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Die sechs Nebengleise des Güterbahnhofs verschmolzen außerhalb des Rangierbereichs zu einem einzigen Gleis, und aus reiner Notwendigkeit begnügte sich Coulter mit einer mäßigen Geschwindigkeit, damit der Zug nicht entgleiste. Außerdem zogen sie mindestens ein Dutzend Waggons, wodurch die Lokomotive zusätzlich gebremst wurde.
Bell steckte seine Waffe ins Holster auf seinem Rücken.
»Wie haben sie uns gefunden, Mr. Bell?«, wollte Alvin Coulter wissen.
Allein diese Frage sagte Bell, dass er Coulter von seiner Liste der Verdächtigen streichen konnte. Er hätte sich auf die Frage, wer sich mit der Bedienung von Lokomotiven auskannte, zurückhalten und sie bereits im Güterbahnhof stranden lassen können, oder er hätte, wäre er der gesuchte Saboteur, die Kontrollen außer Betrieb setzen können, sobald er seine Position im Führerstand eingenommen hatte. Die Tatsache, dass sie unterwegs waren und das Frachtdepot hinter ihnen lag, konnte als hinreichender Beweis dafür betrachtet werden, dass er nicht der Mörder von Jake Hobart war. Die gleiche Logik traf allerdings nicht auf John Caldwell zu. Sich freiwillig zum Kohlenschaufeln zu melden, brachte ihn in eine bessere Position, um den französischen Agenten behilflich zu sein, als wenn er bei den Erzkisten geblieben wäre. Bell konnte froh sein, dass Vern Hall die Position des zweiten Heizers übernommen hatte, denn damit war in der Lok ein Unsicherheitsfaktor weniger.
»Ich muss zugeben, dass mir das nicht ganz klar ist«, sagte er ausweichend, obgleich er zu diesem Punkt eine ziemlich solide Theorie entwickelt hatte.
Es musste an dem Abend geschehen sein, als der Saboteur die Franzosen per Funk darüber unterrichtet hatte, dass die Bergleute von einem isländischen Walfangschiff abgeholt worden seien. Bell glaubte sich erinnern zu können, in der Messe, ehe er über Jake Hobarts Tod informiert wurde, erwähnt zu haben, dass Aberdeen ihr nächstes Ziel sei. Diese Information wurde sicherlich als Rückversicherung weitergegeben für den Fall, dass die Lorient es nicht schaffen sollte, die Hvalur Batur aufzuhalten.
Nachdem er erfahren hatte, dass einer der Männer ein Mörder war und heimlich das Radio benutzt hatte, hätte Bell ihr Reiseziel ändern sollen. Und wieder einmal hatte er seinen Gegner unterschätzt. Bisher war der Schaden, der durch diesen Fehler entstanden war, zwar nicht allzu groß, aber er erwartete, dass sich dies angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, jeden Moment ändern würde.
Er fuhr fort: »Wenn ich eine Vermutung wagen darf, würde ich sagen, dass das französische Schiff, das uns im Treibeis angegriffen hat, kurz bevor wir es versenkt haben, die Société des Mines davon in Kenntnis gesetzt haben muss, dass wir nach Aberdeen dampften. Nachdem sie die Lorient ein oder zwei Tage lang nicht erreichten, überquerten Gly und Massard zusammen mit einer Hilfstruppe den Ärmelkanal, um uns einen gebührenden Empfang zu bereiten.«
Alvin und die anderen schienen sich mit Bells Antwort zufriedenzugeben, und offenbar fiel keinem das riesige Loch in seiner Hypothese auf, das zwangsläufig zu der Frage führen musste, wie die Mannschaft der Lorient das Ziel des Walfangschiffs hätte erraten sollen.
Bell lehnte sich aus dem seitlich offenen Führerstand, ehe die Umzäunung des Rangierbahnhofs hinter ihnen zurückblieb. Er blickte an dem Zug entlang. Es schien, als stünde das Tor, das er im geschlossenen Zustand verkeilt hatte, nun offen. Es war nicht mehr von Bedeutung. Ihr Zug rollte weiter, steigerte stetig sein Tempo, und schon bald würden sie sich mit beruhigenden sechzig Stundenkilometern auf der Hauptstrecke nach Glasgow befinden.
»Was tun wir, wenn uns ein Zug entgegenkommt?«, fragte John Caldwell. Sein Jungengesicht war bereits mit Schweiß und Kohlenstaub verschmiert, der von seiner bisherigen Heizertätigkeit herrührte. Tom Price saß auf einem Hocker, bereit einzuspringen, sobald Caldwells Kräfte erlahmten.
