mit seinen eigenen Ermittlungen mal so gar nicht vorankam. Also hatte Tamme sich in seinen guten, alten Fiete gesetzt und war schnurstracks hierher gedüst.

Und da war er nun.

»Musst mich nicht schon wieder Dösbaddel nennen«, gab er auf Jans nicht besonders freundliche Begrüßung gutmütig zurück.

Jan blies sich gegen die Stirn. »Entschuldige. Ich hatte nur eben eine Dame hier, die wegen nichts und wieder nichts eine Anzeige aufgeben wollte. Manchmal denke ich, ich habe es hier nur noch mit schrulligen Typen zu tun.«

»An schrullige Typen solltest du dich langsam mal gewöhnt haben«, sagte Tamme, zog sich einen der Besucherstühle heran und setzte sich.

»Bitte, nimm doch Platz«, murmelte Jan, riss sich dann aber sichtlich zusammen. »Was soll’s! Was kann die Polizei, dein Freund und Helfer, denn für dich tun?«

Tamme überlegte. Jetzt musste er ’n büsschn strategisch vorgehen, sonst würde Jan sofort wieder dichtmachen. Vorsichtig sagte er: »Ich wollte mich nur mal erkundigen, ob du in deinem Fall vorankommst.« Weil Jan sofort wieder aufbrauste, hob er abwehrend die Hände. »Nur so als Freund, nicht als dein Assistent!«

»Weil?«, fragte Jan, und ausnahmsweise redete er heute mal nicht in Rätseln, sodass Tamme sofort wusste, was er hören wollte.

»Weil ich nicht dein Assistent bin«, sagte er brav.

Jan lächelte. »Sehr gut. Also, als Freund: Wir ermitteln in alle Richtungen.«

»Das ist ein Pressekonferenzsatz!«, beschwerte Tamme sich. »Dann kannst du ja gleich ›Kein Kommentar!‹ sagen.«

»Stimmt. Mir ist die Gefahr zu groß, dass mein Freund …«, Jan grinste ihn fies an, »… zum nächsten Radiosender rennt und rausposaunt, wie der Stand der Ermittlungen ist.«

Das saß! Tamme wurde rot. Und ihm wurde plötzlich bewusst, dass sie, seit Jans Chefin da gewesen war, noch gar nicht wirklich über dieses unselige Interview gesprochen hatten. Ob Jan immer noch sauer auf ihn war? Es klang auf jeden Fall so.

»Entschuldigung«, murmelte Tamme kleinlaut. »Wegen dem Interview, mein ich. Das war wirklich dämlich von mir.«

»War es.«

»Aber du kriegst keinen Ärger deswegen.«

»Stimmt.«

»Julia hat mir gesagt, dass mein Auftritt bei deiner Chefin das geschafft hat.«

Diesmal zog Jan nur die Augenbrauen hoch.

»Bist du noch sehr böse?«, fragte Tamme. Er saß regelrecht auf heißen Kohlen, während Jan in sich hineinlauschte. Warum überlegte er so lange? Tamme war total erleichtert, als Jan schließlich verneinte.

Heilfroh blies er die Backen auf. »Na, dann is ja gut.« Er sammelte sich. Das, was er jetzt zu sagen hatte, würde Jan nicht gefallen, aber es musste raus. »Wegen dem Auftragsmörder …«, sagte er zögernd.

Und dann überraschte Jan ihn. »Wen hast du in Verdacht?«, fragte er.

Dass er überhaupt nicht genervt oder, schlimmer noch, sogar belustigt reagierte, ließ Tamme die Kinnlade herunterklappen. Konnte es sein, dass der Herr Kommissar endlich vernünftig wurde und einsah, was er an ihm hatte? Tamme konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

Es war ein sonderbares Gefühl für Jan, dieses Gespräch mit Tamme zu führen und dabei ausnahmsweise einmal einer Meinung mit ihm zu sein. Mittlerweile hatten sie eine Reihe Indizien sowohl gegen Fischer als auch gegen Franjo Losinger, und auch Thorsten begann langsam, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Losinger könne einen Mord in Auftrag gegeben haben. Aber Jan würde den Teufel tun und das Tamme auf die Nase binden. Zwar war er sich relativ sicher, dass sein Möchtegernassistent seine Lektion gelernt hatte und nie wieder öffentlich über seine eingebildete Polizeiarbeit schwadronieren würde. Aber Vorsicht war immer noch besser als Nachsicht. Und Polizeirätin Luttmann hatte mehr als deutlich klargemacht, dass er Tamme in Zukunft kurzhalten sollte.

Trotzdem interessierte ihn Tammes Meinung in Bezug auf diesen Auftragsmörder, denn bei aller Sturheit und intellektuellen Schlafmützigkeit war Tamme auch kein Volltrottel. Noch dazu: Er war viel auf der Insel unterwegs und sah und hörte so einiges, was Jan verborgen blieb.

»Der Mann heißt Ben Müller«, sagte Tamme.

