Zuversicht

»Was immer du tun kannst oder träumst, es zu können, fang damit an.«

Perspektivenwechsel

Dreißig Grad minus sind ein Abenteuer – jedenfalls für uns kanadische Greenhorns. Der Horselake ist unter einer glitzernden Schneefläche verborgen, die uns oft zu langen Skitouren in die klirrende Kälte lockt. An manchen Tagen jedoch fegt ein unbarmherziger Nordwind die Schneedecke weg und gibt den Blick auf scharfkantige Risse frei. An ihnen kann man sehen, wie das Eis unter dem Schnee in Bewegung ist. An solchen Tagen legen wir lieber noch einen Holzscheit auf, trinken eine Tasse Tee und kuscheln uns, mit Lesefutter aus der Bücherei versorgt, auf das Sofa im wohlig warmen Blockhaus. Nora ist fasziniert von einem spannenden Kinderbuch über den historischen Serum Run von 1925. Diese außergewöhnliche Geschichte über den Wettlauf von Hundeschlitten mit dem Tod im eisigen Norden Alaskas liest sich in dieser Umgebung ganz anders als im Kinderzimmer in Stuttgart. Balto, der vierbeinige Held des Buches, ist in Nordamerika eine Legende. Er hat es sogar zur Leinwandberühmtheit geschafft und spielt die Hauptrolle im Zeichentrickfilm »Ein Hund mit dem Herzen eines Helden«. Dahinter steht die wahre Begebenheit und großartige Geschichte über eine tödliche Gefahr, über die bedrohliche Kraft der eisigen Natur, die Stärke von Mitmenschlichkeit, über eine tragende Vision, Zuversicht und das Zusammenspiel vieler Hundeschlittenführer, sogenannter Musher, und deren Hundeteams. Im Januar 1925 erreichte ein dramatisches Telegramm aus Nome, Alaska, den US-amerikanischen Kongress: Schwere Diphterie-Epidemie ausgebrochen STOP Kein frisches Antitoxin vorhanden STOP Bitte eine Million Einheiten Antitoxin sofort nach Nome schicken …

Am Polarkreis war die Diphterie ausgebrochen. Knapp 1500 Menschen lebten damals in Nome, fast 10 000 Menschen in der weiteren Umgebung. Ein Drittel von ihnen waren Inuit und aus der Geschichte weiß man, dass besonders die indigene Urbevölkerung von solchen Erregern bedroht war. Würde man die Krankheit noch rechtzeitig stoppen können? Das Vorhaben, die Medikamente mit dem Flugzeug einzufliegen, scheiterte an den arktischen Temperaturen. Bei minus vierzig Grad und angekündigten Schneestürmen bestand keine Chance auf einen Erfolg dieser Operation. Musher mit ihren Hundeschlitten waren die einzige Transportmöglichkeit. Es muss ein fast aussichtsloses Unternehmen gewesen sein, den 1085 Kilometer entfernten Ort unter diesen Bedingungen in kürzester Zeit erreichen zu wollen.

