Loslassen

»Die Dinge, auf die es im Leben wirklich ankommt, kann man nicht kaufen.«

WILLIAM FAULKNER

Ausgeträumt und losgelebt

Auch wenn es kitschig klingt, aber uns trägt ein Traum. Für ein Jahr wollen wir aussteigen aus dem engen Netz der Verbindlichkeiten, Verpflichtungen und Erwartungen. Die Lebenskunst neu entdecken, die Freiheit unverplanter Zeit erleben, uns als Paar und Familie anders wahrnehmen. Es ist ein Traum, den wir mit vielen Menschen teilen. Lieber ein »time out«, als ein »burn out«, das ist unsere Überzeugung nach zwanzig engagierten Berufsjahren. Aus Liebe zum Leben haben wir den zeitweisen Ausstieg in der Mitte unseres beruflichen Lebens gewagt und wollen gemeinsam einsteigen ins Leben der anderen Art.

Das Träumen von unmöglichen Dingen scheint zu unserer Lebensgeschichte zu gehören. Als wir uns mit fünfzehn in der Jugendgruppe einer jungen Gemeinde im Osten Deutschlands kennenlernten, träumten wir davon, die Welt zu verbessern. Schwerter zu Pflugscharen hieß das Motto, das wir uns als Aufnäher an Rucksäcke und Parkas nähten. Es war eine äußerlich sichtbare Form des Widerstandes junger Menschen gegen die Fremdbestimmung durch die Funktionäre in der DDR und dieser sichtbare Mut machte uns stolz. Der Druck von außen förderte den Zusammenhalt im Inneren. Wir mussten uns darüber klar werden, wofür wir einstehen und welches Risiko wir dafür eingehen wollten. Diese Erfahrung, verbunden mit einem persönlichen Glauben an die Kraft Gottes, die dem Menschen zugänglich ist, der sich dafür öffnet, gab uns Energie und Zuversicht. Wir träumten den Traum zu studieren, eine Familie zu gründen, die Welt zu gestalten und unseren guten Teil dazu beizutragen. Der Traum endete an einem Tag im Mai 1982, als Beates Familie die Bewilligung zur Ausreise in den Westen Deutschlands bekam. Niemand hätte damals für möglich gehalten, dass wir uns jemals wiedersehen. Die Mauer ging mitten durch unsere Beziehung. Olaf durfte nicht nach Westdeutschland, Beate bekam kein Besuchsvisum in den Osten. Doch der Traum von einer gemeinsamen Zukunft gab uns Fantasie und öffnete neue Wege. Wir schrieben unzählige Briefe, sparten Geld und machten uns auf weite Reisen. Fünf kurze Treffen in der damaligen Tschecheslowakei und in Ungarn waren die Highlights in den zwei Jahren der Trennung.

Entgegen aller Bedenken ging die Beziehung nicht in die Brüche. Wir verlobten uns in dieser Zeit und machten deutlich, dass wir dem Unmöglichen eine Möglichkeit einräumen wollten. Der Glaube an Gott, die kraftvollen Geschichten der Bibel mit ihren Wundern und eigenwilligen Wegen waren für uns eine starke Kraftquelle. Wir haben daraus den nötigen Mut gewonnen, gegen staatliche Willkür um unsere Partnerschaft zu kämpfen. Es war ein unglaubliches Glück, als unsere deutsch-deutsche Liebesgeschichte trotz Stasi-Störungen, Bürokratendschungel und Hoffnungslosigkeit 1984 mit einem Happyend gekrönt wurde. Olaf erhielt die Erlaubnis zu einer internationalen Eheschließung, die verbunden war mit der Ausreise in die Bundesrepublik. Der Traum vom gemeinsamen Leben wurde wahr. Ein Rucksack mit Kleidern und eine Gitarre war alles, was Olaf zum Beginn unseres gemeinsamen Lebens mitbrachte. Unbeschreiblich dieses Gefühl, sich in die Arme zu fallen und zu wissen, da ist jetzt ein Wunder geschehen und ein Traum lebendig geworden. Zwei Wochen später waren wir verheiratet, sehr unspektakulär ohne große Feier und viele Gäste. Geld für eine Hochzeitsreise hatten wir nicht, dafür die Aussicht, dass unser ganzes Leben eine Reise werden würde.

Viele weitere Lebensträume sind seit dem wahr geworden. Erfüllte berufliche Jahre, in denen wir uns innerhalb der evangelischen Kirche für Familien, Kinder und Jugendliche engagiert haben. Erfolgreiche Jahre mit ausgebuchten Veranstaltungen, prägenden Seminaren, veröffentlichten Fachbüchern, umgesetzten Visionen.

Der stärkste Glücksfaktor ist unser gelungenes Familien-Team. Eine erfrischende Partnerschaft und drei fantastische Kinder machen dieses Team aus. Janine, Florian und Nora sind starke Persönlichkeiten, echte Freunde und eine Inspiration für uns. Wir haben uns immer als gegenseitige Wegbegleiter verstanden, offen unsere Ideen und Hoffnungen aber auch Schwächen und Verluste miteinander geteilt. Die Kinder waren es auch, die uns Mut machten, den bisher unverwirklichten Traum nicht auf irgendwann zu verschieben, dem Lockruf der Wildnis zu folgen und endlich aufzubrechen zu einem Auszeitjahr in die Weite Kanadas.

Irgendwann bist du zu alt, um wie ein Cowboy am Feuer zu sitzen, sind die Knochen zu steif, um reiten zu lernen. Irgendwann sind alle Bücher geschrieben und dir ist die Lust am Schreiben abhanden gekommen. Irgendwann hast du weder Kraft noch Mut, das gesundheitliche Risiko eines längeren Auslandsaufenthaltes einzugehen. Irgendwann meldet der innere Kassenwart Bedenken an oder steigen die Kinder aus dem Nest der Familie endgültig aus.

Wir sind Kanada-Fans. Um es genau zu sagen, uns zieht es in die Weite, den wilden Westen. Jeder von uns liebt diese gigantische Natur auf eine eigene Art. Beate eher mit einem Cappuccino in der Hand und dem Blockhaus im Rücken. Olaf auf dem Rücken eines Pferdes und in großer Einsamkeit. Nora kann sich zeitlos im Spiel in der Natur verlieren und auch Janine und Florian lieben das Outdoor- und Abenteuerleben. Zahlreiche Schwedentouren mit dem Kanu oder Planwagen, Hüttenwanderungen und Blockhausaufenthalte haben sie mit uns erlebt. Gemeinsam ging es schließlich zu einer Entdeckungsreise nach Westkanada und es rollten Tränen beim Abschied. Diese Gegend zog uns förmlich an. Hier wollten wir so gerne einmal für längere Zeit leben. Eintauchen in die Welt der Siedler, Pioniere und Cowboys, von denen es nicht mehr viele gibt. Abtauchen in die Einsamkeit und Weite der Natur, die weltweit immer mehr erschlossen und damit umso kostbarer wird.

Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, einen Traum umzusetzen? Die klare Antwort lautet: nie! Es gibt diesen passenden Zeitpunkt nicht. Es sei denn, du machst ihn möglich. Jemand verglich es einmal treffend mit der Familienplanung. Kinder zu haben, gemeinsam mit ihnen die Welt zu entdecken ist schön, aber wenn du dir dann vorstellst, die berufliche Karriere zu unterbrechen, Windeln zu kaufen, den ungestörten Schlaf aufzugeben und mit Kinderwagen statt Mountainbike unterwegs zu sein, dann wird die Planung wackelig. Möglicherweise bleibt es beim Wunschgedanken und du traust dich nicht, ihn in die Wirklichkeit zu holen, weil das Risiko plötzlich zu groß erscheint.

Ein Jahr Auszeit mit Familie zu planen ist ähnlich. Es hört sich super an. Du träumst von Freiheit und davon, am Wildwasser Bücher zu schreiben, die Mustangs über das Grasland galoppieren zu hören, dein Kind am Feuer vor dem Tipi spielen zu sehen, interessante Menschen kennenzulernen und sagst: »Yes, we can!«

Dann wachst du auf aus den Tagträumen und überlegst, wie man diesen Traum in die Wirklichkeit holen kann. Spätestens hier werden die Knie zum ersten Mal weich. Die Gefahr, nun mit spitzem Bleistift einen Strich unter diesen Traum zu machen, ist groß. Das erklärt, warum viele Menschen von einem Ausstieg träumen und sprechen, aber nur ein Bruchteil davon den Traum auch verwirklicht. Zwar wird die Zahl der »Ich bin dann mal weg«-Reisenden immer größer und die Namen der Auszeiter immer bekannter, aber die meisten Familien sind davon weit entfernt.

Ein Sabbatical ist eine Freiheit, die man sich teuer erkaufen und hartnäckig erarbeiten muss. Leider bieten nur wenige Arbeitgeber Programme an, um Auszeiten in die berufliche Laufbahn zu integrieren. Ein kleiner Teil innovativer Unternehmen hat erkannt, dass ein gezieltes Sabbatical die Arbeitskraft ihrer Führungskräfte erhält, gesuchte Spezialisten ans Unternehmen bindet oder zumindest zu einer erhöhten Loyalität führt. Sie nutzen dieses Wissen für einen Standortvorteil, von dem andere Arbeitgeber Lichtjahre entfernt sind, obwohl in ihren Firmen berufliche Erschöpfungssyndrome, Lustlosigkeit, Routine und fehlender Gestaltungsspielraum zu immensen wirtschaftlichen Einbußen führen.

Ein Familiensabbatical ist etwas äußerst Ungewöhnliches. Bis auf eine Schweizer Unternehmerfamilie und eine deutsche Lehrerfamilie, die sich ein Sabbatjahr mit schulpflichtigen Kindern – ebenfalls in Kanada – gegönnt oder hart erarbeitet haben, kennen wir keine weiteren Beispiele. Als ich »Familiensabbatical« Monate zuvor im Internet recherchierte, begegnete mir ein ganz anderes Verständnis des Begriffs, nämlich, Auszeit von der Familie zu haben. Klar, dass wir nicht dieser Meinung sind. Für uns bedeutet ein Familien-Sabbatical eine gezielte, zeitlich befristete Auszeit von beruflichen, zeitlichen oder räumlichen Verbindlichkeiten mit dem Ziel, seelisch und körperlich aufzutanken, ungelebte Träume zu realisieren und dies gemeinsam mit der ganzen Familie umzusetzen.

Unser Sabbatjahr ist keine Einzeltat, auf die wir stolz sind, sondern ein Projekt, bei dem wir praktische Hilfe und viel Rückenwind gebraucht und erhalten haben. Darauf schauen wir voller Begeisterung und Dankbarkeit zurück. Deshalb wollen wir das, was wir erlebt haben, teilen. Wir verstehen unsere Auszeit nicht zuletzt als stellvertretendes Erlebnis. Mit der Inspiration, die uns ermöglicht wurde, möchten wir anderen Menschen Lebensfreude und Kraft für ihren Alltag zurückgeben.

Worauf kommt es an im Leben? Ist es die berufliche Laufbahn, der gesellschaftliche Status, der finanzielle Erfolg? Wer sich nicht verlieren will in der Flut äußerer Anforderungen und innerer Ansprüche, der muss sich immer wieder die existenzielle Frage stellen: »Wer bin ich?«

Wer bin ich ohne bisherige Rollen und berufliche Anerkennung? Wir stellen uns diese Frage, denn wir können uns nicht mehr über den Beruf definieren. Um dieses Auszeitjahr umsetzen zu können, haben wir beide unsere Arbeitsstellen gekündigt. Wer sind wir? Abenteurer? Auszeiter? Lebensneugierige? Die Zugehörigkeit zu einem Ort ist hinfällig, wir sind jetzt förmlich vogelfrei. Das Reihenhaus wurde dem Vermieter übergeben. Einen Großteil der Möbel und des Hausrates haben wir durch einen »Garage-Sale« verkauft, um mit dem Erlös unsere Reisekasse aufzufüllen. Versicherungen sind aufgelöst oder stillgelegt. Für uns geht es nicht um »Geld oder Leben«, sondern um »Geld zum Leben«, das uns ermöglicht, ein Jahr lang auszusteigen.

Insofern sind wir auch Verrückte, Lebenshungrige – auf jeden Fall Träumer und Idealisten, die ihre Ideen verwirklichen wollen. Wir folgen unserem Lockruf des Lebens.

Sterbende hinterlassen ein Testament, das ihren letzten Willen für die Hinterbliebenen festhält. Lebende könnten ein Idealment schreiben, eine Willenserklärung, die ihre Träume auf die Wirklichkeit fokussiert und ihre eigenen Taten leitet.

Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum! Diesem Zitat begegneten wir immer wieder und es war der Anstoß zur Tat.

Uns wurde klar: Wenn du in Vorträgen lebendig sprechen, als Coach kompetent beraten und in deiner Tätigkeit authentisch sein willst, dann musst du dies auch selbst erleben und vorleben. Begegnungen mit den Schattenseiten des Lebens haben uns aufgerüttelt. Todesfälle, plötzliche Krankheiten, Trennungsgeschichten zogen sich wie Risse durch das Glas vom Bild eines planbaren Lebens und machten uns deutlich, wie brüchig unser Glück und unsere Vorstellungen von der Zukunft sind. Uns wurde klar, dass unser Leben nicht berechenbar und trotz aller Planung nicht abzusichern ist. Wir spürten, dass wir kein Recht auf Gesundheit, wohl aber eine Verantwortung für unser Leben haben. Wir haben eigentlich nur den Augenblick, den wir gestalten können. Pläne und Vorsorge sind durchaus wichtig, aber es gibt keine Garantie für deren Gelingen. Unsere innere Erkenntnis wurde drängender: »Verschiebe deine Träume nicht auf später. Möglicherweise gibt es kein später, sondern ein zu spät!«

Wie dieses »zu spät« im beruflichen Umfeld aussieht, konnten wir immer wieder beobachten. Enttäuschungen machen aus engagierten Menschen desillusionierte Satiriker. Sie lassen sich nicht mehr auf Neues ein und Lebenslust ist zu einem Fremdwort geworden. Altern wird zur Last, Wagnisse werden vermieden, die Schuld bei anderen gesucht und Träume begraben. Damit wollten wir uns nicht abfinden. Wir waren aufgerüttelt! Denn Lebenszeit ist unbezahlbar und unwiederbringlich.

Viele Kinder sind mit dem Bilderbuch »Frederick« von Leo Lionni aufgewachsen. In einfachsten Bildern, mit ganz schlichten Texten erzählt es die Geschichte der Maus Frederick, die zum Erstaunen und Ärger der anderen Mäuse ausschert aus dem gewohnten Sammlerdasein. Statt Nüsse, Körner und Samen zu horten, sitzt Frederik in der Sonne. Er sammelt Sonnenstrahlen, Geschichten und Farben des Sommers für die kalte Jahreszeit. Dass dies nicht nur ein faules Genießen oder ein sinnloser Zeitvertreib ist, wird erst deutlich, als die Vorräte der Mäuse in der Kälte des Winters zu Neige gehen. Hat Frederick vorher von den Vorräten der anderen gelebt, gelingt es ihm nun, durch seine Vorräte an Fantasie und Geschichten die Mäusefamilie vor Verzweiflung und Depression zu bewahren. Das Feuerwerk seiner Erzählungen gibt den anderen Mäusen Kraft zum Überleben. Es wird deutlich, dass auch er wertvolle Schätze gehortet hat, die er nun bereitwillig mit den anderen teilt. Die Mäusefamilie hat gemeinsam eine Chance, die Härten des Winters zu überleben. Der Autor dieser Kindergeschichte hat tatsächlich einen Doktortitel in Volkswirtschaftslehre. Er arbeitete bei einem Wirtschaftsmagazin, bevor er sich entschloss, von New York nach Italien zu ziehen, um sich seiner Leidenschaft, der Grafik und dem Schreiben von Kinderbüchern, zu widmen. Wir lieben dieses Kinderbuch, weil es ein Wirtschafts- und Lebensklassiker gleichermaßen ist.