»Aha.« Etwas Klügeres fiel Jan auf Anhieb nicht ein. »Und wer, bitte schön, ist Ben Müller?« Er hatte den Namen schon mal gehört, konnte sich aber gerade nicht daran erinnern, wo das gewesen war.

»Na, der Typ letzte Woche bei Inkas Workshop.«

»Ach, der mit den besonderen Qualitäten?« Jan dachte daran, wie Inka von ihrem gut aussehenden Workshopteilnehmer geschwärmt hatte – und daran, dass sie ihn selbst in diesem Zusammenhang als armen, von der Natur benachteiligten Mann bezeichnet hatte.

Über Tammes Miene flog ein Schatten. »Woher weißt du von den Qualitäten von dem Blödmann?«

»Na, hat …« Jan unterbrach sich. »Egal!« Sicher war es keine allzu gute Idee, Tamme auf die Nase zu binden, dass das mit den besonderen Qualitäten ein Zitat von Inka war. Es war sonnenklar, dass Tamme eifersüchtig auf diesen Ben Müller war. Weswegen er ihn Jan mit Sicherheit auch hier als Täter präsentierte. Tamme neigte dazu, seine eigenen Antipathien gegen bestimmte Menschen mit dem aktuellen Fall in Zusammenhang zu bringen.

»Du solltest diesen Müller mal durchleuchten«, sagte er jetzt.

»Ihn durchleuchten.«

»Ja. In eurem System nachgucken, ob was gegen ihn vorliegt, und all den Kram machen, den du sonst mit Verdächtigen machst.«

»Okay.« Jan seufzte. Tamme würde sich einfach nie ändern, das war so sicher, wie auf Ebbe wieder Flut folgte. Beides musste man als Naturgesetz einfach akzeptieren und damit leben. »Lassen wir mal außen vor, dass du nicht einfach jeden, der dir gegen den Strich geht, des Mordes verdächtigen kannst. Und auch, dass ich nicht einfach jeden Bürger ohne Anfangsverdacht durch das System schicken kann. Rein hypothetisch: Weißt du denn, wo dieser Ben Müller wohnt, damit ich das tun könnte? Immerhin ist der Name Ben Müller nicht eben selten.«

Tamme schüttelte den Kopf. »Nee. Nicht, wo er zu Hause ist, jedenfalls. Aber hier auf der Insel wohnt er im Gud Jard Ressort. Inka hat ihn schon zweimal da abgeholt und ist mit ihm essen gegangen.«

Oha! , dachte Jan. Wenn das stimmte, dann hatte Tamme offenbar allen Grund, eifersüchtig auf diesen Ben Müller zu sein. »Du machst dir Sorgen um eure Beziehung, oder?«, fragte er geradeheraus.

Tamme schaute ihm ebenso geradeheraus ins Gesicht. »Würdest du auch, wenn deine Laura mit Mr. Universum persönlich ausgehen würde.«

Vermutlich , dachte Jan. »Soll ich Laura mal bitten, dass sie mit Inka redet?«

Tamme wirkte über alle Maßen erleichtert. »Jo«, sagte er. »Und dann durchleuchtest du den Killer, oder? Ich bin ganz sicher, dass der dieser Merle ins Watt gefolgt ist und sie umgebracht hat.«

Tamme war keine zwanzig Sekunden aus dem Büro, als das Letzte, was er gesagt hatte, ein paar Mosaiksteinchen in Jans Kopf an ihren Platz fallen ließ.

Jemand war Merle ins Watt gefolgt und hatte sie umgebracht …

Merles Vater vermutete, dass Merle in einem Tagebuch festgehalten hatte, dass sie um ihr Leben fürchtete, aber besagtes Tagebuch war nirgends zu finden.

Sein Zeuge, dieser Hubertus Ohler, der die Leiche gefunden hatte, hatte ausgesagt, dass er Merle am Unterfeuer gesehen hatte. Allein.

Das Unterfeuer …

Sie hat an dem Betonsockel gelehnt. Ich hab noch gedacht, sie sieht aus, als müsste sie sich ein bisschen ausruhen. Das hatte Ohler gesagt.

Und wenn Merle sich nicht ausgeruht hatte? Wenn sie geahnt hatte, dass sie in Lebensgefahr war und ihr Tagebuch versteckt hatte?

Jan sprang mit einem Satz auf die Füße und riss seine Bürotür auf. »Tamme!«, schrie er in Richtung Ausgang.

»Schrei nich so, bin doch nich taub!«, rief Tamme aus Richtung Julias Büro. Er lehnte im Türrahmen und futterte einen von Julias selbst gebackenen Muffins.

Jan empfand diese besondere Art von Peinlichkeit, die entstand, wenn man völlig unnötig gebrüllt hatte. »Ich brauche mal deine Hilfe.«

Über Tammes Gesicht glitt ein Strahlen.

»Wie ist der Wasserstand unten im Süden der Insel jetzt gerade?« Jan hätte das nachschauen können, aber so war es einfacher. Tamme konnte man zu jeder nachtschlafenden Stunde wecken, und er würde einem die Pegelstände von Ebbe und Flut vermutlich bis auf zehn Zentimeter genau sagen können.

