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Die Lokomotive, die Bell mitsamt dem Zug, in dem er saß, in die Ausläufer der Rocky Mountains hinaufschleppen sollte, war nicht das originale Modell aus der Zeit um 1860, als die Schienen der Strecke auf dem Höhepunkt des Pike’s Peak Gold Rush, wie man ihn seinerzeit getauft hatte, verlegt wurden, aber diese Maschine dürfte nicht viel später in Dienst genommen worden sein. Der Kessel war vielfach geflickt, und Dampf strömte zischend aus Ventildichtungen und Rohrverbindungen. Außerdem hatte sie einen altmodischen Kuhfänger, der so gefährlich aussah wie eine mechanische Sense, und einen geriffelten Schornstein, der von Revolver- und Gewehrkugeln durchlöchert war. Der Lokführer und sein Heizer umkreisten die 2-4-2-Lok mit Ölkannen und ganzen Eimern voll Dichtungsschmiere. Ein weiterer Arbeiter füllte einen hohen Trichter vor den Antriebsrädern auf, aus dem Sand abgelassen werden konnte, um die Reibung auf den Schienen zu erhöhen.
Die beiden Personenwagen hinter dem Kohletender waren in unterschiedlichen Farben lackiert, und Bell konnte erkennen, dass die Namen der Eisenbahnlinien, von denen sie früher eingesetzt wurden, einfach mit den Lettern CC überpinselt worden waren. Die Fenster waren schmutzig, und von Flugasche hinterlassene Brandflecken übersäten sämtliche Holzteile der Karosserie. Addierte man die Tatsache, dass der Abstand zwischen den Gleisen nur einen Meter betrug, erschien Bell das Gespann eher wie ein ramponiertes Kinderspielzeug als wie ein zuverlässiges Dampfross, dem man sich bedenkenlos anvertrauen konnte.
Ringsum waren auf den anderen Gleisen mehrere längere Züge mit verzierten Waggons und gelegentlichen Privatwagen zu sehen. Ein Zug war soeben eingetroffen, und Passagiere – Frauen in langen Mänteln und warmen Pelzboas, Männer in Anzügen mit Homburgern oder Melonen auf den Köpfen – kamen die Treppe herunter. Ein paar Kinder schauten sich, überwältigt von ihren enormen Dimensionen und dem hohen Uhrenturm in der Mitte, in der Halle der Union Station um. Es roch nach Kohlenrauch, und von den Wänden und dem hohen Tonnengewölbe hallte der allgegenwärtige Lärm der Industrialisierung wider.
Bell reichte dem Zugschaffner seinen einzigen Koffer und stieg die eisernen Stufen hinauf, um in das Fahrgastabteil des ersten Waggons zu gelangen. Die Sitzbänke waren verschlissen und stellenweise löchrig, der Fußboden wirkte schmierig, und die wenigen Lampen waren nicht eingeschaltet, obgleich der Himmel bedeckt war und im Innern des Wagens triste Düsternis herrschte. Im Gegensatz zum Vortag hatte sich die Luft empfindlich abgekühlt. Bell ahnte, dass der Altweibersommer endgültig vorbei war und der berüchtigte harte Winter Colorados vor der Tür stand. Er war froh, dass er angeboten hatte, seinen Aufenthalt in Denver nur um zwei Tage zu verlängern. Er hatte schon von Reisenden gehört, die wochenlang in diesen Bergen festgesessen hatten.
Die Vorbereitungen, die er am Vorabend getroffen hatte, würden, wenn er auch nur ein wenig Glück hätte, in achtundvierzig Stunden Früchte tragen. Im Zuge seiner telefonischen Anfragen im Van-Dorn-Büro in Denver hatte er einige Treffer gelandet und anschließend seinen alten Freund Seamus Rourke erreicht, einen ehemaligen Berufstaucher, der während des Erdbebens von 1906 ein Bein verloren hatte und nun seine Erfahrung und sein technisches Geschick darauf verwendete, Tauchausrüstungen zu konstruieren und herzustellen. Er hatte bereits fünf Patente angemeldet, und weitere würden zweifellos schon bald folgen.