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An dieser Geschichte lässt sich Zuversicht buchstabieren, denn es ist unbeschreiblich, unter welchen körperlichen Strapazen es den Männern schließlich gelungen ist, das dringend benötigte Medikament zur Eindämmung der Diphterie in den abgelegenen Ort zu bringen. Zuversichtliche Menschen haben Vertrauen in sich selbst, geben nicht vorschnell auf, lernen aus Niederlagen, arbeiten an ihren Zielen und glauben fest, dass sie an ihrer Situation etwas ändern können. Zuversicht ist ansteckend und hoch motivierend – zum Glück für uns heute und zum Glück für die Menschen in Nome. Zuversicht ermöglicht einen Perspektivenwechsel. Diese Männer sahen nicht die dramatischen Schwierigkeiten, sondern eine große Herausforderung. Die Motivation, verzweifelten Menschen Rettung zu bringen, muss sie förmlich mit einem Turbo an Energie und Kraft versorgt haben. In Windeseile bildete sich eine Hundeschlittenstaffel mit zwanzig Mushern und ihren Hunden, welche die kostbare Fracht auf ihren Schlitten durch die Polarnacht fuhren. Minus 45 Grad auf einem Hundeschlitten, das können wir uns kaum vorstellen. Wir kennen mittlerweile Temperaturen bis minus dreißig Grad ganz gut. Da frieren die Finger, egal welche Handschuhe man trägt, und der Wind bearbeitet das Gesicht mit Eisnadelstichen. Wir binden uns dicke Tücher vor Mund und Nase, um das Atmen zu erleichtern. Wie will ein Musher damit seine Hunde anfeuern, den Schlitten festhalten und die Beine gegen das Festfrieren auflockern? Es erscheint uns unmöglich, bei diesen Minusgraden und Schneesturm 85 Kilometer durch ungespurte Wildnis unterwegs zu sein. Genau das aber hat Gunnar Kaasen während der letzten Etappe des Serum Run getan. Aufgrund des schlechten Wetters hatte er den nächsten Musher der Staffel verpasst. Deshalb entschloss er sich, dessen Etappe auch noch zu fahren. Ihn muss eine unglaubliche Energie getragen haben. Balto, der Leithund des Teams, hielt nur an einer einzigen Stelle den Schlitten an und man erzählt sich, er habe damit den Musher, die Hunde und das Serum vor dem Sturz in die Fluten des eisigen Topkok River bewahrt. Nach 127,5 Stunden, also gut fünf Tagen kamen die Medikamente schließlich in Nome an. Die vielen indigenen Musher, vor allem Leonhard Seppala, der mit seinem Leithund Togo mit 146 Kilometern bei widrigem Schneesturm den Löwenanteil am Serum Run bewältigte und unter Lebensgefahr den aufbrechenden Norton Sound, einen Meeresarm, überquerte, hätten öffentliche Anerkennung verdient. Aber die damaligen Medien stürzten sich vor allem auf die Geschichte von Balto, der zum Held des Laufes und zum Retter der Kinder von Nome stilisiert wurde. Noch im Dezember des gleichen Jahres wurde im New Yorker Central Park eine Bronzestatue des Schlittenhundes errichtet, die man noch heute dort besuchen kann.

Wir sind fasziniert von Schlittenhunden. Ihr leiser Lauf, die Zähigkeit, Zuverlässigkeit und der fantastische Instinkt, gefährliche Eislöcher zu umgehen, beeindrucken und begeistern uns. Deshalb freuen wir uns, ein deutschstämmiges Paar kennenzulernen, das sich außerhalb von 100 Mile House ein großes Anwesen gekauft hat, um sich seinem Hobby, den Schlittenhunden, zu widmen. »Wie kommt man von einer Werbeagentur in Deutschland zu einer Husky-Ranch in Westkanada?«, fragen wir die beiden. Die Antwort kommt schnell und ohne großes Nachdenken: »Wir waren mit unserem Leben am Ziel. Wir hatten alles erreicht. Es gab in dieser Sattheit zu wenig Herausforderungen. Wir haben uns nicht mehr lebendig gefühlt.« Draußen bellen die schwarz-weißen Vierbeiner in sorgfältig gebauten Gehegen. Der Schlitten muss angespannt werden. Gäste warten auf eine Fahrt mit dem Hundeschlitten. Die Ranch erfordert volle Aufmerksamkeit. Diese Aufgaben und der selbst gewählte Perspektivenwechsel aufs Leben machen unsere Gesprächspartner sichtlich lebendig. Wir selbst waren in Deutschland zwar längst nicht am Ziel, nicht übersättigt, aber wir verstehen diese Sehnsucht nach Leben. Es ist der Lockruf, den manche Menschen hören und für sich nicht mehr ignorieren wollen. Er hat auch uns erreicht – es war ein Lockruf des Ungelebten in uns. Tag für Tag wird diese Sehnsucht nun gestillt, fühlen wir uns lebendig und tief zufrieden.

Auch wenn Aruna kein Husky ist, so läuft unser Hund doch fast unbeeindruckt durch die Kälte und wir bewegen uns mit ihm sicherer auf den zugefrorenen Seen. Inspiriert durch die Geschichte der Schlittenhunde bringt Nora unserer Hündin sogar bei, einen Kinderschlitten zu ziehen, und ist mächtig stolz auf diesen Erfolg. Zur Belohnung gibt es Leckerlis für den Hund und einen Tee für die junge Musherin im Iglu vor dem Blockhaus. Aruna ahnt noch nicht, dass wir sie in der kommenden Woche für acht Tage allein in Kanada lassen werden. Weil unser ein halbes Jahr gültiges Touristenvisum demnächst ausläuft, müssen wir unsere Sabbatical-Wahlheimat verlassen und wieder neu nach Kanada einreisen, um nochmals fünf Monate diese Stille und Weite erleben zu können.

