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Während er noch auf die Lieferung aus Kalifornien wartete, half Isaac Bell Tony Wickersham, die Little Angel Mine für ihren letzten großen Auftritt zu präparieren. Sie beabsichtigten, im Eingang der Mine Sprengladungen zu deponieren und den Stollen weit genug zum Einsturz zu bringen, um den Wasseraustritt zu stoppen. Außerdem hatten sie zwei von Bill Mahoneys Arbeitern ausgeliehen, die geeignete Bohrlöcher in den soliden Fels treiben sollten, damit die TNT -Ladungen ihre größtmögliche Wirkung entfalteten. Sie verzichteten auf das Anbringen der Übertragungsladungen, damit es nicht zu unbeabsichtigten Explosionen kam, ehe Bell die Inspektion der Mine abgeschlossen hatte.
Als die Ankunftszeit des Zugs aus Denver heranrückte, lieh sich Bell Wickershams REO-Truck aus und fuhr zurück nach Central City, um seinen Van-Dorn-Kollegen vom Eisenbahndepot abzuholen.
Die Schmalspurlokomotive und ihre schäbigen Waggons rollten soeben in den Bahnhof ein, als Bell in der Stadt eintraf. Diesmal hatte er für die Fahrt durch die Bergausläufer deutlich weniger Zeit gebraucht, aber er fühlte sich nach dem Ritt über die unebenen Straßen am ganzen Körper wie zerschlagen. Die Lehmstraßen von Central City kamen ihm im Vergleich mit den rauen Bergpisten vor, als seien sie gerade erst frisch geteert worden. Bell entdeckte einen jungen Mann, dem ein Gepäckträger half, einen großen Überseekoffer aus dem Frachtabteil eines der Passagierwaggons herauszuholen und auf eine Transportkarre zu heben. Bell konnte sich nicht erinnern, den Agenten jemals gesehen zu haben, aber der Koffer war mit dem Logo von Hecht Marine beklebt, das einen Kraken zeigte, der sich um den Dreizack Poseidons wand.
Bell parkte den REO in nächster Nähe des Bahnsteigs und stieg aus dem Führerhaus, sein Rücken fühlte sich nach der ungemütlichen Fahrt steif und ramponiert an. »Hallo, ich bin Isaac Bell.«
Der Gepäckträger musterte ihn desinteressiert, aber der Van-Dorn-Mann wandte sich sofort um und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zugerannt. »Mr. Bell! Ich bin Colin Rhodes. Es ist mir eine große Ehre, persönlich mit Ihnen zusammenzutreffen.«
Young Master Rhodes musste ein Praktikant sein, denn er sah mit seiner wuscheligen Haarpracht, die unter einer Mütze auf seinem Kopf hervorlugte, und seinen viel zu großen Füßen wie ein übereifriger junger Hund aus, der erst noch in seinen Körper hineinwachsen musste.
Bell schüttelte dem jungen Mann die Hand und erwartete fast, dass er sich gleich vor Freude, seinem Idol leibhaftig zu begegnen, auf den Rücken fallen ließ und mit Armen und Beinen in der Luft herumstrampelte. »Und was genau haben Sie bei Van Dorn zu tun?« Er drückte dem Gepäckträger als Belohnung für seine Hilfe beim Umladen des Koffers vom Eisenbahnwaggon auf die Handkarre zwei Dollar in die Hand.
»Ich bin der neue Bürogehilfe. Überall, wo ich gebraucht werde, bin ich zur Stelle und helfe aus. Ich verteile den Kaffee im Büro und hole wichtige Dokumente aus den Anwaltskanzleien. Oder ich versorge die Leute, die auf Beobachtungsposten sind, mit allem Nötigen.«
»Dann sind Sie offenbar der Besorger vom Dienst.« Bell ärgerte sich darüber, dass seine Aufträge so nachlässig behandelt wurden und ein blutiger Anfänger sie ausführen musste.