»Niedrigwasser«, antwortete er denn auch erwartungsgemäß und wie aus der Pistole geschossen.

»Sehr gut!« Jan winkte Tamme hinter sich her. »Komm mit! Wir müssen was überprüfen.«

Der Betonsockel des Unterfeuers ragte bei Niedrigwasser über zwei Meter aus dem schwarzen Boden des Watts, und die Metallkonstruktion darüber strebte vor Jan und Tamme in den Himmel. Mehrere Möwen hockten auf den waagerechten Streben und blickten interessiert auf die beiden Menschen nieder, die da plötzlich in Gummistiefeln unter ihnen aufgetaucht waren. Eine von ihnen stieß ein paar Laute aus, die in Jans Ohren wie Geschwätz klangen.

Guck mal, die beiden da! Wollen wir denen auf die Jacke schieten?

Er schob den albernen Gedanken fort und zog zwei Paar Einweghandschuhe aus der Tasche. Falls er mit seiner Vermutung richtig lag und Merle von Bodenbach kurz vor ihrem Tod ihr digitales Tagebuch hier irgendwo am Unterfeuer versteckt hatte, wollte er eventuelle Spuren daran nicht kontaminieren. Er hatte Tamme auf dem etwa einen Kilometer langen Fußmarsch hierher zweimal erklärt, wie wichtig das war.

»Okay«, meinte er jetzt zu ihm, während er ihm ein Paar Handschuhe reichte. »Du hast verstanden, was ich dir gesagt habe?«

»Bin doch nicht schwer von Begriff«, grummelte Tamme, nahm die Handschuhe und streifte sie über. Was nicht ganz einfach war, denn seine riesigen Hände passten gerade einmal so hinein.

Jan nickte zufrieden. »Gut. Dann lass uns mal suchen.« Seit Merle gestorben war, waren mehrere Tage vergangen. Ebbe und Flut hatten den Sockel mehrfach freigelegt und wieder überspült. Aus diesem Grund war es in Jans Augen eher unwahrscheinlich, dass Merle den Stick irgendwo am Sockel versteckt hatte. Jan packte die Sprossen der Eisenleiter, die seitlich an dem Betonpodest nach oben führte, und zog sich hoch. In der nächsten Sekunde stand er schon oben auf dem Podest und hielt sich an einem der vier Metallpfeiler fest. Den Möwen, die ihn und Tamme bisher mit schief gelegten Köpfen beobachtet hatten, kam er nun doch ein bisschen zu nahe, und sie flatterten auf. Eine von ihnen verlieh ihrer Empörung durch einen dicken weißen Klecks Ausdruck, der nur Millimeter an Jans Schulter vorbei auf dem Beton neben ihm landete. »Daneben!«, rief er der Möwe nach, die das aber nicht zu betrüben schien. Mit lautem Geschrei drehte das kleine Geschwader in Richtung Insel ab.

Die vier Pfeiler des Unterfeuers waren schnell abgesucht. Nichts. Jan richtete den Blick auf die schmale Leiter, die auf die Plattform an der Spitze der Konstruktion führte und früher der Wartung des Leuchtfeuers gedient hatte. Um Unbefugte abzuhalten, begann die Leiter erst auf Höhe von über zwei Metern. Jan runzelte die Stirn. Er war sportlich, aber sich nur mit der Kraft seiner Arme auf die untersten Sprossen hochzuziehen, würde ihm vermutlich trotzdem schwerfallen. Und Merle von Bodenbach war noch ein ganzes Stück kleiner gewesen als er. Nein, mit seiner Hoffnung, dass der Stick hier irgendwo versteckt war, lag er vermutlich völlig falsch, allerdings war Merle von Bodenbach Freeclimberin gewesen. Neue Hoffnung ergriff ihn, denn wenn die Frau klettern konnte, dann hätte sie vielleicht eine Möglichkeit gefunden, bis ganz zum Leuchtfeuer hinauf zu gelangen. Was bedeutete: Er würde jemanden kontaktieren müssen, der für den Erhalt der Anlage zuständig war und der ihn offiziell nach oben lassen konnte.

»Nu?« Tamme tauchte plötzlich hinter ihm auf. Jan war zu sehr in Gedanken versunken gewesen, um mitzubekommen, dass auch er den Sockel hinaufgeklettert war. Bevor Jan ihm erzählen konnte, welche Gedanken ihm soeben durch den Kopf gegangen waren, streckte Tamme sich. Mit seiner Größe von fast zwei Metern reichte er locker an die unteren Sprossen der gesicherten Leiter. Und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er etwas gefunden hatte und es mit einem zufriedenen Lächeln präsentierte: eine dünne Silberkette mit einem Herzmuschelanhänger daran.

»Die hatte sie um eine der unteren Sprossen gewickelt«, sagte er.