Als erfahrener Eisenbahnreisender suchte sich Bell einen Platz in der Mitte des Wagens, damit sich das Stampfen der Räder auf den Gleisen nicht direkt auf seinen Körper übertrug. Er hatte nur wenig Interesse daran, sich die Landschaft anzusehen, die draußen vor den Fenstern vorüberglitt, während sich der Zug die Berge hinaufquälte. Daher deckte er sich den Hut über die Augen, um die mehr als zwei Stunden lange Fahrt zu verschlafen. Die Lokomotive hatte jedoch andere Vorstellungen, und von dem harten Ruck beim Verlassen der Union Station an und dann während der gesamten über tausend Höhenmeter überwindenden Bergfahrt mit gelegentlich durchdrehenden Rädern keuchte und pfiff die Lokomotive asthmatisch und spuckte dichte Wolken stinkenden Qualms aus, sodass Bell und zahlreiche andere Fahrgäste – allesamt männlich bis auf die Ehefrau eines Mitreisenden – Taschentücher hervorholten und sich über Mund und Nase banden, wie man es von den Banditen in den Wildwestfilmen kannte. Das Panorama, das sich den Reisenden darbot, war alles andere als dramatisch oder ästhetisch bemerkenswert – rechts und links des Eisenbahnzugs gab es nichts anderes zu sehen als die steilen Felswände einer Schlucht. Und weil die Lokomotive so viel zusätzlichen Sand verbraucht hatte, kam es zu einem zeitraubenden Zwischenstopp in der Bergbaustadt Black Hawk, kurz vor Central City, um ein Depot ausfindig zu machen, wo der Sandvorrat aufgefüllt werden konnte.
Bell nahm sich vor, im Teller House den Anzug zu wechseln und seine augenblickliche Reisekluft gründlich reinigen zu lassen.
Central City war weitaus moderner, als Bell erwartet hatte, und er musste beschämt erkennen, wie grundlegend er ihre Bewohner verkannt hatte, denn bis zu diesem Augenblick war die Stadt für ihn eigentlich nie mehr gewesen als ein barbarischer und baufälliger Außenposten der Zivilisation. Seit fast fünfzig Jahren schürften Bergleute in den umliegenden Bergen, und Central City spiegelte wider, dass neben dem Streben nach Gewinn auch die Kultur im Leben ihrer Bewohner eine wichtige Rolle spielte. Die Stadt zeichnete sich durch überraschend breite und gerade Straßen aus, und sämtliche Gewerbebauten waren aus Klinker oder Granit errichtet worden. Es gab sogar ein Opernhaus. Und wie in so vielen amerikanischen Städten wurden Pferdegespanne recht zügig von Automobilen und motorisierten Lastwagen abgelöst. Stromleitungen an geteerten Masten überspannten kreuz und quer die Straßen. Und Fachwerkhäuser sprenkelten die Berghänge über dem Stadtzentrum.
Als er in dem kleinen Eisenbahndepot aus dem Zug stieg, stellte Bell fest, dass die Luft merklich kälter war und ihm das Atmen wegen der Höhenlage der Stadt zunehmend schwerer fiel. Gelegentliche Schneeflocken wirbelten wie vereinzelte Staubflusen durch die Luft.
Bell hatte keine Schwierigkeiten, die Eureka Street und das Teller House zu finden. Er hatte sich aufgrund der Zwangspause während der Eisenbahnfahrt verspätet, begab sich jedoch zunächst auf sein Zimmer, um sich umzuziehen, und organisierte dann die Reinigung seiner Kleidung. Danach erst – zwanzig Minuten nach der vereinbarten Uhrzeit – betrat er die Bar, um mit Tony Wickersham zusammenzutreffen.