»Ich glaube, ja, so könnte man es ausdrücken. Sie haben mich auf die Reise geschickt, weil alle anderen mit Hochdruck an einem kapitalen Entführungsfall arbeiten.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass …«
»Es geht um eine chinesische Lady. Sie sollte den Sohn einer großen Nummer in Chinatown heiraten, aber irgendeine rivalisierende Bande hat sie aus dem Hotel entführt, und das ausgerechnet an dem Tag, bevor Ihr Auftrag einging. Der Bürgermeister persönlich lässt sich ständig über den Fortschritt unserer Ermittlungen berichten, weil er befürchtet, dass sich diese Geschichte noch zu einem regelrechten Krieg hochschaukelt.«
»Zu einem sogenannten Tong-Krieg«, klärte Bell den jungen Mann auf. »Als ›Tong‹ bezeichnet man eine chinesische Gangsterbande. Offenbar streiten sie sich mal wieder um die Vorherrschaft. Die Stadt erholt sich gerade von dem Erdbeben und hat umfangreiche Wiederaufbauprogramme gestartet. Da ist doch das Letzte, was sie sich leisten kann, ein Machtkampf in der Unterwelt, der die gesamte City in Mitleidenschaft zieht.«
Bell hatte noch einige neue Instruktionen für Rhodes, ehe er ihn die Rückreise antreten ließ. Sie schafften es mit vereinten Kräften, den Koffer auf die Ladefläche des Lastwagens zu hieven. Das Gepäckstück war ein wahres Monstrum und wog mindestens einen Zentner.
»Okay, hier ist Ihr nächster Auftrag. «
»Arbeite ich nicht mit Ihnen zusammen?« Es kam wie das herzzerreißende Winseln eines von seiner Mutter getrennten Welpen über seine Lippen.
»Nein. Ich brauche Sie in Denver, wo Sie Charles Post zur Hand gehen sollen. Sie wissen doch, wo sich sein Büro befindet, oder etwa nicht?« Colin Rhodes zeigte Bell sein Exemplar des Van-Dorn-Handbuchs, in dem Telefonnummern und Adressen jedes Van-Dorn-Büros inklusive der Außendienststellen in Europa aufgelistet waren. »Sie und Charles müssen alle Werkzeuglieferanten und Gießereien aufsuchen und in Erfahrung bringen, ob dort während der letzten Monate umfangreiche Bestellungen eines gewissen Joshua Hayes Brewster eingegangen sind. Notieren Sie sich am besten diesen Namen. Oder überhaupt irgendwelche Bestellungen, die jedem halbwegs vernünftigen Menschen den Eindruck vermitteln, dass eine kleine Mine zum ersten Mal in Betrieb genommen werden soll, und zwar eine Mine an einem so abgelegenen Ort, dass er nur unter Schwierigkeiten zu erreichen ist.«
Dieser letzte Punkt ergab sich aus der Überlegung, dass wenn Brewster und die anderen ihren Tod vorgetäuscht hatten, sie es nur dann mit Aussicht auf Erfolg tun konnten, wenn ihr neues Projekt absolut geheim blieb und sie dort – sobald sie ihre Arbeit aufnahmen – kaum in Kontakt mit der Außenwelt kämen.
»Lassen Sie durchblicken, dass ich einige Ausrüstungsgegenstände in der Little Angel Mine gefunden habe und wissen möchte, ob sie vor Kurzem an Brewster ausgeliefert wurden.«
»Was antworte ich, wenn ich um eine Liste der Werkzeuge gebeten werde, die Sie fanden?« Für jeden Durchschnittsmenschen war dies eine naheliegende Frage, aber ein Van-Dorn-Agent sollte jederzeit in der Lage sein, der Antwort auf diese Frage notfalls mit einer Lüge auszuweichen und stattdessen dem Lieferanten die infrage kommende Bestellliste abzuschwatzen. »Bitten Sie Charles, Ihnen zu demonstrieren, wie man so etwas macht. Ich habe jetzt keine Zeit dazu.«
Bell schwang sich ins Führerhaus des REO, schaltete die Zündung ein und instruierte den jungen Mr. Rhodes, die Anlasserkurbel zu drehen. Der Motor sprang sofort an. Bell spielte behutsam mit Gaspedal und Choke, bis er mit dem gleichmäßigen Lauf des Motors zufrieden war, und verließ den Parkplatz des Eisenbahndepots. Traurig schaute ihm Rhodes nach, sodass Bell sich vorkam, als habe er einen Hundewelpen ausgesetzt und schutzlos sich selbst überlassen.