New York heißt unser Ziel. Dort können wir ohne zusätzliche Kosten bei Verwandten wohnen, eine großartige Möglichkeit, die wir gerne nutzen. Vom Goldrush-Trail geht es also in knapp sechs Stunden dorthin, wo das Gold in aller Köpfe ist, an die Wallstreet. Wir haben in den letzten Wochen nur selten die Nachrichten verfolgt. Die europäische Krise ist für uns weit weg. Dass der Goldpreis inzwischen in die Höhe geklettert ist, ist für uns unbedeutend, nicht aber für die kommerzielle Goldindustrie Kanadas. Von Fran, die in einem Camp für Goldminer arbeitet, haben wir gehört, dass sich die Aktivitäten in den letzten Monaten auffällig gesteigert haben und das Personal verdoppelt wurde. Wir sind gespannt darauf, die Stimmung in der Börsenstadt und den Goldrausch der Metropole mit eigenen Sinnen wahrzunehmen. Es reizt uns, vom einsamen weiten Cariboo ins pralle Leben Manhattans zu wechseln. Wir haben wenig Gepäck dabei. Wichtig erscheinen uns die Tagebücher, die wir in dieser Woche mit Eindrücken fluten werden und der Fotoapparat, der die Innenschau durch äußere Bildern ergänzen soll.

So starten wir bei Schneegestöber am Highway 24, entgehen im Fraser Canyon nur knapp einem durch den Sturm ausgelösten Steinschlag und erreichen Vancouver bei Nebel und Regenschauern. Zum Glück gibt der Scheibenwischer des Autos seine Tätigkeit erst kurz vor dem Flughafen auf. Die Reise beginnt auf jeden Fall abenteuerlicher als wir es uns gewünscht hätten! Mit Cathay Pacific Airlines heben wir spät am Abend ab und fliegen dem neuen Tag an der Ostküste Amerikas entgegen.

Plötzlich Weltenbürger, denken wir, als Nora von der Flugbegleiterin gefragt wird, ob sie aus Hongkong oder Vancouver kommt. Nora verzichtet auf umfangreiche Erklärungen, sagt einfach: »aus Vancouver« und nimmt freudig die englischen Comics zum Lesen in Empfang. So einfach kann das gehen. Um drei Uhr nachts stehen wir schließlich in der Schlange vor dem offiziellen »Immigration-Office« der US-Behörde. An diesem Nadelöhr sind alle gleich. Warten muss jede und jeder, unabhängig von Herkunft und Kontostand. Die kräftige, einfach gekleidete Afroamerikanerin wird schnell abgefertigt, während das elegant gekleidete Pärchen vor uns den Inhalt der Ledertasche auspacken muss und detailliert befragt wird. Man hat uns gewarnt, die Einwanderungsprozedur sei immer eine Tortur und schmälere den ganzen Aufenthalt. Deshalb sind wir mehr als überrascht, als der Offizier mit Nora scherzt und entdeckt, dass sie beide am gleichen Tag Geburtstag haben. Drei weitere Fragen und wir können die Schleuse passieren. New York, wir kommen!