Menschen brauchen die Vielfalt. Wir leben von dem, was andere bereit sind, in die Gemeinschaft einzubringen und auch zu teilen. Wir haben ein Recht auf unsere Träume und deren Verschiedenheit.

Wir jedenfalls brauchen Farben, Geschichten, Sonnenstrahlen, aber auch Schwarzbrot, einen guten Wein, Käse und Früchte. Was wäre ein Leben ohne Gespräche, Freundschaft, Liebe und Lachen? Ab und zu muss man Veränderung wagen, denn es gibt kein Entweder-Oder, sondern auf den Wechsel kommt es an. Darin liegt das Neue, das Erfrischende und das, was uns lebendig macht.

Kurz gesagt: Wir fühlen uns wie Frederick, als wir nach Kanada aufbrechen, um Geschichten des Lebens zu sammeln.

Einstieg in den Ausstieg

Das Flugzeug, das uns Mitte August nach Kanada bringt, hat den Namen »Stuttgart«, was wir als verheißungsvolles Signal für unsere Reise nehmen. Von Stuttgart aus machen wir uns auf den Weg, um ein Jahr lang Westkanada zu erleben, und nach Stuttgart soll es in 365 Tagen wieder zurückgehen. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht, wo wir dann wohnen, was wir arbeiten und mit welchen Erfahrungen wir zurückkehren werden. Unser einziger Fixpunkt ist das Gymnasium, an dem wir Nora angemeldet und gleichzeitig um eine Freistellung für den einjährigen Auslandsaufenthalt gebeten haben. In Kanada wird Nora ab Mitte September eine kleine Dorfschule in Bridge Lake besuchen. Wir haben schon im Vorfeld mit dem Cariboo Schuldistrikt in British Columbia Kontakt aufgenommen und das erforderliche Schulgeld gezahlt.

Unser Versprechen an die Zehnjährige ist: »Wir werden ein Abenteuerjahr als Familie erleben und unser Bestes dafür geben, dass du in einem Jahr in die gleiche Schule wie die älteren Geschwister gehen und deine Freunde wiedersehen kannst.« Nora teilt unseren Traum, hat seit langem die Tage bis zu unserer Abreise gezählt und ist voller Vorfreude auf Tiere, Wildnis und gemeinsame Abenteuer. Es ist erstaunlich, wie leicht sie Abschied nehmen konnte von vielen Spielsachen, die sie verkaufte, sowie von einem Zuhause, das sie seit ihrer Geburt kennt und liebt. Kurz vor unserer Abreise hat Nora noch einmal jeden der Bäume im Garten umarmt und sich förmlich von ihrer Kindheit und diesem kleinen grünen Paradies verabschiedet. Zu diesem Zeitpunkt kann keiner von uns wissen, dass nach unserem Auszug ein radikaler Kahlschlag des Gartens erfolgen wird. Als wir Wochen später aus E-Mails davon erfahren, dass nur einer der gewachsenen Bäume stehen geblieben ist, können wir es kaum glauben, aber wir sind froh, unserem Kind den Anblick des kahlen Ziergartens ersparen zu können. Vielleicht hat Nora intuitiv das Richtige gemacht mit ihrem innigen Abschied.

Wir alle haben in den letzten Wochen und Monaten vor unserer Abreise das Loslassen und Abschiednehmen gelernt und praktiziert. Bücher, Möbel, Spielzeug, Gewohnheiten, Kollegen, Arbeitsfelder und schließlich ein schönes Heim haben wir aufgegeben.

Der Abschied von unseren beiden älteren Kindern, die in Deutschland bleiben und studieren, fällt uns schwer. Tröstlich ist die Gewissheit, dass sie uns dieses Jahr von Herzen gönnen und wir uns zu Weihnachten in Kanada wiedersehen werden. Unser ungewöhnlicher Schritt ermöglicht es ihnen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Sie werden ohne die Fürsorge, aber auch ohne Eingriffe und Ratschläge der Eltern ihr Leben organisieren. Beruhigend, dass uns Freunde und die Großfamilie versichern, die beiden jederzeit zu beraten und zu beherbergen.

Für unsere eigenen Eltern ist es tröstlich zu wissen, dass wir weder auswandern noch für Jahre ans andere Ende der Welt ziehen werden. Wie für viele ältere Menschen ist es dennoch nicht ganz leicht für sie, eigene Sichtweisen zurückzuhalten und die Kinder, selbst wenn diese längst erwachsen sind, ihren Weg ziehen zu lassen. Ihre guten Wünsche und Gedanken begleiten uns jetzt neben einem Berg von Gepäck.

Das wertvollste Stück unter den sechs Taschen, Koffern und dem Handgepäck ist nicht die teure Fotoausrüstung und auch nicht der neue Laptop, sondern die große Plastikbox mit Aufschrift: »Vorsicht – lebende Tiere«. Unsere Hündin Aruna, ein kluges und anhängliches Tier, wird uns in diesem Jahr begleiten. Mit Impfungen und implantiertem Chip versehen, nach einer Beruhigungstablette schläfrig in ihrer Box liegend, haben wir sie am Frankfurter Flughafen den Mitarbeitern der Fluggesellschaft übergeben. Alle, auch die Männer der Familie, hatten anschließend Tränen in den Augen. Es war eine außergewöhnlich emotionale Situation, denn wir alle fragten uns insgeheim, ob das Tier im richtigen Flugzeug landen und die Turbulenzen gut überstehen würde. Doch zum Glück war die einzige Panne eine große Pfütze, die der Hund nach dreizehn Stunden Box-Aufenthalt schließlich auf dem plüschigen Teppich im Ankunftsterminal in Vancouver hinterließ.

Bereits nach acht Stunden Flug sehen wir tief unter uns die Weite des kanadischen Nordens und die ersten schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains. Doch vermissen wir Noras sonstige Begeisterung. Ein Blick in das Gesicht der Kleinen zeigt, dass sie hohes Fieber bekommen hat. Es ist genau das, was man sich bei der Einreise mit einem Berg von Gepäck in ein fremdes Land und bevorstehenden kritischen Fragen von Behörden nicht wünscht. Wir wissen nicht, ob es der seelische Stress der letzten Wochen, das emotionale Abschiednehmen am Flughafen, die Ungewissheit vor diesem großen Abenteuer oder die üblichen Viren sind, die man sich auf Reisen schnell einfängt. Aber es hilft kein Jammern. Wir brauchen Gelassenheit, innere Stärke und Zuversicht bei unserem Abenteuer. Hier können wir sie gleich anwenden. Beate hat glücklicherweise Medizin im Handgepäck und so überstehen wir das Nadelöhr Flughafen. Der Beamte am Schalter hört gerne, dass wir uns auf sein Land freuen, Geschichten sammeln und Kraft tanken wollen. Schließlich haben wir den erforderlichen Einreisestempel im Pass und die Auflage, dass wir nach einem halben Jahr das Land verlassen müssen. Dies ist uns klar, denn in Kanada gibt es kein ganzjähriges Touristenvisum. Wir haben uns auf eine Unterbrechung eingestellt, auch wenn es uns anders lieber gewesen wäre. Wo wir nach sechs Monaten hinfliegen werden, haben wir noch nicht entschieden. Jetzt wollen wir erst einmal ankommen.

Der Einstieg in unseren Ausstieg an diesem heißen Augusttag in Vancouver ist mühsam. Wir warten fast zwei Stunden, bis wir von unserem Wohnmobilvermieter abgeholt werden. Irgendwann landen wir schließlich auf einem unromantischen Gelände voller Wohnmobile, wo es bei sommerlichen dreißig Grad und trotz Schlafdefizit erst einmal Packen, Einräumen und Sortieren heißt. Am nächsten Morgen verlassen wir und etliche weitere Familien in vollgetankten Wohnmobilen, versorgt mit Touristentipps und Bärenspray das Gelände. Wir sind die einzigen, die ihr Gefährt für fünf Wochen behalten werden. Es ist nicht das neueste Modell, aber dafür sind Hunde erlaubt.

Zwei Stunden später lehnen wir zu dritt an der Reling der »Queen of England«, die uns nach Swartz Bay, Vancouver Island bringen wird. Wir meinen, irgendwo in den Schärengebieten vor Stockholm unterwegs zu sein. Die Gulf Islands in der Meerenge zwischen Vancouver und der vorgelagerten 400 Kilometer langen Insel Vancouver Island sehen verblüffend ähnlich aus. Einladende sandige Buchten, runde Felsblöcke, die aus dem Wasser ragen, viele Kiefern, die ihre Wurzeln in den kargen Boden krallen, helle Segelboote und sogar rote und graue Holzhäuser erinnern uns an vergangene Schwedenaufenthalte. Lediglich die rote Flagge mit dem Ahornblatt, die am Bug im Wind flattert, und die englischen Ansagen aus dem Lautsprecher machen deutlich, dass wir tatsächlich in Kanada sind.

Das kleine, beschauliche und sehr britische Städtchen Viktoria ist die Hauptstadt von British Columbia. Wir beschließen, den Ort nur zu streifen. Uns zieht es an den offenen Pazifik, den westlichsten Punkt unserer Reise. »Worauf freust du dich am meisten?«, wurde ich in den letzten Tagen in Deutschland oft gefragt. Was soll man sagen, wenn es so vieles gibt, was einen reizt, dass man die Fülle kaum beschreiben kann. Mit leuchtenden Augen sagte ich dazu: »Ich freue mich, das Sabbatical mit den Füßen im Sand und dem Blick auf den grenzenlosen Horizont des Pazifiks zu beginnen.«

Endlich ist es so weit. In der späten Nachmittagssonne klettern wir über riesige Treibholzstämme, hören das Rauschen des Meeres, sitzen zu dritt im Sand und hängen unseren Gedanken nach. Wir versuchen, die Seele nachkommen zu lassen, und begreifen erst allmählich, dass der lang ersehnte Freiraum nun vor uns liegt. Was wird uns in diesem Jahr begegnen? Wie werden wir uns verändern? Wird uns die Wildnis wieder loslassen oder ist es ein Abschied aus Deutschland für immer?

Das Treibholz ist glattgeschliffen und schimmert matt silbrig. Ich wünschte, ich könnte einen ganzen Container voll davon mitnehmen. Mich fasziniert dieses besondere Holz. Welche Reise haben diese Baumriesen hinter sich? Welche Stürme haben sie aus ihrem Lebensraum gerissen? Ich denke an die Wurzeln meines Lebens und daran, dass wir einige Wurzeln aufgegeben haben, um neue Ufer zu erreichen. Wurzeln und Flügel sollst du einem Kind geben, hat schon Goethe empfohlen. Genau dies wollen wir unseren Kindern, aber letztlich auch dem inneren Kind in jedem von uns geben. Halt, Flexibilität, Stärke, Nahrung – alles Funktionen von Wurzeln. Manche sind stark, andere verästelt und dünn. Ein Baum, der seine Wurzeln in die Tiefe gräbt, hält dem Sturm besser stand. Genauso braucht der Mensch eine Verankerung. Sind unsere Wurzeln stark genug für dieses Jahr? Reichen Selbstvertrauen, innere Seelenkraft, Glaubenstiefe, Verbundenheit, Liebe und Zuversicht aus?

Für die seelischen Flügel wünschen wir uns Wachstum in diesem Sabbatical. Beate möchte mutiger und gelassener, Olaf weniger kopfgesteuert und ein bisschen verrückter werden. Visionen für unsere Zukunft dürfen entstehen und die Leichtigkeit soll sich mehren.

Nora braucht nach diesem ersten Ausflug vor allem Wärme, Geborgenheit, Ruhe und Medizin. Erst einige Nächte später kann sie wieder fieberfrei und entspannt durchschlafen. Unsere Anspannung löst sich und macht Platz für die Neugier auf das Abenteuerjahr in Kanada.

Zeitenwechsel

Die ersten fünf Wochen reisen wir im Wohnmobil durch British Columbia. Die westlichste Provinz Kanadas ist doppelt so groß wie Deutschland, der grandiosen Natur stehen jedoch nur 4,5 Millionen Einwohner gegenüber. Die Hälfte von ihnen besiedelt den Großraum Vancouver und einen schmalen Streifen Land entlang der US-amerikanischen Grenze. Geografisch beinhaltet British Columbia eine enorme Vielfalt: vom Regenwald an der Pazifikküste über tief eingeschnittene Fjorde, majestätische Bergformationen, wüstenähnliche Gegenden bis zum hügeligen Interiorplateau zwischen den Coast- und Rocky Mountains. Für deren Erkundung möchten wir uns Zeit nehmen, bevor wir mit Beginn des Schuljahres auf einer Ranch im Cariboo Country, sieben Autostunden nördlich von Vancouver, am unspektakulären Highway 24 sesshaft werden wollen.

Viele Menschen haben uns gefragt, wieso wir nicht durch die Welt reisen, sondern ausgerechnet in Westkanada bleiben. Wir wollen nicht planen, reisen und Länder erobern, sondern verweilen, innehalten und dies vor einer Naturkulisse und in einem englischsprachigen Umfeld, was uns begeistert. Wer einmal hier war, Natur liebt und diese offenherzigen, geradlinigen Menschen erlebt hat, versteht uns garantiert! Das Geheimnis der unberührten Wildnis, türkisblauer Seen, der fischreichen Flüsse und gigantischen Berge, der Einsamkeit und des lebendigen Pioniergeistes Westkanadas erschließt sich vor allem denen, die diese wunderbare Provinz nicht nur auf ADAC-empfohlenen Routen in kürzester Zeit durchqueren, sondern ihrem eigenen Kompass folgen können.

Als Nora – schließlich wieder gesund – fröhlich über den Campingplatz springt, Aruna in den Wellen herumtobt und wir das abendliche Ritual eines Lagerfeuers aufnehmen, wird es Zeit, dankbar und entspannt mit einem Glas Rotwein aus dem Okanagan, der Weinregion Westkanadas, auf den Urlaub anzustoßen. In den ersten Wochen fühlen wir uns tatsächlich wie im Urlaub. Als uns eine deutsche Ärztin auf dem Campingplatz nach unseren Plänen fragt und schließlich etwas neidvoll meint: »So ein Sabbatical würde ich mir auch mal wünschen!«, ist es uns fast peinlich, über unseren Zeitreichtum zu sprechen. Es dauert eben, einen neuen Rhythmus und auch eine neue Rolle oder Identität zu finden.

Fast zu stark haben wir uns jahrelang über unsere Beruf und viele Termine definiert. Nun gönnen wir uns bewusst Zeit, in das Neue hineinzuwachsen. Genauso ist es mit der Sprache. Auch wenn wir bei weitem nicht alles verstehen, das tiefe, freundliche »how are you« oder das »great!« bewirken, dass wir uns willkommen fühlen und die kanadische Offenheit immer selbstverständlicher genießen.