Nach der erfolgreichen Suche kehrten Jan und Tamme gemeinsam zur Polizeistation zurück, allerdings nicht ohne einen Abstecher zum Paulinenhof, von wo Jan seinen privaten Laptop holte. Die Rechner im Amt – und das schloss seinen eigenen Polizeicomputer ein – besaßen keine Möglichkeit, USB -Sticks auszulesen.

Als Jan den Laptop auf seinem Schreibtisch aufbaute und den Stick einsteckte, fragte Tamme: »Müssten das nicht eigentlich deine Kollegen in Flensburg machen?«

Er warf ihm nur einen Blick zu.

»Bin schon still!« Tamme grinste.

Jan klickte den Stick an. Er enthielt nur eine einzige Datei, eine Art Programm, das sich als das erwähnte Tagebuchprogramm entpuppte. Eine Textdatei öffnete sich automatisch, und Jan begann zu lesen.

Das hier ist mein erster Eintrag. Heute ist der 3. März, ich bin zu Hause in unserer Küche. Franjo ist nicht da, darum nutze ich die Gelegenheit. Ich schreibe das, was ich zu sagen habe, mit Absicht auf einen portablen Tagebuchstick, damit Franjo nichts davon erfährt.

Jan setzte sich aufrechter hin. Das begann vielversprechend.

Die Textdatei war insgesamt knapp achtzig Seiten lang. Das alles durchzulesen, würde eine Weile dauern, und er wollte auf keinen Fall, dass Tamme dabei die ganze Zeit neben ihm saß.

»Hast du nicht noch was anderes vor?«, fragte er ihn.

Zu seiner Verblüffung stand der Nordfriese diesmal überhaupt nicht auf der langen Leitung. »Nö«, antwortete er. »Aber keine Sorge, ich lass dich schon allein!«

Jan wartete, bis er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, dann las er weiter. Das meiste, was Merle geschrieben hatte, warf ein überaus interessantes Licht auf ihre Beziehung zu ihrem Mann. Vor allem bestätigte es das, was Losinger der Berliner Beamtin gegenüber ausgesagt hatte: Merle und Franjo führten in beidseitigem Einvernehmen eine offene Ehe. Damit war Losingers Motiv für den Mord – Eifersucht – so gut wie hinfällig. Zähneknirschend las Jan weiter. Erst bei einem Eintrag, den Merle vor wenigen Tagen geschrieben hatte, merkte er auf.

Ich habe Angst, dass mir was zustoßen wird. Ich weiß, das klingt paranoid, aber das bin ich nicht. Wenn Franjo erfährt, was ich rausgefunden habe, wird er mich zum Schweigen bringen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Weil ich zu viel weiß über all diese Sachen in seinem Kabinett. Und über das, was er tut. Verdammte Historiker! Wenn ich all die Jahre nur nicht so verflixt naiv gewesen wäre!

Damit endete nicht nur der Eintrag, sondern auch das gesamte Tagebuch.

Jan nahm die Hand von der Maus und rieb sich den Nacken.

All diese Sachen in seinem Kabinett. Was bedeutete das? Was hatte Merle noch niederschreiben wollen, und warum hatte sie es nicht getan?

Während Jan auf all diesen Fragen herumkaute, zog er sein Handy heraus und rief Laura an. Er wollte ihr von der Wendung in dem Fall erzählen, wollte ihre Meinung hören, um die krausen Gedanken in seinem eigenen Kopf wieder glattzubügeln.

»Hey«, meldete er sich, als sie ranging. »Wo bist du?«

»Bei Cathrin im Laden. Du klingst komisch. Ist was passiert?«

»Können wir uns treffen? Jetzt gleich? Im Imbiss unten am Hafen?«

»Du klingst wirklich seltsam. Klar. Ich bin in ein paar Minuten da.«

Fünf Minuten später stand sie an der Kante des Hafenbeckens leibhaftig vor ihm, und wie so oft, wenn er sie sah, war er froh, dass sie nicht hören konnte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.

Er zog sie in seine Arme. Sie jedoch rückte wieder von ihm ab, sah ihm ernst in die Augen. »Was ist los?«

Er erzählte ihr von Tammes Fund am Unterfeuer und den Tagebucheinträgen, die der Stick enthielt. Laura hörte zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Sieht ganz so aus, als hättet ihr damit endlich was, womit ihr den Ehemann festnageln könnt.«

»Hoffentlich.«

»Wahrscheinlich. All diese Sachen in seinem Kabinett … Was mag sie damit gemeint haben?«

»Das frage ich mich auch.«

Lauras Blick schweifte über die Hafenanlage, über die Inselgäste, über die Kutter, die noch im Hafenbecken im Schlick lagen, obwohl das Wasser langsam wieder auflief. Dann heftete er sich wieder auf Jan. Ihre Augen, die die Farbe verändern konnten wie das Meer bei wechselndem Lichteinfall, wirkten in diesem Moment fast grau, tief und dunkel. »Was willst du jetzt tun?«

»Thorsten wird die Kollegen in Berlin mit diesen neuen Infos versorgen. Hoffentlich kriegen die was aus Losinger raus und können ihn mit diesem neuen Wissen festnageln.« Er biss die Zähne aufeinander.