Der Engländer saß an einem Tisch und war in seine Arbeit vertieft. Dicht beschriebene Notizzettel und aufgeschlagene Hauptbücher bedeckten die Tischplatte, und neben seinen Füßen stand eine mit weiteren Papieren prall gefüllte Tasche. Wickersham war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein sympathisches Gesicht und krauses dunkles Haar. Als er spürte, dass Bell sich näherte, blickte er auf. Seine dunklen, weit auseinanderstehenden Augen musterten Bell prüfend.
»Mr. Bell?«
»Der bin ich.« Wickersham erhob sich, und die beiden Männer begrüßten einander mit einem kräftigen Händedruck. »Bitte, nennen Sie mich Isaac.«
»Dann bin ich Tony für Sie.«
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Es gab Probleme mit dem Zug. Er wurde aufgehalten.«
»Das geschieht fast jeden Tag«, sagte Wickersham verständnisvoll. »Wie ich gerüchteweise hörte, hatte die Lokomotive lange Zeit unbenutzt in Mexiko herumgestanden, bevor die Eisenbahngesellschaft sie erwarb und hierherbrachte. Ganz gleich, ob diese Geschichte nun den Tatsachen entspricht oder nicht, sie ist für den Einsatz in den Bergen einfach nicht geeignet. Ihre Antriebsräder sind viel zu klein.«
»Hauptsache, die Bremsen funktionieren während der Rückfahrt …« Für Whiskey war es noch ein wenig zu früh am Tag, daher bestellte Bell zwei Bier und dazu ein Roastbeefsandwich mit Mostrich.
Wickersham prostete Bell mit seinem Krug zu, ehe er einen Schluck trank. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie hier oben tun könnten. Ich weiß allerdings, dass die beiden Bloeser-Brüder glauben, Josh Brewster und die anderen seien gar nicht in der Mine verschüttet worden. Ich habe jedoch einen Zeugen, der gesehen hat, wie sie hineingegangen sind.«
»Es gibt einige Ungereimtheiten«, sagte Bell. »Da ist dieses Claim Jumping. Und dann der Punkt, dass sie allesamt nicht verheiratet waren, woraus sich ergibt, dass niemand sie vermissen würde.«
»Da widerspreche ich Ihnen gar nicht. Brewster ist hier oben in den Bergen allseits gut bekannt. Die Leute waren überrascht, als er die Absicht äußerte, wieder in die Little Angel Mine zu gehen. Wenn ich damals hier gewesen wäre, hätte ich ihm erklärt, dass die Mine, wenn sie auch seit 1880 nicht mehr in Betrieb ist, nach wie vor als offener Claim betrachtet wird. Möglich, dass er es nicht wusste. Bill Mahoney, der Vorarbeiter der Satan Mine direkt unterhalb der Little Angel, wunderte sich, als er erfuhr, dass Mr. Bloeser noch immer über die Schürfrechte verfügte. Er gab zu, den Schacht und die Stollen gelegentlich als Lagerraum benutzt zu haben.«
»Was halten Sie davon, dass alle Männer Junggesellen waren?«
»Zufall?«, riskierte Wickersham den Versuch einer Erklärung.