In diesen ersten Tagen unserer neuen Zeitrechnung müssen wir immer wieder die Ankunft feiern. Ankommen bedeutet für uns, wenn Geist und Körper harmonieren, Krankheiten verschwinden, Leben ohne Sorge möglich ist und wir uns auf das Jetzt und Hier einlassen können. Dazu gehört auch Genuss, zum Beispiel eines köstlichen, frisch gebratenen Lachses. Die Zubereitung des Essens wird zu einer Muße im Sabbatical. Es steckt ein vielfacher Nährwert darin, der über das bloße Ernähren weit hinausgeht.

Schon bald entwickelt es sich für jeden von uns zur guten Gewohnheit, unsere Entdeckungen in einem Tagebuch festzuhalten. Es ist ein Schatz, diese innere Reise zu beschreiben. Außerdem haben wir versprochen, regelmäßige Newsletter an unsere Freunde und Bekannten in Deutschland zu schicken. Obwohl wir erst ein paar Tage unterwegs sind, fällt es uns beim Schreiben jetzt schon schwer, uns auf das Wichtige und Originelle zu beschränken – so viel haben wir bereits erlebt. Als der erste Newsletter auf die elektronische Weltreise gehen soll, stellt sich uns die Frage: Wo bitte gibt es Internet? Auf dem Campingplatz mitten im Wald jedenfalls nicht.

Langsam sind wir auch wieder reif für die Zivilisation. Deshalb gibt es einen Stadtausflug nach Viktoria. Dort genießen wir unbeschwert das sommerliche Volk an der Hafenpromenade, schicken den Newsletter auf Reisen und trinken den ersten wunderbaren Cappuccino auf der Terrasse eines einladenden Restaurants, während die E-Mails in unser Postfach flattern. Der Hund muss draußen bleiben. Die diesbezüglich strengen Regeln in Kanada sind nicht zu vergleichen mit dem hundefreundlichen Alltag in deutschen Städten. Die große Freiheit im sogenannten wilden Westen beginnt erst deutlich nördlicher. Viktoria, Vancouver und mittelgroße Ortschaften im Süden des Landes zählen jedenfalls nicht dazu. Hunde werden an der Leine gehalten, dürfen nur in eingezäunten Hundespielplätzen im Viereck springen und sind außerdem sterilisiert sowie gut erzogen. Dass auf dem Land ungefähr das komplette Gegenteil zutrifft, können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Wir wollen zurück zum Wohnmobil und entschließen uns, die Strecke mit einem Boot zurückzulegen. Versehentlich wählen wir das falsche Hafentaxi und schippern eine riesige Runde mit dem freundlichen, alten Kapitän durch die Touristengebiete von Viktoria. Da wir die einzigen Gäste sind, erzählt uns der Mann seine Geschichte. Er ist längst Rentner, liebt seinen Job als Kapitän aber so sehr, dass er gerne weiterhin täglich sechs Stunden auf dem wackeligen, kleinen Motorboot verbringt. Er arbeitet, weil es ihm fun gibt und diese Freude spüren wir. Dass er mit dieser Arbeitshaltung nicht allein ist, merken wir, als wir während der Fahrt anderen Booten der Flotte begegnen. Alle lachen sich zu, grüßen entspannt, wechseln einige Sätze über Wasser und Wetter. Wir ahnen, weshalb das Unternehmen so rentabel ist. Die Schiffe mit diesem Personal sind ein Magnet für Touristen und Einheimische. Motivierte Mitarbeiter, Menschen, die einen Sinn in ihrer Arbeit sehen und die offenbar auch Wertschätzung für ihr Engagement erfahren, sind der Schatz der Firma.

Nach einer kostenlosen Zusatzrunde verabschieden wir uns wie alte Bekannte und genießen den Sonnenuntergang mit einem frischen Fischwrap am Holzsteg am Hafen. Robben auf der Suche nach einem abendlichen Häppchen stecken ihre Köpfe aus dem Wasser – ein unerwartetes Schauspiel, das unseren Ausflug krönt. Wir sind dankbar für diese Erlebnisse, für Noras Gesundheit und das riesige Glück, nicht – wie in einem Familienurlaub üblich – in zwei Wochen wieder das Flugzeug besteigen zu müssen.

Und offensichtlich sind wir angekommen im Zeitenwechsel. Es gelingt immer häufiger, nicht vorauszuplanen, sondern den Tag, den Moment wertzuschätzen. Es ist doch herrlich, wenn man sich in diesem Augenblick keinen schöneren Platz auf der Welt und keine bessere Beschäftigung oder nettere Gesellschaft vorstellen kann. Heute ist so ein perfekter Tag! Unser Camper steht am Ufer eines türkisfarbenen Flusses nördlich von Port Albani, einem kleinen Ort im Landesinneren von Vancouver Island. Das Wasser ist kristallklar und erstmals können wir Lachse flussaufwärts schwimmen sehen. Mitunter haben sie sogar noch die Kraft, aus dem Blau des Flusses herauszuspringen, als wollten sie zeigen, dass es Spaß macht, gegen den Strom zu schwimmen. Nora baut Rindenschiffe, Olaf relaxt in der Sonne und der Himmel spannt sich tiefblau weit über uns. Perfekt! Wir möchten nirgends lieber sein.

Die Gedanken gehen zurück. Vor drei Jahren waren wir erstmals in Westkanada. Am letzten Urlaubstag begleiteten uns drei Hunde der Gästeranch hinauf in die Hügel. Wir genossen den Blick in die unendlich scheinende Weite, über Flüsse und Seen bis hin zu den weißen Kappen majestätischer Berge. Unter Tränen sind wir abgefahren und konnten uns diese eigenartige Sentimentalität kaum erklären. Eine Sehnsucht war geboren. Manche Träume träumst du eine Weile und verabschiedest sie dann. Andere Träume sind so stark, dass du ihrem Ruf folgst und irgendwann werden sie wahr. Es ist ein umwerfendes Gefühl, an so einem Meilenstein des Lebens angekommen zu sein.

Unsere Tage sind voll von Überraschungen und Erlebnissen. Eines Morgens frühstücken wir im Café eines kleinen Ortes. Der obligatorische Pancake, eine Art süßer Pfannkuchen mit Sirup, duftet, der Cappuccino hat glücklicherweise den Cowboykaffee aus Pulver und heißem Wasser abgelöst und kommt sehr italienisch in großen weißen Tassen daher. Nora schaut über den Rand ihrer Kakaotasse, lächelt wonnig und meint: »So entspannt war ich noch nie! Ein Tag ist schöner als der andere.« Wir lachen. Welch eine Feststellung aus dem Mund eines noch nicht einmal elfjährigen Kindes. Aber natürlich hat sie recht. So entspannte Eltern, die sich neuen Themen zuwenden, nicht ständig in Gedanken an anstehende Projekte und Veranstaltungen sind, die gerne und viel lachen, hatte sie lange nicht.

Dass wir uns leicht und lebendig fühlen, liegt sicher auch an der liebenswürdig-fröhlichen Lebensart der Inselbewohner. Die freundliche Besitzerin des leckeren Candy-Shops (Süßwarenladen) mit dem Namen »Hänsel & Gretel« ist ein Europa-Fan, nach allen Reisen aber zieht sie sich am liebsten auf ihre Insel zurück. Selbst Vancouver, was wir, verglichen mit deutschen Großstädten, sehr entspannt, überschaubar und naturnah finden, ist ihr zu geschäftig. Auf Vancouver Island geht es gemütlich zu. Die milden Temperaturen locken viele ältere Menschen aus dem Landesinneren hierher und im Winter freut man sich, dass es höchstens einmal Schnee gibt.

So sehr uns Campingromantik und Einfachheit entsprechen, muss doch nach ein paar Tagen etwas Kultur ins Leben. Zwei originelle Weingläser, drei hübsche Tischsets sowie eine Klassik-CD sind unsere Beute in einem der netten Touristenläden. Damit sieht der rustikale Holztisch vor dem Wohnmobil auf dem Campingplatz gleich viel individueller aus und das Essen schmeckt irgendwie auch besser. Wir haben diesen Platz zu unserem Platz gemacht. Im Laufe unserer Auszeit mit vielen wechselnden Übernachtungsplätzen haben wir oft diese Erfahrung gemacht: Indem du dich entscheidest, einen Platz zu deinem Platz zu machen, auch wenn er auf den ersten Blick vielleicht nicht einladend aussieht, wirst du ihn verändern und lieb gewinnen. Diese Erkenntnis trifft auf viele »Plätze« des Lebens zu – auf Wohnungen, Arbeitsplätze, Wohnorte, sogar auf Freunde. Nicht was dir begegnet, ist entscheidend, sondern wie du mit dem umgehst, was dir begegnet, macht dein Leben aus – eine Einsicht, die wir für uns nutzen wollen. Wenn uns etwas nicht gefällt, gibt es in der Regel mehrere Möglichkeiten, zu reagieren. Die Kanadier sagen schlicht: Love it, change it or leave it. Liebe, was du tust, verändere die Rahmenbedingungen oder verlass es und beginne etwas Neues. In der Regel haben wir in unserem Leben und unseren Berufen bisher Schritt eins und zwei angewandt. Mit dem Sabbatical haben wir uns für Variante drei entschieden. In nächtlichen Träumen und täglichen Gesprächen wird klar, dass das Lassen und Verlassen ein Weg ist, der Zeit braucht. Wir bedauern immer noch, dass es uns nicht gelungen ist, unsere Vorgesetzten von der Sinnhaftigkeit dieser Auszeit zu überzeugen. Erstaunlich gut ist, dass wir die prall gefüllten Terminkalender überhaupt nicht vermissen, sondern offen für neue Themen sind. Zum Beispiel beschäftigt uns die Frage nach persönlichen Kraftquellen und individuellen Verhaltensweisen. Wie hängt das Entstehen von Burnout, dem seelischen Erschöpftsein, mit der inneren Veranlagung einer Person zusammen? Welche Rahmenbedingungen brauchen Menschen, um leistungsfähig, engagiert und kraftvoll zu bleiben? Ist die zunehmende Beschleunigung, der Drang nach Verbesserung und Perfektion eine Gesetzmäßigkeit unserer Zeit? Was kann der Einzelne tun, um Glück zu empfinden und das Leben zu leben, das ihm entspricht? Manche Fragen finden eine plausible Antwort in dem, was uns im Alltag in Kanada begegnet.

Zwei Tage später sitzen wir am kilometerlangen, sandigen Long Beach zwischen Tofino und Ucluelet im Westen der Insel am Pazifik. Als wir den unermüdlichen Surfern in der Brandung zuschauen, fallen uns Holzschilder auf mit der Aufschrift »Warning: scared drifts«. Die Schilder warnen deutlich vor Meeresströmungen. Im Notfall solle man seitlich aus dem Sog heraus und dann zurück zum Ufer schwimmen. Es besteht Lebensgefahr, wenn man diese Warnung nicht beherzigt. Vor allem Schwimmer und Surfer müssen sich der Gefahr bewusst sein, dass unsichtbare Strömungen sie hinaus auf das Meer ziehen können. Selbst sehr gute Schwimmer scheitern, wenn sie diese Warnung nicht ernst nehmen. Wir philosophieren und ziehen Parallelen zum Berufsleben und zu Gesetzmäßigkeiten, die unter dem Namen Chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt sind. Das Meer der Arbeit ist für aktive Menschen nicht abschreckend, sondern eine reizvolle Herausforderung. Sie sind starke, gute Schwimmer – keine Frage, dass sie in »normalen« Gewässern lange durchhalten und gut vorwärts kommen. Scared drifts in unserem Berufsalltag sind immer eine Vielfalt von Komponenten – innerer und äußerer Art: unausgesprochene Erwartungen an die zeitliche Verfügbarkeit, ineffektive Sitzungen, eigene Ansprüche und Perfektion, überhöhte Werte, die mit Inhalten der Arbeit verknüpft sind, der stetige Anspruch an immer bessere, größere Veranstaltungen, das Gefühl, nicht mehr abschalten zu können, die Zerrissenheit zwischen dienstlichem Engagement und dem Bedürfnis nach familiärem Rückzug, die fehlende Abgrenzung der Aufgaben, dienstliche Strukturen und Traditionen, die überaltert sind, aber nicht verändert werden, Unglaubwürdigkeit durch widersprüchliche Aussagen intern und nach außen.

Viele Menschen kennen diese Themen aus ihrem beruflichen Leben allzu gut. Vor allem Lehrerinnen und Lehrer oder Menschen im sozialen oder medizinischen Arbeitsumfeld leiden darunter, wenn ihre idealistischen Erwartungen der Realität nicht entsprechen. Selbstbestimmung, Verantwortlichkeit und Wertschätzung sowie Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheit sind Faktoren, die in solchen Situationen wie »Schwimmhilfen« oder Motoren wirken. Sie helfen, die gefährlichen Strömungen zu überwinden. Fehlen sie auf Dauer, bleibt dem Schwimmer nur eine Möglichkeit, wenn er nicht untergehen will: Das ganze System kann er nicht ändern, die Strömungen sind nicht einfach auszuschalten. Er muss abbiegen, seitlich dem Sog der Strömung entgehen. Als wir dieses Hinweisschild am Strand sehen, wissen wir, dass wir etwas Vergleichbares getan haben. Beide haben wir den »Sog« der gefährlichen und kraftraubenden Strömung gespürt, Kollegen und Kolleginnen gesehen, die untergegangen sind oder bereits ordentlich Wasser geschluckt haben. Wir haben uns – im Bild gesprochen – aus dem Sog der Meerestiefe befreit und entspannen jetzt im seichten, warmen Wasser der Auszeitbucht.

Nach zwei Wochen Inselleben ist die Zeit gekommen, weiterzuziehen. Wir spielen die Möglichkeiten durch, in welche Richtung wir nun fahren könnten. Auf dem Campingplatz bei Port Alberni begegnen wir Mike, einem originellen Typen aus Alberta, der uns zu einem Kaffee vor seinem Zelt einlädt. Als wir ihn auf die mehr als tausend Kilometer lange Fahrt ansprechen, die er hinter sich hat, meint er lachend: »It’s not far. It took me 22 hours and I had some coffee and good talks on my way.« So ist das also. Die Mammutstrecke ist nicht weit, weil man die 22 Stunden Fahrtzeit mit einigen Tassen Kaffee und guten Gesprächen auf dem Weg anreichern kann. Wir haben zwar immer noch keine Freude an stundenlangen Fahrten, aber ganz langsam werden auch wir kanadisch entspannter, mutiger und spontaner. Bleiben oder gehen? Das Wetter soll schlechter werden. Also entscheiden wir uns noch am Abend, den Weg nach Norden anzutreten und dafür auf das Festland überzusetzen. Vier Stunden später kommen wir in Nanaimo, dem Hafenstädtchen an der Ostküste von Vancouver Island an. Wir nehmen um Mitternacht die letzte Fähre ins nördlich von Vancouver gelegene Horseshoe Bay, kaufen unterwegs drei neue CDs, um auf längeren Fahrtstrecken gute Unterhaltung zu haben, und steuern hundemüde irgendeinen Parkplatz in einer kleinen Wohnsiedlung am Howe Sound, dem Meeresarm an der nördlichen Küste von Vancouver, an. Ohne einen Blick in die nähere Umgebung zu werfen, fallen wir in den Tiefschlaf.