Laura lächelte. Ihre Miene wurde ganz weich, und sie legte ihm eine Hand an die Wange. »Das fuchst dich, oder?«

»Du kennst mich gut, Frau Benden.«

»Besser, als du dich selbst, Herr Kommissar. Du würdest Losinger natürlich am liebsten selbst befragen. Aber so sind nun mal die Spielregeln. Ich glaube allerdings, dass ich weiß, was du jetzt tun wirst.«

»So?«

»Du wirst jetzt mit mir zusammen ein Fischbrötchen essen. Und dann wirst du noch mal diesen Elias befragen und versuchen rauszufinden, ob Merle ihm was über dieses ominöse Kabinett erzählt hat, von dem sie schreibt.«

Erneut zog Jan seine Frau an sich. Diesmal gab er ihr einen Kuss. »Falsch«, sagte er. »Ja, ich werde ein Fischbrötchen mit dir essen, aber dann werde ich zu Alex fahren. Er hat endlich wieder Zugriff auf seine Cloud, und vielleicht schaffe ich es ja wenigstens, diesen blöden Einbruchdiebstahl aufzuklären.«

Alex empfing Jan im Verkaufsraum der Lüttschoolgalerie und nahm ihn mit nach hinten zu seinem Schreibtisch, auf dem ein nagelneuer Laptop stand. Ein Porträtfoto strahlte Jan vom Monitor entgegen, eine in schwarz-weiß fotografierte Frau, die weit in den Achtzigern sein musste. Ihr Gesicht war voller Falten, die jedoch so geschickt fotografiert worden waren, dass die Frau regelrecht schön aussah. Ihr Blick schien Jan einzufangen und ihn bis tief ins Innerste zu durchleuchten, und er ließ sich kurz davon in den Bann ziehen, bevor Alex das Bild schloss und eine Serie aufrief. Die Bilder, für die Jan hier war.

»Ich habe das natürlich schon mal gesichtet«, sagte Alex. »Da ist eins …«

»Lass mal!« Jan brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Darf ich?« Er deutete auf Tastatur und Maus.

Alex überließ ihm den Rechner.

Jan setzte sich und begann, die Fotos, die Alex im Watt zwischen Pellworm und Südfall gemacht hatte und die von dem unbekannten Einbrecher gestohlen worden waren, eines nach dem anderen durchzusehen. Es waren fast hundert Stück, von denen die meisten die Landschaft zeigten oder Details wie Muscheln, Treibgut und sonnenbeschienenes Rippelmuster des trockengefallenen Bodens. Trotzdem betrachtete Jan sie eins nach dem anderen genauestens. Er wusste schließlich nicht, wonach er suchte.

Während er von Bild zu Bild klickte, bimmelte vorne im Laden die Türglocke und zeigte an, dass jemand eingetreten war.

»Ich muss mich da mal kümmern«, sagte Alex.

Jan nickte nur und konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit. Mit jedem Bild, das er ansah, wuchs sein Frust, bis endlich – auf den letzten Bildern erst – mehr zu erkennen war als Landschaft und Treibgut. Jan beugte sich vor, musterte eine Aufnahme des Watts und des weiten, wolkenübersäten Himmels. Ganz hinten am Horizont war undeutlich eine Gruppe Menschen zu sehen. Mit einem Anflug von Hoffnung klickte Jan weiter. Auf dem nächsten Bild war die Gruppe näher gekommen, aber man konnte immer noch keine Einzelheiten ausmachen.

Auf dem vorletzten Bild allerdings sah die Sache ganz anders aus.

Jan warf sich gegen die Rückenlehne des Schreibtischstuhls. »Also doch!«, murmelte er.

Vorne im Laden bimmelte erneut die Glocke, gleich darauf stand Alex wieder hinter ihm. »Du hast es gefunden, stimmt’s?«

»Allerdings.« Jan deutete auf das Bild auf dem Monitor. In einiger Entfernung, aber doch so deutlich, dass man sie gut erkennen konnte, stand Merle von Bodenbach-Losinger im Watt. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und blickte einen Mann wütend an, den Jan mittlerweile nur allzu gut kannte.

Elias Fischer.

Nachdem Jan zurück in seinem Büro war, rief er als Erstes Thorsten an und unterrichtete ihn über die neueste Entwicklung in ihrem Fall.

»Fischer war mit Merle im Watt?«, fasste Thorsten die Erkenntnis in wenigen Worten zusammen. »An dem Tag, an dem sie gestorben ist?«

»Ja. Ich schicke dir das entsprechende Foto, warte.« Er hatte sich von Alex eine Kopie des Bildes aufs Handy schicken lassen, das er nun an Thorsten weiterleitete.