Bell schüttelte den Kopf. »In meinem Tätigkeitsbereich gibt es so etwas nicht. Diese Junggesellengeschichte hat sicherlich etwas zu bedeuten. Darum interessiert mich zuerst, wo diese Männer gelebt haben, und ob es irgendwelche Hinweise gab, dass sie nach ihrer Arbeit in der Mine wieder in ihre jeweilige Heimat zurückkehren wollten, oder ob sie ihr Zuhause für immer verlassen hatten. Weiterhin interessiert mich ihre technische Ausrüstung. Welche Art von Werkzeug haben sie angeschafft, um den Bergbau wiederaufzunehmen.«
»Sie dürften sich mit allem Nötigen in Denver eingedeckt haben.« Wickersham war sich offenbar vollkommen sicher. »Das Gerät, das hier angeboten wird, ist zumeist schon ziemlich abgenutzt und völlig überteuert.«
»Okay, danke, ich werde meinen Ermittler darauf ansetzen.«
»Lassen Sie ihn Kendry Ironworks und die Thor Forge Company überprüfen. Diese beiden Firmen sind hier im Bereich Bergbautechnik führend.«
»Gibt es in diesem Hotel ein Telefon?«
»Ja. Warum?«
»Ich rufe ihn sofort an, sobald wir hier fertig sind, und gebe Ihren Tipp weiter.«
»Darf ich fragen, wie Sie den Stollen untersuchen wollen?«
»Haben Sie schon mal von einem Kreislauftauchgerät oder Rebreather gehört?« Als sich Wickershams Stirn in Falten legte, aber keine Antwort aus seinem Mund kam, fuhr Bell fort. »Wenn wir ausatmen, enthält die Luft, die wir ausstoßen, neben dem Kohlendioxid immer noch eine größere Menge an unverbrauchtem Sauerstoff. Die Idee, verbrauchte Atemluft zu nutzen, kam schon vor zweihundert Jahren auf, aber es dauerte bis 1879 oder ’80, bis ein funktionsfähiges Gerät dieser Art gebaut wurde. Und zwar von einer englischen Firma. Im Grunde war es eine Tauchermaske, die durch einen Schlauch mit einem Tank verbunden wurde, in dem sich reiner Sauerstoff unter Druck sowie ein Behälter befanden, in dem mittels einer chemischen Reaktion das Kohlendioxid aus der teilweise verbrauchten Atemluft herausgefiltert wurde. Das Gerät wurde einem praktischen Test unterzogen, als ein Wassereinbruch den Bau des Severn-Tunnels stoppte. Ein Mann, der mit diesem Gerät ausgerüstet war, drang gut dreihundert Meter weit in den überfluteten Tunnel ein und schloss einige wasserdichte Tore, sodass die Baustelle mithilfe mehrerer Pumpen trockengelegt werden konnte.«
»Ich hatte gar keine Ahnung, dass so ein Ding erfunden wurde.«
»Es gehört auch nicht zur üblichen Bergwerkstechnik«, sagte Bell. »Ich habe einen Freund in San Francisco, der an Kreislauftauchgeräten herumbastelt. Ein Van-Dorn-Agent ist in diesem Augenblick mit seinem neuesten Modell unterwegs hierher. Mein Freund meint, dass ich mich damit bis zu vier Stunden lang unter Wasser aufhalten kann. Damit hätte ich mehr als genug Zeit, um nachzusehen, wer oder was in der Little Angel Mine eingeschlossen wurde.«
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, führte Bells erste Maßnahme ihn in die einzige Poststelle des Ortes. Wickersham war motorisiert, aber die Filiale befand sich in der Nähe des Hotels, also gingen die beiden Männer zu Fuß. Der einzelne Raum wurde durch eine niedrige Theke mit eisernem Sicherheitsgitter zum Schutz des Postlagers im hinteren Bereich geteilt. Bell konnte sich lebhaft vorstellen, wie einige der robusteren Zeitgenossen, die im Laufe der Jahre hier gelebt hatten, dem Personal wegen verspäteter oder gar nicht ausgelieferter Pakete die Hölle heiß gemacht haben mochten.
Er wartete, bis alle Kunden abgefertigt worden waren, ehe er sich an den Angestellten wandte, der, wie er erkennen konnte, gleichzeitig Leiter des Postamtes war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der schmächtige Angestellte. Er hatte eine Halbglatze, und seine Stimme klang hoch und näselnd, aber freundlich.
Anstelle einer Antwort legte Bell eine Visitenkarte auf die Theke.