In dieser Nacht werden wir von einem tiefen, Mark und Bein durchdringenden Geräusch brutal geweckt. Ist es das Signal eines heranbrausenden Zuges? Während wir uns verzweifelt zu erinnern versuchen, ob wir in der Nacht versehentlich auf Schienen geparkt haben, macht das Vibrieren des ganzen Wohnmobils deutlich, dass es sowieso zu spät wäre, jetzt noch etwas daran zu ändern. In nur wenigen Metern Entfernung donnert das stählerne Ungetüm an unserem Auto vorüber. Alle sind hellwach. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Deshalb fahren wir schon im Morgengrauen die wenigen Kilometer nach Squamish weiter. Squamish ist eine kleine Ortschaft mit einem ganz neuen Outdoor-Universitätscampus und Scharen von Bergkletterern, Surfern und vielen indianischen Einwohnern, die man hier First Nations nennt. Uns lockt allerdings etwas viel Profaneres: der örtliche Starbucks mit Internet, Kaffee und den allseits bekannten Blaubeer-Muffins. Frühstück ist angesagt, um uns zu stärken für den anstehenden Kauf eines mobile-phone, wie die Kanadier das Handy (diesen Begriff kennt in Kanada niemand!) nennen. Die Stärkung war auch bitter nötig, wie wir nach zwei anstrengenden Stunden in einem Technikladen ohne wirklichen Service feststellen. Aber Ende gut, alles gut. Wir haben schließlich ein kanadisches Handy und sind mobil zu erreichen, ohne astronomische Handyrechnungen zu produzieren. Dass es in Kanada jenseits von Vancouver nur noch wenige Gebiete gibt, in denen man Empfang hat, werden wir noch früh genug erfahren. Jetzt jedenfalls fühlen wir uns ziemlich verbunden mit der Welt und setzen unsere Fahrt Richtung Whistler, dem olympischen Wintersportort, zufrieden fort. Whistler, das jetzt auf einer vierspurigen Schnellstraße in einer guten Stunde von Vancouver aus erreicht werden kann, wirbt, Olympia sei Dank, mit bestem Anschluss an die Welt. Wir haben den wachsenden Ort mit seinen schönen Seen und dem riesigen, toll ausgebauten Fahrradnetz schon in den letzten Jahren ausgiebig per Rad und zu Fuß erkundet. Hier wollen wir unbedingt noch einmal Station machen, bevor es weiter in den Norden geht.

Wie immer herrscht ein buntes Treiben am Fuß der Gondelbahn zum Whistler Mountain. Die Bahn lockt ein wildes »Biker-Volk« ins felsige Paradies des weltgrößten Mountainbike-Downhill-Parkes. Uns stockt mitunter der Atem, als wir mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse eines Hotels sitzend rasante Abfahrten und verrückte Sprünge auf steilen, staubigen Pisten beobachten. Beruhigend zu wissen, dass Whistler eine ausgezeichnete Klinik für Sportunfälle hat!

Mehr Naturidylle verspricht der Campingplatz am Rand des Ortes, auf dem wir direkt nach der Ankunft in Whistler unser Wohnmobil abgestellt haben. Nach unserem Besuch im Dorf wollen wir über schattige Waldwege und entlang eines gletscherblauen Flusses zu Fuß zurück zum Campingplatz gehen. Die Betreiber des Campingplatzes haben uns schon vor den sehr aktiven Schwarzbären gewarnt. In diesem Jahr mussten bereits 18 Bären in und um Whistler abgeschossen werden, weil sie, angelockt von Speiseabfällen und leicht zugänglichen Mülltonnen, keine Distanz mehr zu menschlichen Wohngebieten haben. Deshalb steht auf jedem Müllcontainer fett und rot: »Don’t feed a bear. A fed bear is a dead bear.« Ein gefütterter Bär ist ein toter Bär. Denn es ist meist absehbar, dass diese Tiere ihre Scheu, nicht aber ihre Gefährlichkeit verlieren. Kommen die Bären dann menschlichen Siedlungen zu nahe, müssen sie getötet werden. Uns ist es sowieso schleierhaft, wie man auf die Idee kommen kann, einen Bären zu füttern.

Damit auch unerfahrene Menschen den Bären auf angemessene Weise begegnen und sich nicht von der tapsig-plüschigen Schönheit zu gefährlicher Nähe verleiten lassen, sind auf Parkplätzen, an Spazierwegen und Stadträndern Warntafeln aufgestellt: »Bleiben Sie ruhig, schauen Sie dem Bären nicht in die Augen, gehen Sie langsam rückwärts, nehmen Sie Kinder zwischen sich und Hunde an die Leine.« Es gibt noch eine Menge Tipps mehr. Einer der häufigsten ist, eine Bärenglocke am Rucksack zu tragen. Möglicherweise stammt dieser Rat, verbunden mit einer großzügigen Spende für die Aufstellung von Schildern, aus der Werbeabteilung des Bärenglocken-Herstellers. Im Laufe des Jahres konnten wir feststellen, dass diese Glocken am Rucksack ein untrügliches Zeichen für Touristen oder Stadt-Kanadier sind. Alle, die in der Wildnis leben und definitiv viel Bärenkontakt haben, nennen diese Glocken lächelnd dinnerbell. Das Gebimmel der Glocke ist eine Einladung an Bären: »Dinner is ready – das Essen ist bereit!« Kurzum, Kenner können mit der Gefahr von Bären entspannt umgehen, beachten Spuren, verhalten sich defensiv, wahren einen gesunden Abstand und hoffen, Bären mit gesundem Sozialverhalten zu begegnen. Ansonsten hilft weniger die Glocke als schnelle Reaktion oder ein Wunder. Wenn wir uns in Europa so viele Gedanken über die Gefahr von Autos machen würden, dann dürfte niemand mehr auf die Straße gehen, denn diese Gefährdung ist um ein Vielfaches höher als vom Bären angefallen zu werden, obwohl Westkanada eindeutig zu den Gegenden mit der höchsten Population an Schwarzbären und weiter nordwestlich auch Grizzlybären gehört.

Wir sehen auf unserer kleinen Wanderung zum Campingplatz tatsächlich plötzlich einen großen Schwarzbären in seiner pelzigen Lebendigkeit herumspazieren. Freiwillig wählen wir den Rückzug. Ein wenig weich sind die Knie schon, denn solch großen Tieren stehen wir in Deutschland gewöhnlich nur mit einem trennenden Gitter dazwischen gegenüber. Ein Bärenangriff geht schnell. Dass diese Tiere ein rasantes Tempo entwickeln können, wissen wir aus den Berichten von Bärenexperten wie dem Tierfilmer Andreas Kieling. Doch unser Bär denkt offensichtlich nicht an Angriff. Er zeigt überhaupt kein Interesse an uns und verschwindet recht unspektakulär im Gebüsch neben dem Weg. Im Gegensatz zu Olaf und Nora gibt Beate freimütig zu, dass sie nicht zu den entspannten Bärenkennern zählt und ist froh, als der Weg ohne Zwischenfälle fortgesetzt werden kann. Auf dem Campingplatz angekommen, freuen wir uns an dem schönen Stellplatz in Flussnähe, über den Stromanschluss und ganz besonders über das W-LAN im Wohnmobil. Endlich können wir wieder Weltgeschehnisse wahrnehmen und mit unseren Kindern, Großeltern und Freunden mailen.

Ein absoluter Genuss ist der abendliche Besuch im Scandinavian Spa, einer kleinen Sauna-Oase am Hang über dem Ort. Kanadier gehen nur selten in die Sauna, deshalb gibt es nicht viele davon. Im Gegensatz zur großen äußeren Weite lässt sich bei ihnen mitunter eine beklemmende Enge beobachten, was Körperlichkeit angeht. Man ist recht prüde, zieht bereits Dreijährigen mit großem Aufwand blickgeschützt hinter Decken die Badehose an und es ist ein absolutes No-go, nackt in die Sauna zu gehen. Also sitzen wir im Saunablockhaus brav in Badehose und Bikini auf dem Handtuch und genießen den außerordentlichen Fernblick auf dichten Wald, schneebedeckte Berge und dampfende hellblaue Pools, während der Schweiß über die Stirn rinnt. Es ist ein purer Wohlfühlabend! Heute, hier und jetzt wollen wir leben und zwar mit allen Sinnen. Wir freuen uns unglaublich, wo immer uns der Zeitenwechsel gelingt.

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Auf dem Goldrush Trail

Am nächsten Tag verlassen wir das teure Pflaster von Whistler und folgen der im Reiseführer angepriesenen Route 99 durch die Gebirgspässe der Coast Mountains hinunter zum wüstenähnlichen Fraser River Canyon. Unser Ziel ist das 135 Kilometer entfernte Lillooet, Ausgangspunkt der Cariboo Wagon Road, die hier 1858 ihren Anfang nahm und Tausende Goldsucher in die nördlichen Gebiete um Barkerville brachte. Von Lillooet aus zählte man die Meilen zu den Wechselstellen für die Pferdewagen und noch heute heißen nördlich von Lillooet gelegene Orte 70 Mile House oder 100 Mile House. Als später ein weiterer Weg durch den Fraser River Canyon erschlossen wurde, verlor Lillooet jedoch seine Bedeutung.

Für uns sind eher die beeindruckenden Landschafts- und Klimawechsel interessant. War an der Küste noch der tiefgrüne Küstenregenwald mit dichten Lianen, meterdicken, bemoosten Urwaldriesen und undurchdringlichem Pflanzengewirr zu bestaunen, so hatten wir ab Whistler schon alpines Gelände. Dann folgt das fruchtbare Tal in Pemberton, bevor sich das Bergmassiv der Cayoosh Range mit schroffen Felsen, Gletscherformationen und eisblauen Seen erhebt. Jetzt geht es viele Kilometer bergab durch imposante Felsengen, in denen die Straße am Hang zu kleben scheint und man das lichte Blau des Himmels nur sehen kann, wenn man die Nase an die Windschutzscheibe drückt. Noch vor wenigen Jahren war die Duffy Lake Road für Wohnmobile gesperrt, da man den Bremsen der Autos oder den Fahrkünsten der Touristen auf der Schotterstraße nicht über den Weg trauen wollte. Heute ist sie eine sehr schöne, kurvige, asphaltierte Straße mit überwältigenden Ausblicken. Der Duffy Lake ist ein beliebtes Fotomotiv. Genau so stellt man sich Westkanada vor. Ein grünblauer einsamer See, am Ufer gesäumt mit wild blühenden Blumen und im Hintergrund mächtige, schneebedeckte Berge. Auch wir gönnen uns hier ein Verweilen.

Unser nächster Stopp wird der Campingplatz am Seton Lake sein, den der Energiekonzern BC Hydro sponsert. Besucher dürfen den Platz kostenlos bis zu 14 Tage nutzen, Feuerholz gibt es günstig und die Kulisse der Berge ist sowieso unbezahlbar. Weil die Wandermöglichkeiten, der nahe Badeplatz am See und der Gletscherfluss nicht sofort zu entdecken sind, fahren die meisten Urlauber aber ahnungslos weiter. Wer viele Monate unterwegs ist, seine Kasse im Blick behalten muss und noch dazu den Austausch mit anderen Weltenbummlern genießt, kennt diese Sorte von Campingplätzen. Es ist ein guter und preiswerter Ort zum Verweilen. Die Temperaturunterschiede der letzten 134 Kilometer kommen uns vor, als hätten wir im Frühling die Alpen durchquert und wären Mitte August am Gardasee angekommen. Heiß ist es hier! Die Vegetation ist wüstenähnlich. Wilder Salbei wuchert überall und verströmt einen würzigen Duft. Grillen zirpen und es zieht uns gleich an den Seton Lake zum Baden. Der See ist von steilen Bergmassiven umgeben, nur an der rechten Seite schlängelt sich ein Gleis entlang, auf dem 363 Tage im Jahr eine kleine Bahn die Verbindung zwischen Seton, einer überwiegend indianischen Ansiedlung und Lillooet, dem einzigen ernst zu nehmenden Örtchen in weitem Umkreis, herstellt. Man mag sich die Bahn nicht im Winter vorstellen. An den steilen Hängen gibt es keine Lawinenschutzgitter. Winzig, wie eine Spielzeugeisenbahn wirken die Wagen vor der Bergkulisse, die sich dahinter auftürmt.

Das Baden und unbekümmerte Spielen im Wasser tut uns allen gut. Auch den Hund können wir hier ohne Sorge springen lassen, sind wir doch fast allein am Seeufer. Nur auf dem Rückweg zum Campingplatz treffen wir Wanderer, die wegen eines Bären den Weg ändern mussten und uns auf die Gefahr hinweisen. Etwas wachsamer, den Hund an der Leine, gehen wir ohne Zwischenfälle zurück. Schilder warnen uns vor Bären und Pumas. Sie erinnern daran, dass man in der Natur aufmerksam sein muss. Die Verantwortung für das eigene Handeln zu lernen und zu übernehmen, ist wichtig. Wir sind in vielen Bereichen lernend wie Kinder. Es macht Spaß, denn der Horizont und das Wissen erweitern sich fast täglich. Vor Jahren waren wir als Leiter mit einer Jugendgruppe unterwegs. Damals waren wir überrascht, dass nicht eines der Stadtkinder ein Feuer entfachen und am Brennen halten konnte. Angesichts funktionierender Fernheizungen ist dies in deutschen Städten auch nicht überlebenswichtig. Dafür kannten diese Kinder eine U-Bahn und konnten den Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn bedienen, der jedes kanadische Landkind zur Verzweiflung treiben würde. Wir sind froh, dass Nora beides lernen wird.

An den Abenden sitzen wir so oft es geht am Feuer zusammen. Das Licht zum Lesen fehlt, Erzählen ist angesagt und immer mehr entkommen wir dem inneren Gefühl, etwas tun zu müssen. Es ist gut, einfach still zu sitzen, das Knistern des Holzes zu hören, den Wind und die Sterne wahrzunehmen. Wir rücken zusammen und lassen einander teilhaben an Gedanken und Erlebnissen. Tausende von Jahren wurde auf diese Art menschliche Geschichte, Glaube und Philosophie weitergegeben.