Thorsten betrachtete das Bild einen Moment lang. »Sie sieht ziemlich aufgebracht aus«, sagte er. »Als hätten die beiden sich gestritten.«

»Mein Gedanke.«

»Und das hat er uns bei beiden Befragungen verschwiegen.« Thorsten informierte jemanden hinter sich im Raum über die Entwicklung des Falls, dann kam er zurück ans Telefon. »Ich nehme ihn mir noch mal vor.«

»Dazu musst du noch mal auf die Insel kommen.« Noch auf dem Rückweg von der Lüttschoolgalerie zur Polizeistation hatte Jan bei Katja Just auf Hooge angerufen und von ihr erfahren, dass Elias Fischer die Hallig verlassen hatte, um sich ein Zimmer in der Nordseelodge zu nehmen.

Thorsten seufzte, als er das hörte. »Okay. Ich komme morgen.« Er wirkte nicht eben begeistert darüber, und wie um den Grund dafür zu verdeutlichen, nieste er einmal heftig. »Ich denke, es ist am besten, wenn wir uns den Mann zusammen vornehmen.«

Laura war gerade dabei, einen Korb Bettwäsche zu dem umgebauten Schuppen zu tragen, in dem die Waschmaschine stand, die auch ihre Feriengäste benutzen konnten. Eine Maschine lief schon, und der Duft des Waschmittels durchdrang die Luft wie ein zarter Hauch. Heute reisten mehrere Familien ab, und es kamen neue, da gab es naturgemäß viel zu tun. Mit einem Ächzen stellte Laura den vollen Wäschekorb ab, als ein Wagen auf den Parkplatz unten bei der Warft einbog. Es war Inka.

Als Lauras Freundin ausstieg und auf sie zusteuerte, wirkte sie aufgebracht.

»Wir müssen reden«, sagte sie, kaum dass sie Laura erreicht und einmal kurz umarmt hatte.

Laura wollte über ihre robuste Gesprächseröffnung schmunzeln, aber dazu sah Inka zu angespannt aus. »Okay? Also reden wir.«

Inka ächzte. »Ich habe gestern Abend länger mit Tamme geredet.«

»Länger«, meinte Laura. Das war für sich genommen schon eine Sensation.

»Ja. Über diesen Ben.«

»Hmhm.« Was kam jetzt?

»Tamme ist eifersüchtig auf den, kannst du dir das vorstellen?«

Nur allzu gut. Laura presste die Lippen aufeinander und überlegte, welche Worte sie wählen sollte. »Darf ich dazu etwas sagen?«, erkundigte sie sich. »Etwas Ehrliches?«

Inkas Augen weiteten sich. »Klar. Darum bin ich ja hier!«

Laura sammelte sich. »Nicht nur Tamme findet, dass du ein bisschen viel Zeit mit Ben verbringst.«

Inka wirkte überrascht, als sei ihr selbst dieser Gedanke überhaupt noch nicht gekommen. Dafür, dass du früher einmal Psychologie studiert hast , dachte Laura, bist du verblüffend unsensibel für die Gefühle deines Freundes. Aber das war wohl irgendwie normal. Schuster besaßen selbst ja schließlich auch die schlechtesten Schuhe.

»Echt?«, fragte Inka.

»Na ja. Warst du mit dem nicht am Wochenende sogar in der Spieskomer essen?«

»Ja. Tamme wollte nicht mit. Er sitzt ja lieber zu Hause rum.«

»Ich kann ihn irgendwie verstehen«, sagte Laura. »Ich hätte es auch schräg gefunden, mit meiner Freundin und meinem Nebenbuhler zusammen essen zu gehen.«

»Nebenbuhler?« Empörung zeichnete sich auf Inkas Gesicht ab. »Du denkst echt, dass ich Tamme mit Ben betrüge?«

Laura ermahnte sich, das hier mit derselben Haltung anzugehen, mit der sie früher Zeugen befragt hatte: ruhig, zugewandt, in der Sache aber hartnäckig. »Tust du es denn?«

Inka lachte auf. »Ich kann nicht glauben, dass du das allen Ernstes denkst!« Sie stemmte die Hände in die Hüften, wollte etwas hinzufügen, wusste aber offensichtlich nicht, was. Stattdessen fuhr sie herum und marschierte mit langen Schritten davon.

»Super gemacht, Frau Benden«, murmelte Laura. Dann folgte sie Inka, die am Zaun der Ponys stehen geblieben war und die Tiere anstarrte, die in aller Seelenruhe Heu aus dem Ballen in ihrer Raufe zupften.

»Wollen wir in Ruhe reden?«, fragte Laura leise.

Inka reagierte nicht sofort. »Ich kann nicht glauben, dass du mir allen Ernstes unterstellst, dass ich fremdgehe.« Ihre Stimme klang rau, und sofort bekam Laura ein schlechtes Gewissen.

Es war eben doch schwieriger, bei Freunden hartnäckig ein Thema zu verfolgen als bei Verdächtigen, denen man im Verlaufe eines Falles begegnete. Egal! Sie hatte das Gefühl, Inka helfen zu müssen, und was wäre sie für eine Freundin gewesen, wenn sie jetzt den Schwanz eingekniffen hätte?