Die Fahrt zurück zur Mine dauerte natürlich länger, aber Bell beeilte sich. Noch reichte die Zeit, die ihm zur Verfügung stand, aus, um an diesem Tag den Tauchgang durchzuführen und anschließend für ein heißes Bad und eine Nacht in einem frisch bezogenen Bett nach Central City zurückzukehren.
Als er bei der Little Angel Mine eintraf, war die Sonne schon aufgegangen, aber die Luft blieb eisig. Tony Wickersham saß in der Nähe der Feuerstelle, vor sich eine Holzkiste, in der sich die Übertragungsladungen befanden, die gebraucht wurden, um die TNT-Ladungen zu zünden, die sie im Mundloch des Stollens bereits in Position gebracht hatten. Der Wasserstrom, der sich aus dem dunklen Mineneingang ergoss, hatte nicht nachgelassen. Bell parkte neben dem Lager, und Wickersham legte die Dynamitstange, die er soeben kontrolliert hatte, beiseite und kam zu ihm herüber .
»Sie sind aber gut durchgekommen«, stellte der Engländer anerkennend fest, während Bell aus dem Führerhaus des REO herauskletterte, seine langen Beine streckte und schüttelte und zur Ladefläche ging.
»Dafür kann ich mich bei dem Lastwagen bedanken. Er bewegt sich so sicher wie eine Bergziege auf den Schlaglochpisten, die hier als Straßen bezeichnet werden.«
Anstatt den Koffer auf den Erdboden zu wuchten, kletterte Bell auf die Ladefläche und klappte den Deckel auf. Er entfernte eine dünne, lose aufliegende schützende Holzplatte und betrachtete die Auswahl an Geräten, die Alex Hecht für ihn zusammengestellt hatte. Der Rebreather befand sich in einem Gurtgeflecht, das man wie einen Rucksack auf den Schultern tragen musste. Er bestand aus drei Elementen – einem würfelförmigen Atemkalkbehälter, dem sogenannten Scrubber, in dem der vom Taucher ausgeatmeten Luft Kohlendioxid entzogen wurde, einer kupfernen Gasflasche, aus der mittels eines Regelventils Sauerstoff in den Atemschlauch geleitet wurde, und einer Gesichtsmaske mit zwei angeschlossenen Schläuchen, durch die frische Atemluft zugeführt und verbrauchte Luft abgeleitet wurde.
Um das System möglichst freihändig benutzbar zu machen, hatte Alex Hecht verschiedenartige Ventile und druckgesteuerte Rückflusssperren eingebaut. Trotzdem müsste noch einiges an Entwicklungsarbeit geleistet werden, um aus dem Rebreather ein benutzerfreundliches Gerät zu machen. Hätte sich Isaac Bell seine Funktion in San Francisco nicht genau erklären lassen, wäre ihm niemals auch nur im Traum eingefallen, sich auf ein solches Tauchabenteuer einzulassen.
Er legte den Rebreather vorsichtig beiseite. Als Nächstes kam ein Gürtel mit Bleigewichten zum Vorschein. Obgleich der Rebreather selbst ein beträchtliches Gewicht hatte, verlieh ihm der Sauerstofftank erheblichen Auftrieb, der durch zusätzlichen Ballast ausgeglichen werden musste. Dann stieß Bell einen überraschten Pfiff aus, denn er zog etwas aus dem Koffer heraus, das wie die äußere Hülle eines Mannes aussah, der bei lebendigem Leib gehäutet worden war. Es war ein Taucheranzug, wie es auf dem gesamten Globus keinen zweiten gab. Dieser Anzug war der zweite bedeutende Beitrag aus dem Kopf Alex Hechts für die Welt des Tauchens.
Im Gegensatz zu den unförmigen mit Gummi beschichteten Anzügen aus grobem Leinen, die von traditionellen Helmtauchern getragen wurden, war dieser hier weich und biegsam – ja, bis zu einem gewissen Grad sogar dehnbar. Seine Oberfläche fühlte sich wächsern an. Bell hatte keine Ahnung, was Hecht benutzt hatte, um das Material wasserfest zu machen, aber er war gewarnt worden, dass dieser Zustand nur etwa eine Stunde lang garantiert werden könne. Danach müsse er damit rechnen, dass Wasser durch den Stoff drang. Besonders anfällig seien die Gelenkpartien, an denen durch die natürliche Bewegung die Schutzschicht vorzeitig abgenutzt würde. Außerdem müsse der Anzug nach jedem Tauchgang gründlich gereinigt, getrocknet und neu beschichtet werden. Da er nicht wusste, wie viel Tauchzeit Bell einplante, hatte Hecht dem Anzug eine große Dose seiner patentierten Dichtungsmasse hinzugefügt.