Der Angestellte nahm sie auf und hielt sich die Brille, die an einer dünnen silbernen Kette um seinen Hals hing, vor die Augen. »Donnerwetter! Aus Washington, D. C. Da hatten Sie aber einen weiten Weg.«
»Es hat in Denver einen Vorfall gegeben …«
»Ach ja, diese Verhaftung. Ich hörte davon. Eine Frau – soweit ich verstand, war sie verkrüppelt – hat sich über Nacht in einem Koffer versteckt, um Geld zu stehlen.«
»Ihr fehlte ein Bein, aber ich versichere Ihnen, sie war kein Krüppel. Die Ohrfeige, die sie mir verpasste, war härter als der Tritt eines Maultiers.« Bell wandte sich halb zur Seite, und seine Wange war tatsächlich noch immer gerötet. Er nahm die Visitenkarte wieder an sich und schob sie in seine Jackentasche.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Northrop?«
»Wir sind wegen einer anderen Angelegenheit hier. Das Little-Angel-Unglück.«
»Eine furchtbare Geschichte. Diese Berge fordern jedes Jahr ihren Tribut an Menschenleben, aber dann ist es doch immer wieder ein Schock, wenn es passiert.« Der Angestellte runzelte plötzlich misstrauisch die Stirn. »Mit dem, was diesen Männern zugestoßen ist, hat die Post doch hoffentlich nichts zu tun, oder?«
Bell improvisierte. »Es geht um Rechnungen für Bergbaugeräte, die von der Thor Forge Company geliefert wurden. Die Firma beharrt darauf, dass die Rechnungen dem Empfänger, Joshua Brewster, zugestellt worden seien, aber sie wurden nicht beglichen. Wissen Sie etwas über diese Angelegenheit?«
»Kann ich nicht behaupten. Nur einer der Männer, die ums Leben kamen, hatte hier eine Adresse. Das war John Caldwell. Er wohnte in einem Zimmer, das er bei den Dawson-Schwestern in der Spring Street gemietet hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass die anderen ebenfalls in der näheren Umgebung ein Zimmer gemietet hatten oder vielleicht auch in einem Zelt in der Nähe der Minen campierten. Mit der Post hatten sie jedenfalls nichts zu tun.«
»Was ist mit Brewster? Wissen Sie, wo er wohnte?«
»In einem Zelt neben dem Bergwerk. Ab und zu mietete er sich für ein oder zwei Nächte im Teller House ein. Bis vor ein paar Monaten hatte er ein Haus in Denver, aber ich weiß mit einiger Sicherheit, dass er es verkauft hatte, um hierherzukommen.«
»Interessant. Haben Sie auch eine Idee, weshalb?«
»Um diese wertlose Mine wieder in Betrieb zu nehmen. Leute in der Stadt, die ihn ein wenig besser kannten, meinten, er sei in der letzten Zeit ein bisschen verrückt geworden. Er war geradezu besessen von der Little Angel. Legte sich deswegen mit Freunden und allen anderen an. So etwas passiert zuweilen. Es ist genauso wie bei Leuten, die zu viel trinken oder ihr gesamtes Geld verspielen. Sie können einfach nicht aufhören. Bei Brewster war es am Ende das Gleiche. «
Bell wusste, dass weitere Fragen seinerseits nur das Misstrauen des Poststellenleiters wecken würden, daher meinte er: »Na, dann vielen Dank für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben. Ich werde den Leuten bei Thor Forge mitteilen, dass sie, solange Brewster nicht einen Geldbetrag bei einem Anwalt oder einer Bank hinterlegt hat, den Rechnungsbetrag wohl in den Wind schreiben müssen.«
Danach verließen er und Tony Wickersham die Postfiliale.
»Ist es nicht gesetzwidrig, sich fälschlicherweise als Vertreter einer staatlichen Behörde auszugeben?«, fragte der Engländer, während sie sich von dem Postgebäude entfernten.