»Inka?«, hakte sie nach.

Da drehte Inka sich um. Ihre Augen glitzerten verdächtig, aber bevor Laura sich bei ihr entschuldigen konnte, presste sie hervor: »Irgendwie ein Fall von Projektion, oder?« Sie lächelte unter Tränen. »Die Patientin reagiert aggressiv, weil Frau Doktor ihren wunden Punkt getroffen hat.«

Ein heftiger Anflug von Mitgefühl überflutete Laura. »Ach, Inka.« Sie nahm ihre Freundin in die Arme und hielt sie ganz fest.

Unten auf der Weide schnaubte Hette, Jans großer Friese. Jan schaute zu den Pferden. Hette schien irgendwie empört, weil Felix ihm einen Halm weggefressen hatte, den er selbst haben wollte. Hette schnappte mit angelegten Ohren in Felix’ Richtung in die Luft, worauf dieser einen Meter zur Seite trabte und dann weiterfraß. Es sah aus, als seien sie beide nun beleidigt.

»Komm«, meinte Laura zu Inka. »Lass uns das nicht weiter im Stehen besprechen.« Sie führte ihre Freundin zu der Bank vor ihrer Haustür und drückte sie darauf nieder. Dann ging sie nach drinnen, holte zwei Gläser und einen Krug von ihrer selbst gemachten Blütenlimonade, die sie früher am Tag vorbereitet hatte. Sie hatte das Rezept von einer Nachbarin, und Inka liebte sie.

Inka lächelte, als Laura ihr ein Glas davon reichte. »Danke.« Sie zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Pulloverärmel die Wangen sauber und nahm einen Schluck. »Lecker!«

Laura setzte sich neben sie. »Jetzt erzähl!«, forderte sie Inka auf.

Den Blick fest auf das Glas geheftet, das sie auf ihrem Oberschenkel balancierte, fing sie an zu reden. »Ich war nicht mit Ben im Bett, aber ich war nicht weit davon entfernt. Er hätte nichts dagegen, das lässt er mich mehr als deutlich spüren. Und er ist ja auch wirklich zu heiß, oder etwa nicht?«

»Schon«, meinte Laura und verzichtete darauf hinzuzufügen, dass sie bei diesem Mann irgendwie ein ungutes Gefühl hatte. Irgendwas war an ihm, das ihren Polizistinneninstinkt weckte. Und dieser wiederum sagte ihr, dass Ben Müller genau der Typ Mann war, von dem man sich besser fernhielt. Was natürlich manche Frau erst recht unwiderstehlich anzog. Aber Inka? Immerhin war sie mit Tamme Hansen liiert, dem Inbegriff des bodenständigen, verlässlichen Typen.

»Hast du dich in Ben verliebt?«, fragte Laura rundheraus.

Inka nahm einen Schluck Limonade. »Ein bisschen verguckt vielleicht.« Sie nahm einen zweiten Schluck. »Jedenfalls bin ich kurz davor.« Sie sah Laura ins Gesicht. »Was soll ich denn jetzt machen?«

»Du hast zwei Möglichkeiten, würde ich sagen. Bisher ist nichts passiert, also kannst du immer noch die Reißleine ziehen. Triff dich nicht mehr mit Ben. Geh ihm aus dem Weg und damit auch der Gefahr, dich wirklich und heftig in ihn zu verlieben.«

»Und Möglichkeit zwei?«

»Du lässt es laufen und guckst, wo ihr landet. Aber dann musst du ehrlich zu Tamme sein und Schluss mit ihm machen. Weil es gar nicht geht, ihn dir so lange warm zu halten, bis du Ben sicher an der Angel hast oder einer von euch das Interesse verliert.«

»Gott!«, ächzte Inka. »So, wie du es sagst, klingt es, als wäre ich die letzte männermordende Mata Hari. Egal. Du magst Ben nicht. Stimmt es?«

»Ich glaube, dass er nicht gut für dich wäre. Er will dich ins Bett kriegen, das kann man spüren. Aber was, wenn das alles ist, was er von dir will?«

Inka öffnete den Mund, wie um Ben zu verteidigen, aber dann schloss sie ihn wieder. »Vielleicht hast du recht.«

»Natürlich können wir uns nicht sicher sein, dass er wirklich so ein Typ ist.«

»Sagt die ehemalige Frau Kommissarin, die sogar dieses Facks-Ding studiert hat!«

»Facks-Ding?« Laura lachte auf. Inka sprach von der sogenannten FACS -Kodierung, einer speziellen Technik, mit deren Hilfe man die Emotionen und damit auch die Motive von Menschen anhand ihrer Mikromimik entschlüsseln konnte. Während ihrer Zeit bei der Kripo in Essen hatte Laura einmal an einer solchen Schulung teilgenommen.

Inka leerte ihr Glas und hielt es Laura hin, damit sie es auffüllte.