Es ist früher Morgen, als wir unser Quartier mitten in Manhattan erreichen. Noras Nase klebt während der gesamten Taxifahrt an der Scheibe. Diese Fülle von Häusern, Geschäften, Autos ist verwirrend nach einem halben Jahr in der kanadischen Einsamkeit. Umso entzückter sind wir von dem kleinen Café »Le Pain«, ganz nah bei unserer Unterkunft, das mit urigen Holzmöbeln, klassischer Musik und langen Community-Tischen die Atmosphäre eines französischen Dorfcafés verströmt. Stolz weist die Kellnerin darauf hin, dass nur selbst gemachte Konfitüren angeboten und organische Zutaten für das Farmerbrot verwendet werden. Da fühlen wir uns fast wie bei Freunden auf der Ranch im Cariboo. Man kann überall auf der Welt seine ganz persönlichen Wohlfühloasen aufstöbern! Es liegt ja an uns, ob wir durch beschauliche, von (Lebens)Künstlern bewohnte Stadtteile wie Soho und West Village oder entlang der quirligen Shoppingmeilen und Touristenattraktionen unterwegs sind. Wir entdecken, dass Manhattan wunderschön angelegte, grüne Jogging- und Spielwege entlang des East River hat. Hier bummeln wir in den nächsten Tagen ausgiebig, joggen morgens in der Frühlingssonne und besuchen dann gemeinsam den Central Park, um Noras Helden Balto, dem Schlittenhund, einen Besuch abzustatten. Der Rücken der Bronzestatue glänzt blitzblank. Vermutlich haben schon viele Kinderhände den Vierbeiner gestreichelt. Eigenartig, inmitten einer Millionenstadt der Geschichte der Schlittenhunde zu begegnen. Es ist für uns eine innere Brücke zwischen den Erfahrungen der letzten Wochen und dem Sprung in eine andere Welt hier in New York. Wir lesen die geprägte Inschrift auf dem Sockel der Statue: Ausdauer – Treue – Intelligenz. Auf einer Tafel steht außerdem: »Gewidmet dem unbeugsamen Willen der Schlittenhunde, der diese im Winter des Jahres 1925 ein Gegengift sechshundert Meilen über raues Eis, tückische Gewässer und durch arktische Schneestürme von Nenana zur Rettung ins geplagte Nome tragen ließ.« Die Werte Ausdauer, Treue und Intelligenz, die hier den Huskies zugesprochen werden, lassen uns danach fragen, welche Werte für uns wichtig sind. Welche Werte brauchen Menschen im Cariboo, welche in Deutschland und welche hier in New York? Welche Werte wollen wir in diesem Jahr pflegen und welche davon werden uns künftig besonders wichtig sein? Werte verändern sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen eines Lebens. Mit dem Abstand zu unserem gewohnten Umfeld kommen wir unseren Werten leichter auf die Spur. Dass Lebensfreude und Dankbarkeit bedeutsam für uns sind, haben wir zwar gewusst, aber in der Begegnung mit den kanadischen Freunden neu erlebt. Hier in der Großstadt wird uns deutlich, wie hoch wir den Wert von Natur und räumlicher Weite einstufen, der für andere Menschen möglicherweise weniger wichtig ist. Lebensqualität geht für uns mit sinnvollem Tun, wertschätzenden Beziehungen und ehrlicher Kommunikation einher.

Ein Spiegel der Auseinandersetzung mit persönlichen Werten ist auch das Werk »Things I have learned so far – Dinge, die ich bisher gelernt habe« von Stefan Sagmeister. Er schreibt darin solche Sätze wie »Geld macht mich nicht glücklich« oder »Jammern ist dumm. Entweder du handelst, oder du lässt es«. Der bekannte Produkt- und Grafikdesigner lebt hier in New York. Wir sind auf Sagmeister aufmerksam geworden, weil er ein Lobbyist für Sabbaticals ist. Sein Vortrag über Auszeit unter dem Titel »The power of time off« ist ein interessantes Plädoyer, die Kraft von Sabbatzeiten beruflich zu nutzen. Sagmeisters Aussage zielt darauf ab, die berufliche Arbeitsphase eines Lebens gezielt alle sieben Jahre für ein Sabbatjahr zu unterbrechen. Sein Modell setzt voraus, dass ein Menschenleben normalerweise 25 Jahre Zeit zum Lernen, 40 Jahre Zeit zum Arbeiten und 15 Jahre Zeit des Ruhestandes beinhaltet. Vernachlässigen wir kurzfristig die Tatsache, dass man lebenslang lernen sollte oder dass Menschen heute möglicherweise älter als 80 Jahre werden. Fakt ist, dass Sagmeister dazu ermuntert, fünf der fünfzehn »Ruhestandsjahre« gezielt nach vorn zu verlagern – alle sieben Jahre des Arbeitsprozesses ein Jahr Auszeit. Dadurch verschiebt sich der Eintritt in den Ruhestand folgerichtig um fünf Jahre auf 70 Jahre. Sagmeister rechtfertigt dies mit der Beobachtung, dass Menschen, die ein Sabbatjahr in ihre berufliche Biografie einbauen, wesentlich kreativer, klarer und kraftvoller arbeiten können. Dadurch steigt nicht nur der Wert ihrer Arbeit, ihr ganzes Leben empfinden sie als lebenswerter. Leben besteht aus einer Synthese von sinnhafter Arbeit und entspannenden Tätigkeiten. Er greift den Begriff der Berufung als erfüllende Arbeit auf. Welch ein Unterschied zu Personen, die ihre acht Stunden Arbeit am Tag lediglich abarbeiten, absitzen oder durchhalten. Selbst Menschen, die ambitioniert auf eine Karriere hin arbeiten und sich deutlich mehr engagieren, sind in ihrer Wirksamkeit denen nachgestellt, die mit Begeisterung und Erfüllung tätig sind. Überforderung, wenig Mitbestimmung, fehlende Erfolgserlebnisse, aber auch mentaler und körperlicher Verschleiß führen oft zu Frustration, nachlassender Leistungsbereitschaft oder zu innerer Kündigung. Sagmeister ist kein Arbeitspsychologe, sondern kreativer Freigeist und vor allem ein Praktiker. Er hat ausprobiert, wovon er spricht. Bereits zum zweiten Mal hat er seine Agentur geschlossen, ist abgetaucht in ein Sabbatjahr, eingetaucht in fremde Welten, die ihn inspiriert haben, und aufgetaucht mit einer Kreativität, die sich bezahlt gemacht hat. Geld hat er sicherlich genug. Glück dagegen macht er nicht mehr am Geld fest. Weil wir ihn gerne persönlich kennenlernen würden, nehmen wir mit ihm Kontakt auf. Er hat leider keine Zeit, antwortet aber engagiert per E-Mail. Er beglückwünscht uns zu dem Sabbatjahr, schreibt, dass er diese Zeit als lohnenswerte Investition in sein Lebenswerk betrachtet, und schließt ganz folgerichtig: »Jetzt habe ich kein Sabbatical, die Arbeit geht momentan vor.«