Das Wetter kippt über Nacht. Auf den Bergen fällt Neuschnee, selbst im Tal wird es empfindlich kühl und vor allem ungemütlich. Es ist der fünfte September. Ist dies schon ein Vorbote auf den Winter? Wir hoffen ja noch auf einen Indian Summer mit Farbenpracht und Wanderwetter. Unsere Nachbarinnen auf dem Campingplatz, zwei junge Frauen, haben unsere ungeteilte Bewunderung. Bei Kälte und Regen bewohnen sie ein winziges Zelt, verstauen ihre Lebensmittel und Zahncreme abends im bärensicheren Metallcontainer und machen am Feuer hüpfend einen fröhlichen, lebendigen Eindruck. Der komfortable Rückzugsort des Campers ist uns da fast peinlich. Aber nur fast, denn jeder entscheidet selbst, was ihm wichtig ist. Das bestätigt sich, als wir weitere Langzeitreisende auf dem Platz kennenlernen, ein deutsches Ehepaar um die fünfzig, seit fünf Monaten unterwegs. Erst vier Mal konnten sie in dieser Zeit kurze Hosen anziehen und nun kippt das Wetter schon wieder! Sie nehmen es humorvoll und wollen weiter nach Süden fahren. Im Winter nehmen die meisten Weltenbummler den Weg von Kanada über die USA nach Mexiko und Südamerika, bevor sie wie Zugvögel im nächsten Mai wieder Richtung Norden und Alaska unterwegs sind. Als wir die beiden nach ihrem Motiv für ihr Unterwegssein fragen, bekommen wir eine klare und überzeugte Antwort: »Wir haben in der Wirtschaftskrise einen richtigen Batzen Geld an der Börse verloren. Mit dem Rest wollten wir etwas Sinnvolles anfangen.« Ob es denn wirklich sinnvoll sei, mit einem Campingbus von Alaska über Kanada in den Süden Amerikas und weiter durch die Welt zu reisen, fragen wir etwas provokant. »Ja, denn hier erleben wir etwas. Wir sind aufeinander angewiesen, das macht Probleme miteinander klein statt groß. So lernt man sich selbst und den anderen immer besser kennen. Die Wertigkeiten verschieben sich. Lieber leben wir einfach und dafür unabhängig als wohlsituiert, bequem in unseren Sesseln und immer in Sorge vor dem nächsten Wirtschaftscrash. Soll er kommen, dann können wir immer noch darauf reagieren oder uns Sorgen machen. Wir wollen uns nicht mehr im Voraus sorgen und darüber das Leben vergessen«, antworten sie uns. Ein anderer Auszeiter aus Deutschland, der an unserer Gesprächsrunde teilnimmt, hat leider keine Zeit für eine längere Unterhaltung. Er muss die Reiseroute planen. Sein »round the world trip« ist genau getaktet. Er hat keine Zeit in der Auszeit. Das ist schon merkwürdig. Es gibt offensichtlich Weltenbummler und Weltensammler. Während die einen sich treiben lassen, folgen die anderen ihrem Plan, haben es oft eilig und setzen Häkchen hinter die »gesammelten« Ziele.

Diese unterschiedlichen Herangehensweisen an und Ziele für Sabbatzeiten sind spannend. Wir genießen in diesen ersten Wochen vor allem das Ungeplante. Je nach Wetter, Bauchgefühl und interessanten Begegnungen legen wir Route und Verweildauer gemeinsam fest. Nora hat volles Mitspracherecht. Auch ein besonders schöner Platz zum Spielen mit ihren geliebten Schleich-Tieren (Spieltiere aus Hartgummi) kann ein Argument zum Bleiben sein. Wir sind begeistert, welche Kreativität sie beim Aufbau von Spiellandschaften entwickelt. Keiner von uns vermisst einen Fernseher, stattdessen haben wir Bücher mitgebracht und schätzen die Tagebücher als stille Begleiter.

In Lillooet gibt es viele First Nations, Angehörige des Stammes der Tlingit, die in Stammesgebieten jagen oder Lachse fangen und in Indianersiedlungen wohnen. Auf großen Schildern lesen wir das Angebot, sich von Stammesangehörigen zum Lachsfang und traditionellen Essen mitnehmen zu lassen. Da wir allein weder die Fangstellen noch die Reservate betreten dürfen, erkaufen wir uns die Nähe der Urbevölkerung und ein besonderes Erlebnis dazu.

Unvergessen bleibt unsere spontane Begegnung mit einem alten Indianer und dessen Enkel, die wir auf wunderschön bestickten Satteldecken auf einem schmalen Weg neben der Straße reiten sehen. Da wir keine Hinweisschilder gesehen haben, uns aber sicher sind, bereits in der Nähe des beschriebenen Treffpunktes für den Lachsfang zu sein, fragen wir den Alten nach dem Weg. Wortreich beschreibt er uns in brüchigem Englisch die nächste Abbiegemöglichkeit und schickt uns auf einem abenteuerlichen Weg den nächsten Berg hinauf. Vertrauensvoll folgen wir seinen Anweisungen, um aus luftiger Höhe festzustellen, dass uns der alte Gauner ganz bewusst in die Irre geschickt hat. Als wir etliche Zeit später endlich bei der Indianerin ankommen, die »Lachstouristen« begleitet, schildern wir ihr empört unser Erlebnis. Sie nimmt uns freundlich in Empfang, bleibt völlig gelassen und meint: »Ach, einige unserer Alten finden es nicht gut, wenn wir Weiße mit in das Territorium des Reservates nehmen. Sie finden, die Weißen haben uns schon genug Unglück gebracht und der Lachsfluss ist für die Indianer eines der letzten Rückzugsgebiete.« Wir finden es etwas befremdlich, ein Streitpunkt innerhalb eines Stammes zu sein: Während die einen Indianer Geld mit den Touristen verdienen, schicken die anderen diese in die Irre, weil sie ungestört sein wollen. Gemeinsam mit unserer Begleiterin gehen wir einen Pfad zum Fluss hinab. Ihren indianischen Namen haben wir uns zweimal sagen lassen – mussten aber resigniert feststellen, dass er für uns unaussprechlich bleibt. Aber der Spaziergang erweitert unser Wissen rund um den traditionellen Lachsfang der Natives. Aus der Ferne dürfen wir zusehen, wie mit großen Köchern oder auch mit Speeren in den Stromschnellen nach Fischen geangelt und harpuniert wird. Es ist ein gefährliches Unterfangen, denn der Fraser tobt und schäumt schlammig braun zwischen den Felsen. Wer hier das Gleichgewicht verliert, hat auch als guter Schwimmer Probleme, wieder ans Ufer zu kommen. Deshalb binden sich die Männer meistens mit einem Seil fest und reichen die gefangene Beute gleich an ihre Frauen weiter. Diese filetieren den Fisch und hängen die rosafarbenen Fleischstreifen unter Planen oder Zweigen in vorbereitete Holzgestelle. So trocknet das kostbare Nahrungsmittel an der Luft. Selbst nachts werden die Gestelle bewacht, um den Bären kein Futter zu überlassen. Wir dürfen uns selbst davon überzeugen, wie lecker frisch gefangener Sokeye-Salmon schmeckt. In einem kleinen Holzhaus wird für uns ein unglaublich gutes Essen zubereitet. Wir haben derweil Zeit, am Holztisch vor der Hütte das gigantische Panorama zu genießen. Der Fraser River Canyon ist von steilen Bergen gesäumt. Flirrend heiß ist es. Salbeibüsche und krüppelige Kiefern krallen sich in den kargen, steinigen Boden. Der Duft aus der Hütte verheißt ein leckeres Essen. Stolz trägt die Köchin eine Platte mit dunkelrosa Lachs heraus, der mit frischen Kräutern gewürzt ist. Fast noch besser ist das ofenwarme Bannok. Die Teigfladen werden wie zur Zeit der Ahnen aus einfachsten Zutaten bereitet. Heute serviert man sie uns warmgehalten im modernen chinesischen Reistopf. Die Nationalitäten in Kanada sind eben extrem vielfältig und jeder bringt seine Besonderheiten und kulturellen Errungenschaften mit.

Als wir wieder aufbrechen, lockt uns ein originelles Holzschild mit der Aufschrift »Honig zu verkaufen« nochmals zu einem Zwischenstopp. Der Imker heißt Steve, lebt seit etlichen Jahren im Fraser Canyon und lässt Nora den Honig aus großen kupfernen Kesseln selbst in ein Glas füllen. In seinem Holzhaus kann man sich kaum satt sehen. Von der Decke hängen Imkerutensilien, an der Wand ein Bären- und Koyotenfell, Trophäen von Tieren, die er gleich hinter dem Haus geschossen hat. Er erzählt uns, dass die Bären auf der gegenüberliegenden Flussseite weit ins Tal herabkommen und sicherlich Appetit auf die getrockneten Lachse der Indianer haben. Wenn man durch die kargen Salbeibuschhänge streift, sollte man auch aufmerksam sein, denn die Klapperschlange, die präpariert zwischen Honigbären und Kerzen auf seinem Fensterbrett liegt, ist ebenfalls von hier. Wer hätte das gedacht. Es ist richtig spannend, sich Zeit für so eine Entdeckungsreise im unspektakulären Hinterland zu nehmen. Weil wir keinem festgelegten Routenplan folgen müssen, haben wir Freiraum für derartige Erlebnisse und können unsere Neugier voll ausleben.

Irgendwann wird es doch Zeit, Richtung Norden aufzubrechen. Aufbrüche wecken immer noch Erinnerungen an den großen Aufbruch aus Deutschland. Wir haben so viele Dinge weggegeben. Es hat Spaß gemacht, Sachen auszusortieren und uns auf das zu konzentrieren, was wir behalten wollten. Dennoch war es ein großer Einschnitt, der auch wehgetan hat. Nora wünscht, wir könnten nach dem Sabbatjahr wieder in unser schönes Haus mit Garten am Rande Stuttgarts einziehen. Doch dieses Zuhause gibt es nicht mehr. Wie sollen wir trösten? Wer aufbricht, der muss mit dem Risiko leben, dass der nächste Ort oder Platz eben nicht so schön sein wird wie der vorhergehende es war. Möglicherweise ist der nächste Platz aber auch viel schöner und du ärgerst dich, nicht früher losgezogen zu sein. Die Hoffnung auf Gewinn und die Angst vor Verlust liegen nahe beieinander. »Ob eine Sache gelingt, erfährst du nicht, wenn du darüber nachdenkst, sondern nur, wenn du es ausprobierst«, steht auf der Karte, die uns unsere älteste Tochter Janine zum Abschied ins Reisegepäck geschoben hat. Ab und zu holen wir diese Karte hervor und freuen uns an der Weisheit und Kraft der geschriebenen Worte. Wir haben Ja zum Aufbruch gesagt, daran wollen wir uns immer wieder gegenseitig erinnern.

Am späten Nachmittag ist es so weit. Wir haben die Hat Creek Ranch, 306 Kilometer nördlich von Horseshoe Bay erreicht und folgen nun der Route des Goldrush-Trail von 1863. Hier kamen die Goldsucher auf ihrer anstrengenden Reise in den Norden, zu Fuß oder mit Pferden, in Scharen vorbei. Während damals in Europa längst ein komfortables und zivilisiertes Leben möglich war, bezahlten die Männer hier die Badewanne im Rasthaus nach dem Zustand des Wassers, das sich darin befand. Hatten schon viele Männer vor ihnen das Wasser im Zuber genutzt, war die Wanne zwar nicht mehr sauber und warm, aber erschwinglich. Frauen waren in der Zeit des Goldrausches selten und begehrt im wilden Westen, Kinder die Ausnahme und die Menschen waren aufeinander oder auf ihre Outdoorkenntnisse angewiesen, um zu überleben. Cowboy und Goldgräber (Miner) waren gängige Berufe, mit denen sich Geld verdienen ließ. Uns kommt es vor, als wäre das erst gestern gewesen. Man darf sich vom rasanten Wirtschaftswachstum im Großraum Vancouver nicht täuschen lassen. Abseits der Städte und touristischen Routen sind die Relikte der Vergangenheit nicht museal, sondern reales Leben.

Für Olaf hat das Jahr in Kanada viel mit einem Kindheitstraum zu tun. Schon viele Jahre träumt er davon, reiten und den gelassenen Umgang mit Pferden zu lernen. Als kleiner Junge sparte er sein ganzes Taschengeld, um ein wunderschön geschnitztes Fohlen zu kaufen. Diese Figur hat ihn all die Jahre begleitet, ist vom Osten in den Westen, von Hessen nach Württemberg gezogen und liegt jetzt gut verpackt in einer Umzugskiste mit persönlichen Dingen, die bei Freunden auf unsere Rückkehr wartet. Reiten ist im Westen Kanadas auf vielen Farmen kein elitäres Hobby, sondern die beste Möglichkeit, Kühe zu treiben und Ländereien zu verwalten. Dementsprechend trifft man kaum Reiter im englischen Sattel, wohl aber im robusten Westernsattel, die Füße in Cowboystiefeln und den Hut tief in die Stirn gezogen.

Auf der Hat Creek Ranch haben Olaf und Nora erstmals die Gelegenheit, auf gescheckten Indianerpferden in die hügeligen, prärieähnlichen Berge auszureiten. Milan ist ihr Guide, die Chefin der kleinen Reitgruppe. Die junge Frau erkennt auf den ersten Blick Noras Tierliebe und bezieht unsere Jüngste gleich mit ein, als die Pferdeherde auf die Weide gebracht werden muss. Als sie einige Stunden später auf die Ranch zurückkommen, dokumentiert das breite Lächeln im Gesicht der Reiter den vollen Erfolg dieses ersten Ausrittes. Weil wir Zeit haben und nur wenige Gäste außer uns da sind, entschließen wir uns zu bleiben.

Abends am Feuer haben wir gute Gespräche mit dem Cowgirl Milan und ihrem Chef, dem Besitzer der Pferdeherde. Es ist erstaunlich, dass uns der vom Highway 97 herüberdringende Straßenlärm überhaupt nicht stört. Normalerweise sind wir diesbezüglich im Urlaub wirklich eigen. Wenn wir schon bewusst in die Wildnis gehen, dann wollen wir keinen Straßenlärm hören. Heute Abend ist es anders. Vielleicht haben wir inzwischen akzeptiert, dass in diesem weitläufigen Land Straßen lebensnotwendige Versorgungsadern sind. Auch wir profitieren von ihnen und die Goldsucher vergangener Zeiten wären glücklich gewesen, einen Bruchteil davon benutzen zu können.

Zwei Tage später und einige Kilometer weiter nordwärts sitzen wir nicht mehr am Feuer. Das Thermometer zeigt um die null Grad, der Wind fegt über den Bowron Lake und wir sind froh über das gemütliche Wohnmobil, indem wir mit batteriebetriebenem Licht trotz der nächtlichen Dunkelheit noch lesen und den Tag in unseren Tagebüchern festhalten können. Und was für ein Tag! Vielleicht sollte man theatralisch schreiben: »Hurra, wir leben noch!« Unspektakulärer klingt es so: Wir haben den ersten Grizzly erlebt. Und zwar näher, als uns lieb war! Aber der Reihe nach …

Das Ganze begann damit, dass wir uns schon lange auf einen Stellplatz auf dem wunderschön gelegenen Campingplatz der Beckers Lodge gefreut hatten. Die Lodge liegt unmittelbar am Eingang des Bowron Lakes Provincial Park, ungefähr 800 Kilometer nördlich von Vancouver. Auch bei dem gelassenen kanadischen Fahrstil ist das eine ziemlich anstrengende und lange Reise. Sie lohnt sich dennoch, denn außer dem Naturparadies des Provinzparks kann man auch den Museumsort Barkerville mit seiner Geschichte der Goldgräberzeit sowie das davor liegende Künstlerörtchen Wells besuchen. Der Bowron Lake Canoe Circuit zählt zu den zehn schönsten Kanurevieren weltweit. Das Gebiet ist in einem weitläufigen 116 Kilometer langen Zirkel zu befahren, der mit einigen Portagen von See zu See leitet. Hier erlebt man pure Wildnis. Begegnungen mit Elch, Biber, Karibu, Grizzly oder Schwarzbär sind garantiert. Im Sommer ist der Zugang zum Kanurevier streng reglementiert. Dann sind die Campingplätze ausgebucht. Jetzt, zum Ende der Saison, gibt es sicher freie Stellplätze.