Laura kam der stummen Aufforderung nach. »Was wirst du jetzt tun?«

»Wegen Ben?«

»Hm.«

»Keine Ahnung. Vermutlich, mich von ihm fernhalten. Ich meine: Ich liebe doch Tamme. Ich möchte ihn nicht nur wegen eines kleinen Abenteuers verlieren.«

Laura lächelte. »Ich glaube, Ben ist sowieso eine Niete im Bett.«

Jetzt lachte Inka. »Sagt dir das dein Facks-Ding?«

»Vielleicht.« Eine Weile lang saßen sie schweigend nebeneinander und sahen zu, wie sich Felix zaghaft Hette näherte und an seiner Seite knabberte, als wolle er sagen: Alles gut?

»Tamme denkt, dass Ben diese Merle umgebracht hat«, sagte Inka. »Er denkt, dass ihr Mann ihm den Auftrag dazu erteilt hat.«

»Tamme hält jeden, den er nicht leiden kann, für einen Mörder.«

»Stimmt auch wieder.«

Sie lachten gemeinsam. Hette wandte sich Felix zu und schnaubte versöhnlich. Gleich darauf fraßen die beiden wieder einträchtig nebeneinander an dem Heuballen.

Nahezu im selben Moment klingelte Lauras Telefon. Eine Nummer aus Berlin.

Laura nahm ab.

»Guten Tag«, meldete sich eine recht tiefe, selbstbewusst klingende Frauenstimme. »Mein Name ist Karla Eckert. Sie hatten mich um Rückruf gebeten wegen Franjo Losinger?«

»Karla Eckert?«, sagte Jan verständnislos bei einem späten Abendessen, das sie gemeinsam in ihrer gemütlichen Küche einnahmen. »Nie gehört.«

Laura hatte ihm soeben erzählt, dass Karla sie angerufen hatte. »Die Journalistin, die über das verschwundene Schwert aus Schleswig und den toten Wachmann recherchiert hat. Du erinnerst dich.«

Jetzt fiel es ihm wieder ein. »Aha.« Er nahm einen Bissen von dem Chinakohl-Wokgericht, das es neulich schon hatte geben sollen und das Laura heute gekocht hatte. »Und was hat sie dir erzählt?«

»Dass die Person, die den Wachmann erschlagen hat, bis heute nicht gefasst wurde, aber das wussten wir inzwischen ja schon. Wie Journalisten das gern machen, tat sie ein bisschen geheimnisvoll mit ihrem Wissen. Sie hat mich nach Berlin eingeladen, da findet morgen in Franjo Losingers Firmenzentrale die Eröffnung einer Kunstausstellung statt.«

Jan kaute, dann schluckte er. »Du willst hin?«

»Inka würde gern hinfahren.« Sie grinste vielsagend. »Ich dachte mir, ich fahre mit. Sie ist gerade wegen diesem Ben Müller ein bisschen durch den Wind, und ein, zwei Tage Abstand tun ihr vielleicht gut.«

»Und du willst nur einen Freundschaftsdienst leisten. Auf keinen Fall willst du mit dieser Journalistin über unseren Fall reden.«

Sie schwieg.

Er spürte das stumme Einverständnis, das zwischen ihnen herrschte. »Ich muss dich an dieser Stelle eindringlich darauf hinweisen, dass du keine polizeilichen Befugnisse hast«, sagte er. Seine Mundwinkel zuckten dabei amüsiert.

»Zur Kenntnis genommen, Herr Kommissar.«

Es war nicht nötig, ihr zu sagen, dass sie mit ihren Nachforschungen die polizeilichen Ermittlungen nicht in Gefahr bringen durfte. Sie hatte hier auf der Insel schließlich schon zweimal tatkräftig dabei mitgeholfen, die Täter zu überführen, und wusste, wie der Hase lief.

Trotzdem heftete Jan den Blick eindringlich auf sie. »Die Indizien, die wir haben, weisen sowohl auf Losinger als auch auf Fischer als mögliche Täter hin, und bisher können wir keinem von beiden die Tat nachweisen. Wenn Losinger aber wirklich einen Auftragsmörder auf Merle angesetzt hat, dann ist der Mann gefährlich.«

»Logisch«, sagte Laura mit ihrem unschuldigsten Lächeln, und wieder war da dieses vielschichtige Einvernehmen zwischen ihnen. Jan wusste, dass sie sich von ihm nicht aufhalten lassen würde. Und sie wusste, dass er das wusste.

»Ich sage jetzt nicht, dass du auf dich aufpassen sollst«, meinte er gespielt streng. »Weil du auf keinen Fall zu dieser Ausstellungseröffnung gehen wirst.«

Sie spielte das Spiel mit. »Sagt wer?«

»Polizeirätin Luttmann.«

»Aha.« Damit war das geklärt. Jan hatte seiner Pflicht Genüge getan. Und er konnte seine Frau nicht im Haus festketten.

Laura brachte ihren Mund ganz dicht an Jans Ohr. »Ich mag es, wenn du autoritär wirst, Herr Kommissar«, raunte sie ihm zu.