Sabbaticals zielen eben nicht auf ein launiges Leben im Nichtstun, sondern auf den Perspektivenwechsel zugunsten eines lebenslangen erfüllten Lebens. Warum sollten wir uns Auszeiten gönnen? Weil unser Leben einmalig ist. Aus Liebe zum Leben die Auszeit wählen, darum geht es.

Und wenn man nun weder Geld noch Möglichkeiten für eine solche Auszeit hat? Diese Frage begegnet uns regelmäßig in E-Mails aus Deutschland. Dann muss die Auszeit zur Lebensart werden. Dann entscheidet die Art des Sonntags, die Art des Feierabends, die Art des Lebens darüber, ob ich Ruhepunkte einbaue, die mir inneren Aufwind ermöglichen. Wie Sagmeister feststellt: »Jammern ist dumm. Entweder du handelst oder du lässt es!«

Olaf trägt auch in diesen Tagen seinen Cowboyhut – wir fühlen uns als Cowboys der Großstadt. Wie wir in der Wallstreet feststellen, tobt der Tanz ums goldene Kalb auf subtile Weise. Dieser Goldrausch hat Sieger und Verlierer wie hoch im nördlichen Yukon. Wirklich reich und vor allem glücklich macht er nur ganz wenige. Menschengruppen drängen sich um die potente Statue des Stiers unweit der New Yorker Börse, die heute medienwirksam ihre Fusion mit der Frankfurter Börse ankündigt. Vor dem Gebäude hat sich die internationale Presse mit zahlreichen Übertragungswagen aufgebaut. Es gibt Live-Berichte und Interviews auf offener Straße. Wir schieben uns durch Touristen und Kamerateams, überholen Gruppen von uniformiert aussehenden Anzugträgern und atmen auf, als wir am Ufer des Hudson River stehen. Der Blick geht hinaus zur Freiheitstatue, Symbol des neuen Lebens für Tausende Ankömmlinge, die per Boot das berühmte Einwanderungsportal »Ellis Island« passieren mussten, um sich ihre Zukunft in Amerika aufzubauen. Wie leicht wir dagegen heute von einem ins andere Land reisen können! Die Welt ist spürbar zusammengerückt, zumindest aus der Sicht von Bewohnern eines reichen, demokratischen europäischen Landes. Uns wird bewusst, dass wir daran keinen Anteil, sondern einfach nur Geburtsglück hatten. Es ist ein Glück, dass wir Nora nicht nur die Natur und Einsamkeit, sondern auch die Kultur, Geschichte und Vielfalt hier zeigen können.