Der Anzug wies an Knien und Ellbogen dicke Polster auf und wurde an Fußknöcheln und Handgelenken mit breiten elastischen Bünden dicht verschlossen. Hecht hatte für diesen Anzug noch keine geeigneten Handschuhe entwickelt und ging offenbar außerdem davon aus, dass die meisten Taucher Schwimmflossen an den Füßen trugen. Bell hatte sich noch nicht von den billigen Schuhen getrennt, die er kurz zuvor bei seinem ersten Ausflug in die Mine getragen hatte.
An der Halsöffnung befand sich ein kreisrunder Metallring mit einer Gummidichtung, aus dem Schraubgewinde aufragten, die in die Löcher des identischen Metallrings der Tauchermaske passten.
Je nach Tauchtiefe wurden die beiden Kragenringe mittels Spannmuttern miteinander verschraubt, die einen so enormen Druck auf die Gummidichtung ausübten, dass dort keine Luft austreten konnte. Da Bell nicht allzu tief tauchen würde, konnten die Flügelmuttern von Hand festgeschraubt werden, ohne dass zusätzlich ein spezieller Drehmomentschraubenschlüssel benutzt werden musste, der ebenfalls im Koffer zu finden war. Der Anzug war so großzügig geschnitten, dass Bells Körperwärme das Luftpolster, das ihn umgab, aufheizen würde, allerdings würde die Kälte seiner Umgebung doch bis zu ihm durchdringen, falls er sich für längere Zeit unter Wasser aufhielt.
Das letzte Ausrüstungsteil war eine Stablampe mit Trockenbatterie, die mit mehreren Lagen Gummiband umwickelt worden war, um sie wasserdicht zu machen. Die Batterie selbst hatte ein beträchtliches Gewicht, musste separat getragen werden und war daher am Gurtgeschirr des Rebreathers befestigt. Die Lampe hingegen war nicht größer als ein Bierkrug und durch eine Stromleitung, die zum Schutz vor Beschädigungen mit Stahldraht umwickelt war, mit der Batterie verbunden.
Tony Wickersham half Bell, sich in den Anzug hineinzuschlängeln, streifte ihm dann die Schuhe über die Füße und schnürte sie für ihn zu. Gemeinsam trugen die Männer das Kreislauftauchgerät zum Mineneingang. Das Grubenwasser strömte mit unverminderter Kraft aus dem Stollen heraus. Bell schnallte sich zuerst den Gürtel mit den Bleigewichten um. Dann hob Wickersham den Rebreather hoch und hielt ihn bereit, damit Bell sich das Gurtgeschirr anlegen und es festzurren konnte, damit das Atemgerät dicht auf seinem Rücken auflag. Der Rebreather war zwar schwer, aber der Detektiv konnte sich trotzdem weitgehend ungehindert damit bewegen. Außerdem erwartete er, die Last um einiges besser beherrschen zu können, sobald er sich vollständig unter Wasser befand. Als Nächstes kam der Helm, dessen Sauerstoffventil Bell bereits getestet hatte. Wickersham hob ihn über Bells Kopf und ließ ihn so vorsichtig herab, dass die Schraubgewinde des Anzugkragens von den Löchern der Helmdichtung aufgenommen wurden, und drehte die Flügelmuttern fest. Schließlich klemmte Wickersham die Batterie an, und Bell schaltete sie ein, ehe er sich dicke Lederhandschuhe anzog. Sie würden die Kälte nicht von seinen Händen abhalten, aber sie waren nötig, um sie vor den rauen Felsen der Stollenwände zu schützen. Er bedauerte, sie nicht schon bei seinem ersten Ausflug in die Little Angel Mine getragen zu haben.
Bell ließ sich Zeit und vergewisserte sich, dass seine Atemluft die richtige Gasmischung hatte und dass der Scrubber einwandfrei arbeitete. Nach drei Minuten gab Bell dem Engländer mit dem Kopf ein Zeichen. Wickersham verabschiedete sich von Bell mit einem Klaps auf die Schulter, und der Detektiv stieg in den eisigen Grundwasserstrom.