»Das ist es natürlich«, erwiderte Bell. »Aber ich habe mich diesmal gar nicht als jemand ausgegeben, der ich nicht bin.«
»Na, Sie haben ihm doch eine fremde Visitenkarte gereicht und legten damit nahe, dass Sie Robert Northrop seien.«
»Dass ich ihm die falsche Visitenkarte gab, war ein Versehen«, erklärte Isaac Bell mit einem verschmitzten Lächeln. »Dies hat nur den Eindruck erweckt, als sei ich Robert Northrop. Er hingegen nahm es an. Ich unterließ es lediglich, seinen Irrtum aufzuklären. Polizisten und Richter ärgern sich jedes Mal, wenn ich diesen Trick anwende, aber ich bin bisher niemals deswegen bestraft worden.«
Sie brauchten nur ein paar Minuten, um die Spring Street und das gelbe Haus zu finden, das den Dawson-Schwestern gehörte. Sie waren ein Paar ältlicher Jungfern, die ihren Lebensunterhalt damit bestritten, in dem großen Haus, das ihnen ihre schon vor längerer Zeit verstorbenen Eltern hinterlassen hatten, Zimmer zu vermieten und ihre Gäste zu beköstigen. Über die gesamte Breite des mit Schindeln verkleideten Hauses erstreckte sich eine Veranda, auf der während der Sommermonate ein Schaukelstuhl oder ein Liegesessel ausreichend Platz fanden. Gingham-Gardinen rahmten die Fenster im Parterre ein, und das Dach war mit Schiefer gedeckt und trotz seines Alters offenbar in einem guten Zustand.
Ein Mann öffnete die Haustür und kam rückwärts heraus, während Bell und Wickersham die Treppe zur Veranda hinaufstiegen.
»Entschuldigen Sie«, sprach Bell ihn freundlich lächelnd an, »sind die Dawson-Schwestern zu Hause?«
»Oh, hallo«, sagte der Mann und fuhr erschreckt herum. Er war mit dem verschlissenen Anzug eines Handlungsreisenden bekleidet. In einer Hand hatte er einen ledernen Musterkoffer. Wahrscheinlich gefüllt mit Wundermedizinproben oder Kosmetika, vermutete Bell. »Miss Emily ist zu sprechen, aber Miss Sarah weilt gerade in Boulder, um Großeinkäufe zu tätigen, wie sie es immer nennen. Anscheinend geschieht es hier des Öfteren, dass die Stadt eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten ist.«
»Das haben wir auch schon gehört«, sagte Bell und bedankte sich bei dem Mann, der sich eilig die Straße hinunter entfernte.
Bell klopfte an die Tür und brauchte nur ein paar Sekunden zu warten, bis sie geöffnet wurde. Die Frau war jung, hatte rabenschwarzes Haar und war eine echte Schönheit. Sie lächelte Wickersham an, aber dann verharrte ihr Blick deutlich länger auf Isaac Bell. »Also, hallo, wen haben wir denn da?«, sagte sie und entblößte strahlend weiße Zähne.
»Miss Emily?«, riet Bell.
»Du liebe Güte, nein«, erwiderte die junge Frau lachend. »Ich bin Corinne Johnson. Ich habe hier nur ein Zimmer gemietet. Ansonsten trete ich in der Oper auf.«
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Bell. »Außer ihrem Namen weiß ich nichts über die Dawson-Schwestern.«
»Ist schon gut, Mr. …«
»Bell … Isaac Bell.«
Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie mit beiden Händen auf eine Weise, die den Trauring an seinem linken Ringfinger aufblitzen ließ. Ein enttäuschter Ausdruck huschte für einen kurzen Moment über Corinne Johnsons Gesicht, dann machte sie Platz, ließ die beiden Besucher eintreten und rief in Richtung Küche: »Miss Emily, hier sind zwei Herren für Sie.« Als sie sich umdrehte, war das Strahlen in ihre Augen zurückgekehrt. »Mr. Bell, falls Sie länger in der Stadt bleiben sollten, können Sie mich morgen Abend und am Wochenende auf der Bühne sehen und hören.«
»Ich weiß nicht, ob unser Terminplan es zulässt, aber wenn wir es irgendwie einrichten können, werden wir ganz gewiss dort sein.«
Corinne Johnson, gut einen Kopf kleiner als er, lächelte schmachtend zu ihm hoch, ehe sie die Eichentreppe in den zweiten Stock hinaufstieg. Gleichzeitig kam eine ältere Frau aus der Küche im hinteren Teil des großen Hauses. Sie trocknete sich gerade die Hände mit einem Handtuch ab, um ihre schneeweiße Schürze nicht zu beschmutzen. Sie war schlank, ohne zerbrechlich zu erscheinen, hatte kurz geschnittenes silbergraues Haar und eine faltige Haut, dabei aber wache und aufmerksame Augen. Sie war eher Ende als Anfang siebzig.