Beckers Lodge, der definitiv schönste Platz, ist ein wunderbar gelegenes, sehr gepflegtes Gelände. Der deutschstämmige Besitzer kann sich in dieser Monopollage auch eine gewisse Schrulligkeit leisten. Dass wir allerdings unseren Hund nicht mal an der Leine auf’s Gelände mitbringen dürfen, kommt unerwartet. Daher entscheiden wir uns wohl oder übel, den benachbarten, ziemlich heruntergekommenen Platz eines kanadischen Besitzers zu beziehen. Dort haben wir freie Platzwahl, denn außer uns ist niemand da, obwohl das Seeufer frei und die Sicht auf Berge und Bowron Lake bilderbuchschön ist. Während wir das Auto am Ufer parken, entdeckt Nora im nahe gelegenen Abfluss des Sees große, rote Lachse. Sie schlagen heftig mit ihren Flossen, um sich der Strömung zum Trotz noch einige hundert Meter weiter den Fluss hinauf zu bewegen. Es ist ein faszinierendes Schauspiel, ein Überlebens- und Todeskampf gleichermaßen. Die geschwächten Lachse laichen und versuchen mit letzter Kraft den geeigneten Platz zu finden. Manche liegen tot im flachen Uferwasser. Fast andächtig schauen wir zu und stellen uns die Lebensreise vor, die hinter ihnen liegt. Das ist etwas ganz Besonderes. Noch nie zuvor haben wir dieses Lachs-Schauspiel selbst miterlebet. Also holt Olaf die Kamera aus dem Auto und wir arbeiten uns parallel zum Ufer zu einer kleinen Holzbrücke vor, die den Fluss in etwa zwei Metern Höhe überquert. Von hier aus ist der Überblick wunderbar und wir ahnen schon: wo Lachse, dort Bären. Jetzt schärfen wir unsere Wahrnehmung.

Als hätte er auf uns gewartet, kommt fünfzig Meter flussabwärts ein Bär aus dem Walddickicht und angelt im Fluss nach den Lachsen. Wir sehen zu, freuen uns über dieses außergewöhnliche Schauspiel und machen Fotos, bis der Bär schließlich wieder im Dickicht verschwindet. Beeindruckt setzen wir uns auf die Holzplanken der Brücke, genießen die tiefe Stille und warten, ob sich noch einmal ein Bär zeigt. Plötzlich ein kleines Geräusch unmittelbar unter uns. Mehr aus einer Ahnung heraus steht Olaf auf. Vom Rand aus kann er direkt unter der Brücke den Bären sehen. Es ist ein Grizzly. Wie der so lautlos dorthin gekommen ist, bleibt uns verborgen. Ganz leise gehen wir zum Geländer, wähnen uns als unbeteiligte Beobachter und Olaf macht ein Foto des imposanten Tieres auf seiner Lachssuche. Ob es das Klick des Fotos war oder die Sorge des Bären, wir könnten ihm seinen Lachsfang verderben, wir wissen es bis heute nicht. Was wir jetzt wissen, ist, wie schnell so ein Bär plötzlich aus dem Wasser, die Böschung nach oben kommen kann und wie groß er wirkt, wenn er sich auf zwei Beinen aufrichtet. Wir stehen wie erstarrt. Jede Bewegung scheint zu viel zu sein. Aruna, unsere Hündin, ist an der Leine ebenso bewegungslos wie wir und gibt keinen Laut von sich. Vielleicht war das unser Glück. Nach unglaublich langsam verstreichenden Sekundenbruchteilen lässt sich der Grizzly wieder auf alle vier Beine fallen und verschwindet im Wald. Er war keine fünfzehn Meter entfernt. Jetzt warten wir nicht mehr auf weitere Bären. Der Abenteuerbedarf für diesen Tag ist mehr als gedeckt und Beate muss auch den mutigeren Teil der Familie nicht vom Rückzug überzeugen. An diesem Abend gehen wir auch nicht mehr im Dunkel über den menschenleeren Platz. Ein großes Feuer wird geschürt und später ziehen wir der Kälte wegen das Wohnmobil für unsere gemütliche Runde vor – vielleicht kam die Kälte genau zur rechten Zeit, sonst hätten wir auf jedes Knacken geachtet. Als wir die Fotos auf dem Laptop anschauen, stellen wir fest, dass es kein Bild vom stehenden Bären gibt. Olaf hatte ihn perfekt im Sucher, doch er war sich nicht sicher, ob das Geräusch des Auslösers das letzte Geräusch gewesen wäre, was wir gehört hätten. Gut, dass er es nicht getestet hat!

Wir bleiben noch zwei Tage am See. Die Gegend ist traumhaft schön, auch wenn Beates Wohlfühltemperatur nicht mehr erreicht wird. Hier ist eindeutig Herbst und der Winter liegt schon in der nördlichen Luft. Wir sind beeindruckt von einer Gruppe Senioren. Die älteren Leute machen sich, robust angezogen, die Kanus im Schlepptau, auf den Weg zu einer Kanutour. Sieben Tage wollen sie unterwegs sein. Beate und Nora frieren bereits bei dem Gedanken an eiskaltes Spritzwasser und den Wind auf dem Wasser. Kanufahren haben wir bisher mit Sommer, Sonne und Badelaune verbunden. Die pensionierten Lehrer jedoch sind unerschrocken. Sicher haben sie das Blut der Pioniere des Westens in sich.

Dem Reiz der alten Goldgräberzeit erliegen wir spätestens am nächsten Vormittag, als wir durch Barkerville Historic Town schlendern. Das Museumsdorf liegt 27 Kilometer vom Bowron Lake Provincial Park entfernt am Highway 26, der einzigen Straße, die das Gebiet mit dem Alaska Highway und der 90 Kilometer westlich gelegenen Kleinstadt Quesnel verbindet. Nach dem berühmten Goldfund von Billy Barker 1862 entwickelte sich hier in wenigen Monaten ein Ort aus Hotels, Schmieden, Pferdeställen, Handwerksbetrieben, Saloons und Restaurants. Er soll zur damaligen Zeit der größte Ort westlich von Chicago und nördlich von San Francisco gewesen sein, was man sich heute kaum vorstellen kann. Wie viele andere Städtchen blühte Barkerville nur so lange, wie Gold gefunden wurde, und verkam danach zur Geisterstadt. Dank einer Initiative der Provinzregierung wurde es 1958 zum Museumsdorf erklärt und liebevoll restauriert. Heute zählt Barkerville Historic Town zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten in Westkanada und lockt im Sommer Tausende von Touristen und Einheimischen zu einem Besuch in die Cariboo Mountains. Über 120 historische Gebäude sind rekonstruiert worden und werden von Schauspielern in alten Gewändern betreut, die mit Begeisterung die Zeit des Goldrausches nachspielen. Im Theatre Royal können wir uns kaum satt sehen und hören. Das Ensemble spielt mitreißend, stimmgewaltig und bei dem Abschlusslied »Cariboo, the Country of Gold« fühlen wir uns seltsam tief bewegt. Hat uns dieses Land in den wenigen Wochen schon in seinen Bann gezogen? Ist es der Geist des Aufbruchs, die Hoffnung der Goldgräber, die Weite der Natur, die uns so anrühren? Wir suchen auf gewisse Weise ebenfalls nach Gold, dem Gold unseres Lebens. Was sind unsere Werte, wofür sind wir bereit, auf Luxus, Geborgenheit und Sicherheiten zu verzichten? Gut, dass wir Zeit haben, uns den Fragen offen zu stellen und dass wir jetzt sofort noch keine Antworten brauchen. Sie werden sich einstellen, dessen sind wir uns sicher.

Historisch interessant sind der Durchhaltewille und die starke Vision von Billy Barker. Er hatte eigentlich keine Chance, Gold zu finden. Als er 1862 in den Cariboo Goldfields ankam, waren die besten Claims längst abgesteckt. Er aber grub mit seinen Partnern an der Stelle weiter, die ihm lohnend erschien, obwohl die anderen Goldgräber sich darüber die Mäuler zerrissen. Wir gönnen ihm von Herzen den spektakulären Goldfund von über einer halben Million Dollar. Billy Barkers Fund macht Mut, sich selbst zu trauen und sein Vorhaben nicht vorschnell aufzugeben, auch wenn die Ausgangsbedingungen schlecht sind.

In der Bäckerei des Ortes kaufen wir schließlich leckeres Sauerteigbrot und setzen uns entspannt mit einem Pott Kaffee und einem Stück Kuchen in der Hand auf die Holzstühle vor dem Laden. An diesem Platz können wir uns gut einfühlen in das deutlich langsamere Leben der vergangenen Zeiten. Als hätte er nur darauf gewartet, umflattert uns ein Schmetterling und lässt sich schließlich auf dem Henkel der Tasse nieder. Ein Bild voller Symbolkraft. So stellen wir uns Sabbat vor: anhalten, Schönheit wahrnehmen, in der Zeit sein, voller Aufmerksamkeit im Augenblick verweilen und eine Ahnung von Ewigkeit spüren. Für uns ist der Alltag gerade ein Festtag geworden. Der Schmetterling tut uns den Gefallen und lässt sich ebenfalls Zeit. Ohne Eile können wir wunderschöne Fotos von dieser Szene machen und sind uns sicher, sie sind ein Sinnbild für »Gold des Lebens«, nach dem sich viele Menschen sehnen.

Nora ist absolut begeistert vom Leben in Barkerville. Sie hat sich für den Besuch extra ausgestattet. In Lederstiefeln und kariertem Kleid, ein grob gestricktes Umschlagtuch um die Schultern, stiefelt sie die Hauptstraße entlang und schaut unbefangen zu, wie der Schmied den Blasebalg antreibt, ein alter Holzofen befeuert wird und im General Store Schokoladenpralinen verziert werden. Sie passt so gut zur Umgebung, dass andere Besucher sie als Fotomotiv wählen und glauben, sie gehöre mit zum Team der Schauspieler. Dass die Saison so gut wie gelaufen ist, merkt man daran, dass an diesem Tag nur wenige Besucher kommen. Anfang September gehen in British Columbia die Sommerferien zu Ende. Für Nora beginnt der Unterricht mit einer Einzelstunde im historischen Schulhaus am Williams Creek. Die Lehrerin, Mrs. Hall, zieht auch mit nur einer Schülerin den Unterricht im alten Barkerville-Schulhaus sehr streng durch. Da werden die Fingernägel auf Sauberkeit kontrolliert, beim Antworten ist es üblich aufzustehen und auch der Knicks für den Abschied wird geübt. Auf unterhaltsame Weise lernt Nora, wie das Lernen vor einhundert Jahren funktionierte und dass damals ganz andere Dinge wichtig waren als heute. Auch ohne große Englischkenntnisse kann sie sich mit Gesten verständigen und den Anweisungen von Mrs. Hall folgen. Nach einer Stunde meint sie begeistert: »Hier würde ich am liebsten richtig mitleben und spielen wie vor hundert Jahren.« Der Schulauftakt ist also vollkommen gelungen! Das mindert die Sorge um die Verständigungsmöglichkeiten und macht uns alle neugierig auf die kanadische Schule im Jahr 2010, die für Nora in wenigen Tagen beginnen wird. Wir haben die Formalitäten schon im Frühsommer von Deutschland aus geklärt und wissen, dass Noras künftige Schule am Highway 24 liegt, fünf Stunden Autofahrt südlich von Barkerville. Dort, in der Nähe von Bridge Lake, haben wir durch eine spontane Begegnung eine Pferderanch gefunden, die vorerst unser neues Zuhause werden soll. Da wir das alte Ranchhaus erst am 15. September beziehen können, bleibt uns aber noch etwas Zeit und wir freuen uns an den vielfältigen Erlebnissen, die wir bis dahin noch sammeln können.

Am späten Nachmittag ist der Kopf voll mit Eindrücken, was man vom Magen nicht behaupten kann. Also fahren wir weiter ins acht Kilometer entfernte Örtchen Wells. Der Kühlschrank im Camper ist inzwischen fast leer. Wir sind viele Kilometer vom nächsten größeren Supermarkt entfernt und die Dosen im Tankstellen-Geschäft von Wells lösen keinen Kochimpuls aus. Da kommt uns das einladende, hellblaue Holzschild am Straßenrand wie gerufen. Es weist auf das bunte kleine Bears Paw Café hin. Ob das Essen ebenso einzigartig ist? Problemlos parken wir neben dem Haus. Selbst mit einem riesigen Wohnmobil braucht man keine Sorgen um einen Parkplatz zu haben. Die Kanadier haben Platz und Geduld, falls das Einparken mal etwas länger dauert. Im Bears Paw Café gibt es eine leckere Abendkarte und Noras Augen glänzen, als sie ihr Lieblingsessen, frischen Lachs, wenig später duftend vor sich stehen hat. Die Kellnerin findet trotz vollem Haus Zeit für einen Scherz und um zu fragen, woher wir kommen. Wir haben das gute Gefühl, willkommen zu sein. Da es schon spät ist, empfehlen uns Dave und Cheryl, die Besitzer des Cafés, den Stellplatz hinter ihrem kleinen Haus für die Übernachtung zu nutzen. Wie passend! Da niemand mehr fahren muss, haben wir sogar Muse, noch einen guten kanadischen Wein im Café zu trinken und auf dem Flachbildschirm über der Theke Daves Fotos zu bewundern. Wie sich herausstellt, ist er nicht nur Besitzer einer Goldmine, sondern auch Inhaber einer Outdoor-Reiseagentur mit dem Namen »White Gold Adventures«. Er schwärmt vom Winter und vom Schnee, dem weißen Gold des Cariboo. Seine Spezialität sind geführte Touren über die zugefrorenen Seen des Bowron Lakes Provincial Park. Olafs Ohren werden sichtbar größer, als er von Übernachtungen in der Schneehöhle, Schneeschuhtouren und Abenteuern in der Wildnis hört. Lange fachsimpeln Dave, der kanadische Outdoor-Experte, und Olaf, der deutsche Erlebnispädagoge, an diesem Abend über den Gewinn eines Lebens abseits ausgetretener Pfade. Am nächsten Morgen erzählen uns Dave und Cheryl von versteckten Wanderpfaden auf die umliegenden Berge. Sie kennen sich aus, organisiert Dave doch jedes Jahr den bekannten »Seven Summit Race«, ein Rad-Hiking-Event der Sonderklasse. Sieben Gipfel müssen in einer bestimmten Zeit erfahren und erstiegen werden. Uns interessiert nur einer davon, der 1993 Meter hohe Mount Murrey, den man über den Jubilee Trail erreichen kann.