Er spürte zwar die Kälte, aber sie war bei Weitem nicht so schmerzhaft wie bei seinem ersten Bad. Wegen der Last des Tauchgeräts auf seinen Schultern bewegte er sich mit schwankenden, unsicher schlurfenden Schritten vorwärts, war aber schon bald weit genug vorgedrungen, um vollständig ins Wasser einzutauchen. Er stellte fest, dass es am besten war, auf Händen und Füßen zu kriechen, wobei er darauf achten musste, mit den Knien nicht zu heftig über den Stollenboden zu scharren. Diese Art der Fortbewegung hatte den zusätzlichen Vorteil, dem Grubenwasser ein stromlinienförmigeres Hindernis zu bieten und auf diese Weise seinen Strömungsdruck zu verringern. In kurzen Zeitabständen knipste er für Sekunden die Lampe an, um festzustellen, ob die nächsten zehn Meter hindernisfrei waren, dann löschte er das Licht aber wieder und kroch im Dunkeln weiter. Der Klang des Wasserstroms, der seinen Körper umspülte, in Verbindung mit dem rhythmischen Klappern der Ventile und seinem zischenden Atem in dem Tauchgerät auf seinem Rücken hatte anfangs eine eigentümlich beruhigende Wirkung.
Doch bereits nach wenigen Minuten ließ diese Wirkung nach, und die Dunkelheit fühlte sich wie ein Kerker an, dessen Wände von allen Seiten auf ihn zurückten und ihn zu zerquetschen drohten. Seine Fantasie erzeugte Horrorvisionen, die seine Bemühungen, die Ruhe zu bewahren, zu einem nahezu übermenschlichen Kraftakt machten. Er rechnete jeden Moment damit, dass eine aufgedunsene Wasserleiche mit der reißenden Strömung durch den Tunnel gewirbelt wurde und ihn gegen die Seitenwände rammte. Schnell knipste er seine Lampe wieder an und sah, dass sich vor ihm nichts anderes als ein leerer Bergwerksstollen befand. Ein Blick nach oben verriet ihm, dass er schon jetzt tiefer vorgedrungen war als bei seinem ersten Erkundungsgang. Das Wasser reichte bereits bis zur Decke des Stollens.
Diesmal verzichtete er darauf, die Lampe auszuschalten, während er weiter in die Mine eindrang. Er spürte, wie der Wasserdruck zwar deutlich zunahm, ließ sich jedoch nicht davon abhalten, sein Vorhaben fortzusetzen.
Schließlich, nach etwa einer Viertelstunde Tauchfahrt, stieß Bell auf ein Hindernis. Die Decke und die Seitenwände des Stollens waren eingestürzt. Fast der gesamte Querschnitt des Tunnels war mit Geröll gefüllt. Außerdem war an diesem Punkt die Strömung am stärksten, weil dort der Aquifer – die Grundwasser leitende Gesteinsschicht des Berges – in den Stollen mündete. Nun strömte das Wasser mit derart hohem Druck aus dem artesischen Brunnen, dass Bell nicht befürchten musste, dass die Strömung einzelne Gesteinsbrocken mit sich riss und einen unterirdischen Erdrutsch auslöste. Was sich an losem Gestein nach dem Stolleneinbruch angesammelt hatte, war längst schon durch den Stollen gespült worden. Trotzdem war er vorsichtig, als er sich über den Schutthaufen tastete. Auf seinem obersten Punkt musste er darauf achten, von dem Wasserstrahl, der von unten in den Stollen eindrang, nicht gegen die Tunneldecke gepresst zu werden. Sobald er das Hindernis überwunden hatte, ließ die Strömung abrupt nach, denn auf dieser Seite der Wasserscheide existierte kein Abfluss.
In dem nunmehr stillstehenden Wasser konnte er sich mühelos schwimmend fortbewegen, wobei der Lichtkegel seiner Lampe vor ihm dahintanzte, während er selbst ihm mit langen, kraftvollen Zügen folgte. Er hatte die Sohle der Little Angel Mine – ihren tiefsten Punkt in Relation zur Meereshöhe – überschritten und befand sich nun in einem leicht ansteigenden Stollenabschnitt. Wie Tony Wickersham ihm erklärt hatte, passierte er dort einige Nebenstollen, doch das Licht seiner Lampe war hell genug, um ihm zu zeigen, dass sie nicht mehr waren als enge, kurze Nischen, die nichts Ungewöhnliches enthielten, erst recht keine toten Bergleute.