Bell deutete auf die Telegrafenleitungen neben den Gleisen. »Sie haben sicherlich schon längst sämtliche Bahnhöfe auf der Strecke vor uns gewarnt. Irgendwann versuchen sie vielleicht, uns mit irgendeinem Hindernis aufzuhalten, aber bis dahin dauert es sicher noch eine Weile. Ich bezweifle, dass vor uns jemand schon mal einen englischen Eisenbahnzug gestohlen hat, daher werden sie wohl einige Zeit brauchen, um sich zu organisieren und zu entscheiden, wie sie darauf reagieren.«
»Werden wir es denn bis zur Südküste schaffen?«, fragte Coulter.
»Nein«, antwortete Bell mit Nachdruck, um keine Illusionen aufkommen zu lassen. »Glasgow ist eine große Stadt mit einer Menge Schienenverkehr. Sollten wir bis dorthin kommen, werden sie uns so gut wie sicher auf ein totes Gleis umleiten. Nein, wir müssen den Zug möglichst weit vorher verlassen.«
Schon bald versanken auch die Lichter Aberdeens hinter ihnen in der Dunkelheit, während sie dem Verlauf der Küste folgten. Das nur dünn besiedelte Farmland war genauso dunkel wie der Ozean auf ihrer linken Seite. Dankenswerterweise stand ein voller Mond am Himmel und übergoss die Landschaft mit seinem silbernen Schein, der die Felder aufleuchten ließ und schwarze undurchdringliche Schatten erzeugte.
Bell vermutete, dass Glys und Massards nächster Schritt darin bestand, alles daran zu setzen, vor dem Zug in Glasgow zu sein und das Erz während des unvermeidlichen Durcheinanders einer Massenverhaftung wegen Eisenbahnraubs – und das im wahrsten Sinne des Wortes – an sich zu bringen.
Um diesem Plan entgegenzuwirken, musste Bell das Erz und die Männer früher aus dem Zug holen und einen besseren Lastwagen mit höherer Leistung finden. Er brauchte schnellstens ein Telefon, um das Van-Dorn-Büro in London anzurufen. Er wusste, dass Joel Wallace mit zusätzlichen Helfern nach Norden unterwegs war, hoffte jedoch, dass der Stationschef jemanden als Telefonbereitschaft zurückgelassen hatte. Bell musste wissen, auf welchem Schiff Wallace die Passage zurück in die Vereinigten Staaten gebucht hatte. Er nahm an, dass sie von Southampton aus in See stechen würden, aber im Grunde war jede andere Hafenstadt als Ausgangsort ebenfalls möglich.
Johnny Caldwell gönnte sich schließlich eine Pause von der mühsamen Schufterei, schaufelweise Kohle in den gierigen Schlund der Feuerung zu werfen, und Vern Hall, der sich wahrscheinlich am meisten von allen von Krankheit und Entbehrungen erholt hatte, übernahm seinen Platz. Caldwell trat ans offene Fenster, um sich von der kühlen Aprilluft den Schweiß auf Gesicht und Hals trocknen zu lassen. Aber kaum hatte er sich aus dem Fenster gelehnt, um den Kopf in den Fahrtwind zu recken, da richtete er sich wie vom Blitz getroffen auf und fuhr herum.
»Mr. Bell!«, rief er und erhob die Stimme über das Fauchen der Flammen und das stählerne Klirren der Räder der Lokomotive. »Das müssen Sie sich ansehen!«
Bell schlängelte sich um Vernon Hall herum, um zum Fenster und zu Caldwell zu gelangen. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube.
Auf dem Gleis, das parallel zu dem ihren verlief, schob eine kleine Rangierlokomotive einen Pritschenwagen mit hohem Tempo in Richtung Lok an ihrem Zug entlang. Vor dem Flachbettwaggon rollte ebenfalls auf einer Pritsche ein von Hand zu bedienender Kran, mit dessen Hilfe schadhafte Gleisabschnitte ausgetauscht werden konnten. An seinem Haken und aufgrund des Tempos heftig hin und her schaukelnd, hing ein etwa drei Meter langes Schienenfragment. Mehrere von Massards Männern kauerten hinter dem Kran in sicherer Deckung vor Bells Pistole. Sie warteten darauf, einen Vorsprung vor Bells Zug herauszuholen, um dann das Gleisstück vor die Lokomotive zu schwenken und auszuklinken. Falls die Lok nicht augenblicklich aus den Gleisen spränge und sich mit ihren stählernen Rädern ins Erdreich wühlte, wäre der Gleisabschnitt zumindest ein massives Hindernis, das die Fahrt des Zugs abrupt abbremsen würde.
Massard ließ den Blick zwischen seinen Männern und Bells Zug hin und her springen, um die nächste Phase seines Vorhabens zu starten. Seine Schrotflinte hielt er halb im Anschlag in der Armbeuge. Er war noch etwa fünfzehn Meter entfernt und entdeckte Bell sofort. Er feuerte beide Läufe aus der Hüfte ab, und diesmal hatten die Schrotkugeln einen weiten Streuwinkel, weil er die Chokes von den Läufen abgeschraubt hatte. Bell wurde zwar nicht getroffen, aber in dieser Nähe zerrte das Prasseln von Bleischrot auf Stahl an seinen Nerven.