Da uns die Kanadier Kartenmaterial, Wegbeschreibung und sogar Mützen und Handschuhe ausleihen, gibt es kein Zögern mehr: Wir bleiben noch einen Tag in Wells, um den Jubilee Trail zu wandern. Cheryl schreibt sich auf, um welche Zeit wir zurück sein sollten, und wir brechen auf, versorgt mit Proviant für unterwegs, Instruktionen für die Strecke und dem guten Gefühl, dass jemand nach uns suchen würde, sollten wir nicht rechtzeitig zurück sein. Der Einstieg zum Trail befindet sich etliche Kilometer außerhalb des Ortes und ist schnell gefunden. Die Strecke selbst ist spannend. Ein schmaler Trampelpfad windet sich durch mannshohe Blumenwiesen, in denen man von Nora nur noch die Kopfbedeckung sieht, über verrottete Holzbrücken und Bretter durch sumpfiges Dickicht. Dann steigt er stetig an, folgt einem kleinen Bachlauf und verlässt den Wald. Wunderschöne alpine Wiesenhänge sind menschenleer. Auch Bären sehen wir nirgends, lediglich die Adler kreisen hoch über uns. Mit jedem Höhenmeter wird die Aussicht besser. Wir sehen weit ins Tal hinunter Richtung Wells und wissen hinter den nächsten Bergketten die Seen des Kanureviers. Es scheint, als wären wir allein auf der Welt. Kein einziges Flugzeug ist am Himmel zu sehen, nicht ein Kondensstreifen zeugt von Eindringlingen in die abgelegenen Gebiete. Dafür ziehen Wolken heran. Dicke, grauschwarze Berge türmen sich über uns auf und man sieht die blassblauen Fäden der Regenschauer wie Vorhänge über das Land ziehen. Wir haben Glück. Unser Berg bleibt trocken, sogar die Sonne kommt kurz zum Vorschein und verstärkt mit ihrem Strahlen die dunklen Farben der Wolken. Es sieht bedrohlich schön aus. Wir wissen, dass wir nicht zu lange auf dem Gipfel bleiben können, suchen uns einen windgeschützten Platz und genießen bei umwerfender Aussicht Cheryls Sandwiches.

Auf dem Rückweg verpassen wir den Einstieg zum Abstieg, obwohl wir uns ein Zeichen an eine kleine Kiefer gebunden hatten. Egal, wir müssen ins Tal, der Weg wird schon zu finden sein. Auf abenteuerliche Weise rutschen wir förmlich den steilen Hang hinunter. Man findet schwer Halt im Geröll. Was, wenn sich jetzt einer den Fuß verstaucht? Also verlangsamen wir das Tempo, setzen behutsam unsere Schritte, halten Ausschau nach dem verlorenen Pfad und finden ihn schließlich etliche Meter neben unserer Abstiegsstelle. Erleichtert kommen wir einige Stunden später wohlbehalten bei unserem Wohnmobil an. Es fühlt sich an wie »nach Hause kommen« und wir sind stolz auf unsere erste ernstzunehmende Bergtour. Am Abend gibt es eine Überraschung im Bears Paw Café. Wir ergattern gerade noch einen Platz, denn heute findet eines der gefragten Konzerte im Café statt. Kultur hat in Wells einen besonderen Stellenwert. Viele Künstler leben hier. Schauspieler und Schausteller aus Barkerville wohnen während der Saison im Dorf. Sie alle arbeiten hart, um den Touristenstrom der wenigen Sommermonate für einen Verdienst zu nutzen, der sie durch den Winter trägt. Jetzt, Mitte September ist die Saison fast gelaufen, es wird Zeit, sich auch selbst wieder Kultur, ein gutes Gespräch und eine Begegnung im Café zu gönnen. So kommt es, dass wir inmitten von Einheimischen sitzen und erstmals die wunderbaren Songs von Yael Wand hören. Wir sind begeistert. Eingängige Melodien, gekonntes Gitarrenspiel, eine professionelle Stimme und dazu eine offene, humorvolle Frau, die ihre Lieder mit kleinen Episoden aus ihrem Leben anmoderiert – und wir Greenhorns aus dem fernen Deutschland mittendrin. Später erfahren wir, dass Yael erst vor wenigen Jahren aus der Metropole Vancouver in die abgeschiedene Gegend der Cariboo Mountains gezogen ist. Wie kommt man als Sängerin auf diese Idee? Vermisst sie nicht die lebendige Großstadt und das milde Klima am Meer, wenn der Winter in den Bergen kein Ende nehmen will? Einige Fragen bekommen wir am nächsten Morgen beantwortet. Wir möchten gerne noch zwei CDs von Yael Wand kaufen. Da diese im Café ausverkauft sind, schickt uns Cheryl in den kleinen Weiler »New Barkerville«. Hier leben eine Handvoll Menschen und mitten unter ihnen in einem bunt gestrichenen, baufälligen Holzhaus die Sängerin mit Mann und Kind. Yael freut sich über den unerwarteten Besuch, lädt uns zum frischen Kräutertee ein und erzählt aus ihrem Leben. Es war die Liebe, die sie in den Norden zog. Die Liebe zu ihrem Mann, der in Wells wohnt und den Yael als Guide auf einer Kanutour über die Bowron Lakes kennenlernte. Aber es war auch die Liebe zu dieser einsam-überwältigenden Natur, die sie nicht mehr losließ. Sie muss uns nicht viel dazu sagen, wir können Yael verstehen. Dennoch kann Beate sich nur schwer vorstellen, mit einem Kleinkind 80 Kilometer bis zum nächsten Arzt zu fahren, den Einkauf auf einmal pro Woche zu reduzieren oder für einen Besuch bei der Familie elf Stunden im Auto zu sitzen. Es ist spannend, wie unterschiedlich Lebensentwürfe aussehen können, und ermutigend, dass man selbst an so einem entfernten Platz die Möglichkeit findet, wunderbare Musik zu machen und auch zu vermarkten. Yael empfiehlt uns eine Hörprobe neuer Lieder auf ihrer Website www.yaelwand.com. So können wir unseren Kindern in Deutschland ganz einfach unseren neuen Musikgenuss präsentieren. Über das Internet ist man sich auf eigentümliche Weise nah, obwohl Welten dazwischenliegen.

Langsam geraten wir trotz Sabbatjahr in Zeitnot. Die Schule ruft. Wir würden am liebsten länger in Wells und Umgebung bleiben. Es gibt noch so viel zu entdecken in diesen abgelegenen Bergen. Doch wir müssen den Camper in Richtung Süden bewegen. Ein allerletzter Spaziergang in Wells führt uns auf einen kleinen Hügel in der Ortsmitte. Ein Dutzend Holzhäuser, manche recht verfallen, andere bunt angestrichen, bilden zusammen mit der weiß-türkis leuchtenden kleinen Kirche eine Siedlung. Eine ältere Dame streicht hingebungsvoll ihr Haus in strahlendem Maigrün. Freundlich winkt sie uns zu, während ihr Golden Retriever in Aruna eine Spielgefährtin erkennt. Autos sind auf dem staubigen Fahrweg nicht in Sicht. Also können die Hunde miteinander tollen und wir kommen mit der Besitzerin ins Gespräch. Schnell wird deutlich, sie kennt sich aus im Ort. Bei ungefähr 200 Einwohnern im Sommer und lediglich 50 Menschen im Winter ist das nicht verwunderlich. Fran, wie sich unsere Gesprächspartnerin vorstellt, wohnt nicht das ganze Jahr über hier. Sie lebt monatelang in Whitehorse im Yukon und teilt sich den Sommersitz mit ihrer Tochter und deren Kindern. So erfahren wir, dass die Tochter etliche Jahre die Lehrerin in Wells war und erst im Sommer nach Quesnel umgezogen ist. Lehrerin in Wells zu sein, beinhaltet große Gestaltungsfreiheit und große Einsamkeit, denn ein Kollegium gibt es nicht. Die 17 Kinder des Ortes werden vom Kindergarten bis zur Klasse sieben gemeinsam unterrichtet. Nach Schulschluss wohnt man Tür an Tür mit ihnen. Bei aller Liebe zur Arbeit, das kann ganz schön anstrengend sein. Vielleicht ein wenig wie vor hundert Jahren? Fran ermuntert uns, die kleine Kirche zu besuchen, in der »Amazing Space«, eine einzigartige Kunstgalerie, untergebracht ist. Bill Horne und Claire Kujundzic, ein Künstlerpaar, arbeiten nicht nur hier, sondern die Kirche beherbergt Atelier, Wohnung und Ausstellungsraum in einem. Wir haben Glück, treffen Bill und er nimmt sich die Zeit, uns seine Drucke sowie die großformatigen Kunstobjekte seiner Frau Claire vorzustellen. Schnell wird uns klar, wir haben Idealisten vor uns, die ihre Kunst als Lebensart verstehen. Sie wollen mit ihrer Kunst Fragen stellen und provokant sein. In diesem Sinne sind sie un-artig. Ihnen ist offensichtlich wichtiger, zu wissen wofür als wovon sie leben. Claire setzt sich mit dem Thema der »Mountain Pine Beetle« Epidemie, der verheerenden Ausbreitung des Borkenkäfers in British Columbia auseinander. Seit den Neunzigerjahren haben sich die Käfer aufgrund von heißen, trockenen Sommern und fehlenden mehrwöchigen Dauerfrostperioden mit Temperaturen unter 30 Grad minus explosiv vermehrt. Riesige Waldflächen mit ausgewachsenen, gesunden Lodgepole Kiefern haben sich in braune Trockenholzfelder verwandelt. Es ist eine bedrückende Umweltkatastrophe, nicht zu reden von dem wirtschaftlichen oder touristischen Schaden. Gerade die tiefen, unendlichen Wälder des Nordens machen den Reiz der Wildnis aus. Experten diskutieren, ob der Klimawandel oder auch eine falsche Einschätzung der Forstwirtschaft die Ursache für die Borkenkäferplage ist. Fest steht, dass aufgrund immer besserer Technik deutlich mehr Waldbrände verhindert wurden, was wiederum zu einem großen Bestand reifer Bäume geführt hat – ein idealer Lebensraum für den Borkenkäfer. Claires Canvas-Installationen mit raumhohen Impressionen zum Kiefernwald und dem Zerfall der Stämme sind ein beeindruckendes Tribut an die Natur. Blaugrün, moosgrün und rostbraun, frei im Raum hängend wirken die Leinwände wie ein unwirklicher Zauberwald. In der Kirche hängt ein Teil der Ausstellung, die zu den olympischen Winterspielen in Vancouver Anfang des Jahres zu sehen war. Claire engagiert sich nicht nur für die Natur in ihrem geliebten Cariboo, sie war auch im Kampf um den Erhalt der kleinen Dorfschule in Wells aktiv dabei. Gerne würden wir sie selbst fragen, wieso ihr diese Schule so wichtig ist, dass sie bereit war, dafür in einen Hungerstreik zu treten. Leider ist sie gerade einkaufen in Quesnel. Aber auch die Themen mit Bill sind bei weitem nicht ausdiskutiert. Wir fühlen uns ihm nahe, als er uns erzählt, dass er gefragter Programmreferent in einem christlichen Bildungszentrum im Süden von British Columbia war und seinen Job kündigte, als er erkannte, dass die Arbeit ihn auffraß. Eigenartig, dass jemand die Notbremse für sich darin sieht, bei der Kirche auszusteigen und in eine Kirche einzuziehen. Unsere Gespräche bewegen sich von der Kunst zur Naturliebe, vom beruflichen Idealismus zur finanziellen Unsicherheit, von der Freiberuflichkeit zur Notwendigkeit eines Netzwerkes von Sponsoren. Einen Espresso trinken wir noch zusammen in der Kirche, bevor wir diesen Ort voller Lebensfreude gestärkt und bereichert wieder verlassen, um unsere Fahrt Richtung Süden anzutreten.

Viele Gedanken gehen uns durch den Kopf, während aus den Lautsprechern im Wohnmobil Yael Wands Lied »Silver and gold« klingt. Die Berge des Cariboo, die erstaunlichen Gespräche, die herzliche Gastfreundschaft haben uns geholfen, in einer anderen Welt anzukommen. Die Gemeinschaft von Wells lebt von engagierten, offenen Menschen wie Cheryl und Dave, von Fran, Yael, Bill oder Claire und sie stellt uns die Frage: »An welchen Menschen willst du dich orientieren?« Wir sind alle drei einer Meinung: An diesen Ort kehren wir noch einmal zurück! Schließlich haben wir ein Jahr lang Zeit.

Mehr vom Weniger

Voller Erwartungen, mit einem staubigen Wohnmobil und einem schlafenden Hund rollen wir zwei Tage später auf das Gelände der Pferderanch. Wir werden von den deutschstämmigen Ranchbesitzern freundlich empfangen. Das alte Ranchhaus ist geräumig – nach fünf Wochen im Wohnmobil sind wir andere Platzverhältnisse gewöhnt. Es ist komisch, unsere Habseligkeiten in die vielen Zimmer zu tragen und fast europäisch unwirklich, die restlichen Lebensmittel aus dem Auto in die blitzblanke Einbauküche zu räumen. Doch ein Blick aus dem Fenster genügt, um sich wieder kanadischer zu fühlen: Vor dem Haus befinden sich ein See und die Pferdeweide. Nora richtet mit Eifer ihr Zimmer ein. Wir Eltern spüren, dass wir schon vieles aus dem »alten« Leben losgelassen haben. Eine Badewanne haben wir nicht vermisst. Dass Nora in einem eigenen Kinderzimmer getrennt von Eltern und Hund schläft, ist ebenso ungewohnt wie unser breites Ehebett. Beim Auspacken stellen wir fest, dass wir viel zu viel haben. Wofür braucht man hier mehrere Pullis? Einer oder zwei zum Wechseln würden auch reichen. So viele T-Shirts braucht kein Mensch. »Haben wir die Schränke voll, um unseren Status zu zeigen und zu wahren? Weshalb horten Menschen so viele Dinge, von denen sie nur einen Bruchteil nutzen?«, philosophiert Beate in ihrem Tagebuch. Verrückt, dass genau zur gleichen Zeit noch einige Kartons mit Winterkleidung, Büchern und eine Gitarre per Luftpost auf dem Weg nach Vancouver sind. An diesem Abend vermissen wir nichts. Draußen wird es in der Nacht schon herbstlich kühl. Die letzten Wochen mit viel Bewegung im Freien haben uns wohl abgehärtet, denn als die Heizung im Ranchhaus ohne unser Zutun ihre Arbeit aufnimmt, sitzen wir bald im T-Shirt da und verraten einander nicht, dass wir uns nach der abendlichen Kühle im Wohnmobil, den Geräuschen der Natur und der Einsamkeit sehnen. Das Haus ist schön eingerichtet, doch von der Lage abgesehen könnte die Wohnung auch in Deutschland sein – und eigentlich haben wir von einem Blockhaus mit rustikalen Stämmen statt blauen Sofas geträumt.

So ist das eben mit den Erwartungen und der Realität. Eines haben wir schon gelernt: Man kann aus jeder Situation etwas machen und wir wollen auf die sonnige Seite des Lebens sehen. Hier können wir diese Haltung gleich einüben.