»Kann ich den Herren behilflich sein? Suchen Sie eine Unterkunft? «
»Nein, Ma’am«, antwortete Bell und holte eine seiner Visitenkarten mit dem Logo der Van Dorn Agency hervor. »Ich bin Privatdetektiv und wurde von Mr. Bloeser, dem Eigentümer der Little Angel Mine, engagiert, um die näheren Umstände des tragischen Unglücks in der vergangenen Woche zu untersuchen. Soweit ich bisher ermitteln konnte, bewohnte einer der Bergmänner ein Zimmer in Ihrem Haus.«
»Das ist richtig. Der arme Mr. Caldwell. Oder Johnny, wie er von jedem genannt werden wollte. Er war sehr jung und ausgesprochen höflich. Gelegentlich führte er kleinere Reparaturen im Haus durch, zu denen Sarah und ich bislang nicht die Zeit gefunden hatten.«
»Hat er irgendwelche persönlichen Dinge hinterlassen?«
»Einige schon«, sagte Emily Dawson ein wenig argwöhnisch. »Warum fragen Sie?«
»Die Little Angel Mine wieder in Betrieb zu nehmen, war eine ziemlich seltsame Entscheidung Joshua Brewsters. Der rechtmäßige Besitzer des Bergwerks, Mr. Bloeser, hofft nun, auf diesem Weg in Erfahrung zu bringen, weshalb diese Männer sich in der Mine aufhielten. Wir hoffen, in der Hinterlassenschaft der armen Seelen entsprechende Hinweise zu finden.«
»Ich verstehe«, sagte sie, offenbar zufrieden mit dieser Antwort. »Ich habe das Zimmer noch nicht vermietet. Und da der Winter vor der Tür steht, ist wohl auch damit zu rechnen, dass sich daran so bald nichts ändert. Bitte, folgen Sie mir doch.«
Sie geleitete Bell und Wickersham die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Das Treppenhaus endete in der Mitte eines langen Korridors mit mehreren geschlossenen Türen auf beiden Seiten. An beiden Enden standen Türen offen und erlaubten einen Blick in Badezimmer mit weißem Marmorfußboden und ebenfalls weißen Wandfliesen. Betrachtete man das Alter des Hauses, ergab sich, dass die Sanitäreinrichtungen gründlich renoviert worden sein mussten. Emily Dawson holte ein Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Schürze und schloss eine der Türen in der Mitte der rechten Ganghälfte auf. Dann überließ sie die beiden Besucher sich selbst und kehrte ihrerseits in ihre Küche zurück.
Johnny Caldwells Zimmer war nicht groß, aber wohnlich eingerichtet. Es verfügte über einen kleinen Kleiderschrank und ein Einzelbett mit einer weißen Steppdecke, die mit Stickmustern verziert war. Die Kommode mit vier Schubladen passte in Form und Farbe zum Nachttisch. Auf dem Nachttisch standen eine Petroleumlampe und eine Schüssel für Kleinigkeiten. Gewöhnlich dienten diese Schüsseln als Sammelablage für Geldmünzen, Schlüssel und manchmal auch für abgerissene Hemdenknöpfe. Diese Schüssel jedoch war leer.