Der unterschiedlichen Geschwindigkeit der beiden Züge nach zu urteilen würde die kleine Lokomotive mit dem Kran- und dem Pritschenwagen den langen Zug schon in wenigen Minuten überholen. Bell musste also schnell handeln, sonst wären sie alle dem Tod geweiht.
In den Sekunden, die der Franzose brauchte, um die Kammer der exklusiven Waffe aufzuklappen, die beiden leeren Patronen zu ersetzen und die Kammer wieder zu schließen, hatte sich Bell an Tom Price vorbeigedrängt und war auf den Kohletender hinter der Lokomotive geklettert. Von der Rückwand des Führerstands nahm er einen Bolzenschneider. Er kannte sich mit englischer Eisenbahntechnik gut genug aus, um zu wissen, wozu dieses Werkzeug gebraucht wurde.
»Holen Sie alles aus der Lok raus, was in ihr steckt!«, rief er Alvin Coulter zu und setzte den Weg zum hinteren Ende des Tenders fort.
Er hielt sich auf der Seite des Tenders, wo Massard ihn vom parallelen Gleis aus nicht sehen konnte. Obgleich leichter und schneller als die Güterzuglokomotive, hatte die Rangierlok, die Massard benutzte, einen entscheidenden Nachteil. Sie führte keinen Wasser- oder Kohlevorrat mit, da sie nicht konstruiert war, um den Rangierbahnhof und seine engere Umgebung zu verlassen. Massard stand also nur ein enges Zeitfenster zur Verfügung, um seinen Plan umzusetzen, Bells Zug mit dem Byzanium-Erz und den Bergleuten zum Entgleisen zu bringen, ehe ihm im wahrsten Sinne des Wortes der Dampf ausging.
Wenn Bell seine Geschwindigkeit ausreichend steigern konnte, wäre Massard am Ende gezwungen, seinen Angriff abzubrechen.
Auf dem Tender war Bell weitgehend sicher, aber sobald er sein hinteres Ende und die Lücke zwischen sich und dem Güterwagen mit den Männern und dem Erz erreichte, ergäbe sich für Massard vielleicht die Chance, einen gezielten Schuss abzufeuern. Langsam robbte er über das Dach des Tenders, um einen Blick auf den anderen Zug zu werfen. Massard hatte keine Möglichkeit, mit seinem Mann in der Rangierlok zu kommunizieren, der den Lokführer in Schach hielt. Daher konnten sie keinen Zeitplan verabreden. Und doch befanden sich die vorderen Puffer des Kranwagens mit der Lücke zwischen Tender und Güterwagen auf einer Höhe – also genau in der Position, die es Massard ermöglichte, Bell ein blutiges Ende zu bereiten.
Bell konnte es sich nicht leisten, noch länger zu warten und seine Gegner einen größeren Vorsprung herausholen zu lassen. Er machte kehrt, kroch ein Stück in Richtung Lokomotive, ehe er sich wieder zum Güterwagen umdrehte. Dann sprang er auf und rannte tief geduckt los, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Der schwere Bolzenschneider behinderte ihn dabei beträchtlich.
Massard entdeckte ihn und ging in Position, um zu feuern. Bell überwand die Distanz zwischen Tender und dem etwa einen halben Meter höheren Güterwagen mit einem Sprung. Ein Splitter Bleischrot grub eine Furche in seinen Nacken, die wie ein rot glühendes Brandeisen brannte, das auf seine Haut gepresst wurde. Er landete auf allen vieren auf dem Güterwagendach und blieb liegen, damit Massard ihn nicht sehen konnte.
Bell hörte, wie unter ihm die Schiebetür des Güterwagens geöffnet wurde, und wollte schon einen Warnruf ausstoßen, aber dieser ging im Donner eines Schrotflintenschusses unter. Dieser Schuss war sorgfältiger gezielt, und der Schrei eines tödlich Verwundeten mischte sich in das Pfeifen des Fahrtwindes, der an Bells liegender Gestalt zerrte. Die Tür wurde augenblicklich geschlossen. Massard lud zwei frische Patronen in seine Flinte und schoss abermals, aber keine dieser Schrotkugeln konnte die stählerne Seitenwand des Güterwagens durchschlagen.
Auf dem Bauch kroch Bell zum hinteren Ende des Güterwagens. Der entbehrungsreiche Kampf, dem Bednaya Mountain sein Byzanium-Erz zu entreißen und es in die Vereinigten Staaten zu transportieren, hatte ein zweites Menschenleben gekostet.