Am nächsten Morgen erfahren wir, dass im Stockwerk unter uns den Winter über noch eine »Work and travel«-Saisonarbeitskraft aus Deutschland wohnen wird. Es war abgesprochen, dass wir das Holz für den Winter selbst sägen und hacken müssen. Aber dass wir die dafür erforderliche Schutzkleidung und außerdem einen Staubsauger für die Wohnung selbst organisieren müssen, kommt unverhofft. Das alles bedeutet weniger Alleinsein als erhofft, mehr nachbarschaftliche Nähe als gedacht und erneute Autofahrten in Geschäfte, die eine knappe Stunde entfernt sind. So lernen wir die Kehrseite einsamer Wohnlagen kennen, obwohl unsere Gastranch – für kanadische Verhältnisse noch recht zivilisiert – nur einige Kilometer Schotterstraße vom Highway 24 entfernt liegt. Man muss zwei Stunden in südliche Richtung fahren, um Kamloops, eine Stadt mit Flughafen, Einkaufszentren, Universität und Schwimmbad zu erreichen. Westlich von uns, eine gute Stunde entfernt, liegt der Ort 100 Mile House, wo es zumindest zwei große Supermärkte, die Bibliothek, ein Krankenhaus, weiterführende Schulen und diverse Handwerksbetriebe gibt. Wer abseits wohnt, der muss sich sehr genau überlegen, was eingekauft wird. Hier macht das Führen einer Einkaufsliste richtig Sinn. Es ist extrem ärgerlich, nach vier Stunden Autofahrt festzustellen, dass man die Glühbirnen, Schulhefte oder Butter vergessen hat. Viele der Rancher haben große Tiefkühltruhen oder Erdkeller sowie einen Generator, um Stromausfälle auszugleichen und etwas unabhängiger zu leben.

Wir haben kein Telefon im Haus, das Handy hat hier draußen leider kein Netz und da das Internet teuer erkauft ist und ein begrenztes Datenvolumen hat, möchten unsere Vermieter es nur im allergrößten Notfall teilen. Wir befinden uns also mitten in einer Lücke im weltweiten Datennetz. Wir werden sie schließen müssen, um über E-Mails mit unseren großen Kindern, den Eltern und Freunden Kontakt halten zu können. Außerdem ist es unser Ziel, alle zwei Monate einen Newsletter an Freunde, Verwandte und Interessierte zu schicken. Er kommt einem Lebenszeichen von uns gleich. Dafür brauchen wir von Zeit zu Zeit den Zugang zum Internet.

Also steigen wir an diesem Morgen ins Auto, um den Alltag zu organisieren, statt das herrliche Wetter für eine Kanufahrt über den See zu nutzen. Ganz oben auf der Prioritätenliste steht, Nora in der Schule anzumelden. Zuerst fahren wir auf dem Highway 24 versehentlich an Bridge Lake vorbei. Kein Hinweis oder Ortseingangsschild ist zu sehen, obwohl der »Ort« auf der Karte eingezeichnet ist. Also wenden und Augen auf beim zweiten Versuch. Tatsächlich gibt es eine kleine Abzweigung und wir fahren von der Hauptstraße ab. Nach einem Kilometer erreichen wir einige verstreut liegende Häuser, sehen einen kleinen Einkaufsladen mit einer Tanksäule davor und parken das Wohnmobil vor dem eingeschossigen, schmucklos-praktischen Schulgebäude. Den ersten Menschen, den wir treffen, halten wir wegen seines legeren Outfits für den Hausmeister – und stellen kurz darauf fest, dass man in Kanada mit solchen Annahmen vorsichtig sein muss. Es ist nämlich der Schulleiter persönlich, der uns gleich die Schule zeigt und Nora einer der zwei vorhandenen Klassen zuordnet. Knapp 40 Kinder besuchen die Schule. Nora wird in eine Klasse mit 23 Kindern der Jahrgangsstufen vier bis sieben kommen, die von einer Lehrerin und ihrem lustigen kleinen Hund betreut wird. Die Lehrerin begrüßt Nora auch gleich sehr freundlich und erklärt uns, dass die Klasse kommende Woche von Mittwoch bis Freitag ins Forestcamp (eine Art Schullandheim) fährt. Den begeisterten Gesichtern der anderen Kinder nach zu urteilen, ist dies ein Höhepunkt im Schulalltag. Auch ohne die englischen Worte genau zu verstehen, ist diese Botschaft bei unserer Tochter angekommen und so sagt sie ohne mit der Wimper zu zucken zu, dass sie ab Montag der nächsten Woche die Schule besuchen wird und zwar mit Forestcamp! Rektor, Lehrerin und auch wir sind sprachlos. »Wow, what a brave girl! – Oha! Was für ein mutiges Mädchen!«, meint der Rektor.

Wir nicken und denken für uns: »Warten wir mal ab, was am Mittwoch passiert.« Auf jeden Fall ist der formelle Teil der Schulanmeldung schnell erledigt. In 100 Mile House erstehen wir danach den Staubsauger, kaufen Schutzhelm samt Schnittschutzhose für die Waldarbeiten und finden ein nettes Internetcafé. Somit zieht ein Stück Normalität in unser Leben ein.

Stück für Stück lassen wir die Urlaubsphase hinter uns. Mit dem Zurückbringen des Wohnmobils nach Vancouver werden wir auch den Touristenstatus – zumindest äußerlich – ablegen. Am nächsten Morgen starten wir zeitig in Richtung Süden und erreichen sieben Stunden später Vancouver. Nach den vielen einsamen Straßen der letzten Wochen ist der Großstadtverkehr ungewohnt und verursacht etwas Anspannung. Der Wohnmobilvermieter hat uns zwischenzeitlich einen alten Chevrolet Blazer, einen viertürigen Allradkombi, organisiert, den wir ihm abkaufen. Leider hat er fast doppelt so viele Kilometer auf dem Buckel wie erwartet, weil der Unterschied zwischen Meilen und Kilometern nicht beachtet wurde. Pech für uns. Wir hoffen, der Wagen ist robust genug für holprige Pisten und gerüstet für den Winter. Denn wir brauchen auf dem Hochplateau des Cariboo verlässliche Winterreifen oder sogar Spikes. Das kann unser Gegenüber zwar verstehen, selbst erlebt hat er das aber noch nie, weil der Winter in Vancouver eher mild und oft regnerisch ist. Nicht nur deshalb besteht ein großer kultureller Unterschied zwischen Kanadiern im Großraum Vancouver, den sogenannten Stadt-Kanadiern, und den Ranch-Kanadiern mit Cowboygenen in der Mitte oder im Norden von British Columbia. Immerhin ist die Provinz wesentlich größer als Deutschland und hat unterschiedlichste Klimazonen. Wir werden uns also in 100 Mile House selbst um die passende Ausrüstung für den Winter kümmern müssen.

Wir haben ein beglaubigtes, englisches Bestätigungsschreiben unserer deutschen Autoversicherung dabei, sodass wir recht einfach eine kanadische Versicherung abschließen können. Dann wechselt Geld den Besitzer und wir bekommen gültige Nummernschilder. Außer der Nummernfolge steht groß »Beautiful British Columbia« auf dem Kennzeichen. Wir sind stolz, für ein Jahr per Autoschild die Heimatliebe zu einem tollen Land teilen zu dürfen.

Jetzt haben wir endlich Zeit, Vancouver zu genießen. Ein Hotel in der Innenstadt mit Blick auf eine kleine Bucht, in der Wasserflugzeuge ankern, ist unsere Oase nach dem anstrengenden Tag. Erst übermorgen sollen wir unser Cargo-Gepäck am Flughafen abholen. Das ist perfekt, denn heute reicht es mit Organisieren!

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Der neue Tag beginnt mit Möwengeschrei statt mit dem klagenden Ruf des Loon, eines Wasservogels, den wir im Norden oft und gerne gehört haben. Stadtgeräusche und startende Wasserflugzeuge machen uns bewusst, welche Stille wir in den letzten Tagen unbemerkt genossen haben. Heute wollen wir uns der Stadt mit allen ihren Vorzügen zuwenden. Wir schlendern die Hafenpromenade entlang, staunen über die vielen joggenden Menschen, machen einen Bogen um große Einkaufszentren und setzen mit dem Wassertaxi nach Granville Island über, dem trendigen Künstlerviertel am False Creek Meeresarm. Hier drängen sich originelle Läden an kleine Restaurants und Studierende der Emily-Carr-Universität für Kunst und Design schlendern zwischen Touristen und Einheimischen durch die Markthalle. Man sieht Händler vom Boot aus ihren fangfrischen Lachs anbieten und kann an der Mole frisch gepressten Orangensaft trinken. So schön kann Leben sein.

Die Zollformalitäten am Flughafen sind schnell geklärt, als wir am nächsten Tag frühmorgens dort auftauchen, um unser Wintergepäck abzuholen. Alles passt ins Auto und ab geht es Richtung Norden, dieses Mal mit dem Wissen, dass wir die gewohnte Zivilisation für längere Zeit hinter uns lassen. In uns wächst Vorfreude auf einsame kleine Schotterpisten, nächtliches Koyotengeheul, offene, herzliche Menschen, Ranchleben und das Eintauchen in die kanadische Ländlichkeit. Sieben Fahrtstunden später geht der Regen in Schneeschauer über, sinkt die Temperatur von spätsommerlichen zwanzig auf drei Grad und wir ahnen, dass der Winter im Cariboo deutlich früher als an der Küste erste Vorboten schickt. Aber wir haben es nicht anders gewollt …

Kurz vor der Abzweigung zu unserer Ranch entgehen wir um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem Reh. Vollbremsung! Der Schreck fährt uns in alle Knochen, das Reh springt unverletzt die Böschung hinunter. Das war knapp. Wir wollen nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn Olaf nicht so schnell reagiert hätte, sondern sind dankbar über den glimpflichen Ausgang dieser unerwarteten Begegnung. Auch wenn wir ein Vermögen in den Abschluss unserer Auslandskrankenversicherung investiert haben, testen möchten wir sie nicht unbedingt. Die Lektion über die Unberechenbarkeit von Wildbegegnungen in den Abendstunden haben wir auf diese Weise eindrücklich und frühzeitig gelernt.

Auch die Ranchbesitzerin besteht darauf, dass wir noch einiges lernen. Wir dürfen Wäsche nicht im Außenbereich aufhängen, es gibt schließlich einen Trockner. Das Auto soll nicht am Haus, sondern auf dem Gästeparkplatz am Eingang zur Ranch parken und beim Baden am See sollen wir den Steg des Haupthauses als private Zone achten. Ungläubig schauen wir auf den uns zugeteilten, schief im Wasser hängenden Holzsteg, der für Gäste zugänglich ist. Eigentlich wollten wir ankommen, uns zuhause und nicht zu Gast fühlen. Wie es aussieht, sind wir noch nicht angekommen.

Doch darüber wollen wir uns an diesem Abend keine Gedanken mehr machen. Müde fallen wir in unsere Betten, hören den Loon am Ufer des Sees rufen und schlafen dem Schulbeginn am nächsten Tag entgegen.

Montagmorgen. Um 8.30 Uhr stehen wir bei drei Grad frierend und nervös neben unserem Auto an der Einmündung High Country Road/Highway 24 und warten auf den gelben Schulbus, der die Kinder von den entfernt liegenden Ranches einsammelt. Es ist unsere Aufgabe, Nora morgens zur Hauptstraße zu bringen und nachmittags dort einzusammeln. Der Schultag geht bis 15 Uhr, eine Brotdose für die Mittagspause ist eingepackt, die Tasche mit Stiften und einigen leeren Heften bestückt. Alles Weitere wird sich finden.

Schließlich kommt der Bus angebraust, mutig steigt unsere Kleine ein und winkt uns noch einmal zu, als der Bus in Richtung Bridge Lake Fahrt aufnimmt. Wir haben nicht so gut geschlafen, sehen unsere Tochter eine unbekannte Schule betreten, in der sie fast kein Wort verstehen wird. Ahnen den Unterschied zwischen einem deutschen Stadtkind und kanadischen Landkindern. Loslassen ist angesagt – nicht für das Kind, für die Eltern. Nachmittags kommt sie freudestrahlend zurück. »Wie war’s?«, ist eigentlich eine überflüssige Frage. Sie wird entsprechend kurz beantwortet: »Great!«

Loslassen ist eine schwierige Übung. Sie begegnet uns nicht erst im Sabbatjahr. Es ist menschlich und normal, sich an Sicherheiten, vertraute Menschen, Aufgaben, Handlungsmuster, Denkweisen zu klammern. Loslassen heißt, du bekommst die Hände frei. Doch das will eingeübt und praktiziert sein. Nora macht uns vor, dass Loslassen zwar Mut erfordert, manchmal aber kinderleicht sein kann.

Als wir am Nachmittag die Cargo-Kisten auspacken, kommen erstaunliche Dinge zum Vorschein. Beate hat Flöten und Noten eingepackt. Wir haben warme Pullis im Überfluss, dafür kaum gute Handschuhe. Über die wenigen Fachbücher auf Deutsch freuen wir uns. Wir wollen uns Zeit nehmen, Themen der Selbstkompetenz und philosophische Fragen miteinander zu diskutieren. Hier haben wir den nötigen Freiraum dafür. Auch wenn Beates Englisch besser als das von Olaf ist, um Fachbücher zu lesen reicht es noch nicht aus. Wir hoffen, dass sich das im Lauf dieses Jahres ändert. Vor allem Nora hat ihre wenigen deutschen Bücher längst mehrfach gelesen und freut sich auf etwas Nachschub. Besonders freudig wird der iPod mit Lautsprecherboxen in Empfang genommen. Hier haben wir etliche unserer Lieblings-CDs aufgespielt, dazu klassische Musik, einige Hörspiele für Nora und in kühner Voraussicht deutsche Weihnachtsmusik. Man muss ja nicht alles auf einmal loslassen, oder?

Wenige Tage später trennt sich unsere eingeschworene Sabbaticalgemeinschaft erstmals. Nora fährt ins Forestcamp, drei Busstunden entfernt. An diesem Morgen müssen wir die Scheiben am Auto freikratzen. Eine Schar aufgeregter Schülerinnen und Schüler umringt an der Schule den wartenden Bus. Eltern umarmen ihre Kinder, die Lehrerin zählt ihre Schützlinge, die Busfahrerin lächelt und ist die Geduld in Person. Entspannt geht es zu, wir werden gegrüßt, gefragt, woher wir kommen und unkompliziert mit eingebunden. Nora kennt zwar schon einige Mädchen, doch spricht und versteht sie kaum das breite Cowboy-Englisch. Wir staunen, dass sie bei ihrem Wunsch geblieben ist und sich dem Abenteuer dieser Reise aussetzen will.

Am Morgen haben wir auf dem Schulweg Elche gesehen und die Farbenpracht des Herbstes bewundert. Der Indian Summer lässt die Blätter tief golden, orangegelb und rostrot leuchten. Besonders die Birken sehen wie für ein Fest herausgeputzt aus. Dennoch kann all diese Schönheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sehr vergänglich ist.

Das Loslassen können wir nirgends deutlicher vor uns sehen als im Wachsen und Vergehen der Natur. Ein Baum, der seine Blätter loslässt, wird frei von der Aufgabe, blühen oder nähren zu müssen. Im Winter kann er sich zurückziehen, neue Kräfte sammeln und seine Wurzeln tiefer graben. Es ist eine Zeit des Innenlebens, des von außen nicht zu sehenden Wachstums. So entsteht eine Grünkraft, aus der schließlich Neues knospen und wachsen kann. Dieses kraftvolle Bild macht uns Mut.

Um inneres Wachstum, Stärke für die Seele und Inspiration durch eine veränderte Umgebung geht es uns in diesem Auszeitjahr. Dafür wollen wir Ballast abwerfen, uns zurückziehen und die Abgeschiedenheit des kanadischen Winters als eine Zeit der Erneuerung, des inneren Reset nutzen. Wir haben Lust auf mehr, auf mehr vom Weniger bekommen.

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