Er gelangte an ein weiteres Hindernis, und im Gegensatz zu dem ersten Stolleneinbruch füllte dieser den gesamten Stollenquerschnitt von Seitenwand zu Seitenwand und vom Boden bis zur Decke aus. Und er war nicht auf die gleiche Weise von dem ausströmenden Grundwasser abgetragen worden wie die erste Barriere. Was Bell vor sich sah, war eine Masse geborstenen Gesteins, einige Brocken so groß wie Findlinge, andere kaum größer als eine Faust. Bell betrachtete die Trümmer nachdenklich eine ganze Minute lang, ehe er zögernd eine Hand ausstreckte und nur einen einzigen Stein aus dem dichten Verbund herauspflückte. Wie er erwartet hatte, löste er damit eine kleine Lawine nachrutschenden Gerölls aus. Einige Wochen – wenn nicht gar Monate – mühsamer Arbeit wären nötig, um so viel von dem Schutt wegzuräumen, dass man auf die andere Seite hinübergelangen könnte, um zu untersuchen, was sich dort befand.
Bell machte kehrt und bereitete sich darauf vor zurückzuschwimmen. Ein anderer hätte in seiner Situation vielleicht geflucht oder seiner Enttäuschung auf andere Art Luft gemacht, weil ihm der Zugang zur Lösung des Rätsels verwehrt war, aber Isaac Bell war anders gestrickt, und genau dies machte den hervorragenden Detektiv aus, der er tatsächlich war. Es kam nur höchst selten vor, dass er bei seinen Ermittlungen persönliche Motive verfolgte, daher verlor er niemals das eigentliche Ziel seiner Ermittlungen aus dem Auge und konnte sogar aus Rückschlägen einen Nutzen ziehen und praktisch im Handumdrehen seine Ermittlungstaktik ändern und vollkommen neue Wege beschreiten.
In Gedanken entwarf er bereits den Bericht für die Bloeser-Brüder. Die Frage, ob Joshua Hayes Brewster und die anderen Bergleute tatsächlich bei dem Unglück ums Leben gekommen waren, konnte er nicht beantworten. Sein ausgeprägtes Gespür für scheinbar nebensächliche Details und versteckte Ungereimtheiten brachte ihn allerdings zu der Überzeugung, dass sie nicht in der Little Angel Mine ums Leben gekommen waren, sondern ihren Tod aus welchen Gründen auch immer nur vorgetäuscht hatten.
Er kletterte über das erste Hindernis und achtete wieder mit besonderer Sorgfalt darauf, mit dem Taucheranzug nirgendwo hängenzubleiben und ihn dabei zu beschädigen. Bisher hatte er alle Anforderungen einwandfrei erfüllt. Bell spürte die Kälte seiner Umgebung, aber seine Gliedmaßen und seine Sinne waren absolut funktionsfähig. Sobald er den Felsrutsch überwunden hatte, schob ihn die Strömung in Richtung Tageslicht. Er drehte sich wieder zur Seite, um dem Grubenwasser eine geringere Angriffsfläche zu bieten und die Rückkehr zur Stollenmündung besser kontrollieren zu können. Wie schon bei seiner ersten Erkundung der Mine gelangte er um einiges schneller heraus als hinein. Kaum zwei Minuten waren verstrichen, als sein Kopf aus dem Wasser auftauchte, und kurz danach sank der Pegel so weit, dass er gehen musste, anstatt sich von der Strömung tragen lassen zu können. Schließlich erkannte er weit vor ihm auch schon den hellgrauen Fleck, der den Mineneingang markierte. Er knipste die Stablampe aus und hängte sie an die Trockenbatterie an seinem Gürtel. Dicht hinter dem Eingang auf der rechten Seite des Stollens ragte ein Vorsprung aus der Felswand, offenbar eine Art natürliche Sitzbank. Wie Bell sofort erkannte, war sie nicht leer wie zu Beginn seiner Tauchfahrt. Jetzt lag eine Gestalt auf der Bank und rührte sich nicht.