Isaac Bell hatte im Laufe seines Berufslebens schon einige hundert Zimmer durchsucht, und machte sich auch diesmal methodisch und ohne Eile ans Werk. Er fand, was er zu finden erwartet hatte – vorwiegend Kleidung, ein paar Bücher, aber keine Bibel, und einen kleinen Vorrat an getrockneten Rindfleischstreifen. Außerdem fand er einen silbernen Bilderrahmen, der seinen festen Platz wahrscheinlich auf dem Nachttisch hatte, nun jedoch in einer der Schubladen lag. Die Fotografie fehlte. Was er auch nirgendwo sehen konnte und ihm verriet, was er bereits vermutete, waren Bargeld oder Reisegepäck. Vermutlich waren Caldwells sämtliche Besitztümer in einem Koffer in das Zimmer gelangt, aber weder diese noch der Koffer waren noch vorhanden. Außerdem wurden Bergarbeiter mit Bargeld entlohnt, und sie zahlten ihre Zimmermiete ebenfalls in bar. Infolgedessen hätte eine Rolle Banknoten in einer der Schubladen oder ein Briefumschlag mit einem Stapel Banknoten unter der Matratze versteckt sein müssen. Ein weiterer aufschlussreicher Hinweis war das Fehlen von Schuhen im Kleiderschrank. Zweifellos hatte Johnny Caldwell an jenem schicksalhaften Vormittag in der Little Angel Mine robuste Arbeitsstiefel an den Füßen gehabt, aber er hatte sie ganz sicher nicht ausschließlich getragen. Im Kleiderschrank stand kein Paar gewöhnlicher Straßenschuhe, wie sie sonst bei einem abendlichen Stadtbummel oder am Sonntagmorgen zum Gottesdienst getragen wurden.
»Was denken Sie?«, fragte Tony Wickersham, während Bell schweigend in der Zimmermitte stand, nachdem er seine Suche beendet hatte. Obgleich er jeden Gegenstand im Zimmer in die Hand genommen hatte, wies nichts darauf hin, dass irgendetwas von seinem Platz verschoben worden war.
»Alle Indizien sprechen dafür, dass Mr. Caldwell an jenem Morgen seine Bleibe verließ, ohne die Absicht zu haben, nach Feierabend dorthin zurückzukehren. Er hatte eine Reisetasche gepackt und ein paar Kleider inklusive eines Paars Schuhe mitgenommen – und außerdem jeden Cent. Alles andere wurde zurückgelassen.«
»Können wir demnach mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sie in der Mine nicht den Tod gefunden haben?«
»Nicht mit Sicherheit. Wie ich bereits angedeutet habe, legen die Indizien ein anderes Szenario nahe, als in den Zeitungen beschrieben wurde. Das ist aber noch kein Beweis. Gewissheit erhalten wir erst, wenn ich in den Stollen tauche und mich dort umsehe. Was wir jedoch jetzt schon haben, ist immerhin ein beweiskräftiges Indiz, das unseren Verdacht bestätigt.«
Ehe sie die Pension verließen, bedankten sie sich bei Emily Dawson für ihre Hilfe und erkundigten sich nach anderen Übernachtungsmöglichkeiten, die Caldwells Freunden als vorübergehende Unterkünfte hätten dienen können. Es hätte keinen Sinn gehabt, zur Mine hinauszufahren, ehe Bells Tauchausrüstung aus San Francisco eingetroffen war, deshalb nutzten er und Wickersham den Nachmittag, um sich in Pensionen und Wohnheimen nach den anderen Bergleuten zu erkundigen. Doch es war ein fruchtloses Unterfangen. Offenbar hatte keiner der Männer in der Stadt gewohnt. Ebenso wie Brewster mussten sie in der Nähe des Bergwerks unter freiem Himmel campiert haben.
Was Bell jedoch registrierte, während er und der junge Bergbauingenieur durch die Straßen von Central City wanderten, war die Tatsache, dass ihr Erscheinen ein gewisses Interesse geweckt hatte.
Während des gesamten Nachmittags waren sie verfolgt worden.