Am 16. Februar ist unser Familiensabbatical ein halbes Jahr alt. Vor exakt sechs Monaten sind wir ins Sabbatjahr aufgebrochen. Bei unserem Abflug aus Deutschland hat sich Beate die Frage gestellt: Wer bin ich? Wer bin ich ohne meine berufliche Position, ohne die örtliche Zugehörigkeit, ohne gesellschaftlichen Status. Jetzt beantwortet sie die Frage so: »Ich bin eine glückliche Frau, die froh ist, ihren Traum zu leben. Ich bin eine Mutter, die sich daran freut, drei Kinder zu haben, die fantastische Menschen sind und die ich gerne auf dem Weg in ihr Leben begleite. Ich bin eine Frau, die die Liebe des Lebens gefunden hat und die weiß, dass dieses Pflänzchen Liebe immer wieder Nahrung und Pflege braucht. Ich bin die Tochter, die ihren Eltern und dem Bruder dankbar ist für alle Nestwärme, Liebe und Begleitung. Ich bin eine Frau, die ihren eigenen Weg gehen will und dafür Freiraum braucht, die dankbar für die Erfahrung und Kraft des Glaubens ist. Ich bin ein Mensch, der Freude am Schreiben, Beobachten, Sinnieren hat und sich auf künftige Herausforderungen freut. Ich habe die Tiefe des Lebens neu kennengelernt und liebe das Leben. Deshalb möchte ich Lebensermutigerin für andere sein! Kurz gesagt, ich bin ein Glückskind!«

Es ist eine Art der inneren Weiterentwicklung, die in den zurückliegenden Monaten geschehen ist. Nach innen und von innen her zu sehen, verändert die Sichtweise, macht manche Sicht weise. Dazu passt ein Spruch von Paul Gauguin, den wir in der U-Bahn lesen: »Ich schließe die Augen, um zu sehen.« Er ist Teil einer Werbekampagne der River Church New York, die wir so interessant finden, dass wir uns aufmachen, als Abschluss unserer Großstadtwoche deren sonntäglichen Gottesdienst zu besuchen. Um zehn Uhr betreten wir einen futuristischen Vortragssaal im vierzigsten Stockwerk des World-Trade-Center Komplexes. Dank einer bodentiefen Fensterfront in der Eingangshalle geht der Blick weit über Manhattan und hinab in die Baugrube der ehemaligen Twintower. Hier sind tausende Menschen gestorben. Wir schauen berührt auf eine Stätte gestorbener Träume und begrabener Hoffnungen. Gleichzeitig ist an dieser Stelle der Grundstein für Neues gelegt. Es fällt uns schwer, das unbeschwerte Sonntagmorgen-Gefühl wiederzufinden. Doch die Predigt des Pastors, gedacht für ein anspruchsvolles »Downtown-Manhattan-Publikum« ist alles andere als einlullend. Der kleine Mann erzählt so lebendig, persönlich und kraftvoll über das bekannte Gleichnis vom verlorenen Sohn, dass wir nur staunen können. Er ermuntert zu einem Leben in Fülle, zu Fragen, die unter die Haut gehen, zu einer Gemeinschaft, die persönlich wird, Netzwerk bietet, einladend ist. Das Abendmahl wird nicht von kirchlichen Amtsträgern ausgeteilt, vielmehr stehen auf einem Tisch vor der Fensterfront Schalen mit Oblaten, daneben Becher mit Saft oder Wein und dazu ein Schild: Bitte tauche die Oblate in das Getränk und sei willkommen. Man traut dem einzelnen Besucher die Kompetenz zu, sich bei Gott zu bedienen. Das ist uns noch nirgends begegnet. »Abendmahl to go« mit viel Freiraum, der Möglichkeit beratender Gespräche, guter, moderner Musik und vielen Gästen, die deutlich unter fünfzig Jahre alt sind. Offensichtlich gelingt es der Kirche, mit ihrem Konzept zu den Menschen durchzudringen und Nutzen zu stiften. Wer würde sich sonst am Sonntag zu einem der drei River-Gottesdienste auf den Weg machen, wo es vor Angeboten in dieser Stadt nur so wimmelt? Wir fühlen uns nach dieser Woche der Andersartigkeit erfrischt, haben aufgetankt und ahnen noch nicht, wie wichtig dieses Kraftpolster gerade in den nächsten Tagen für uns sein wird.

Abgestempelt

Schlaftrunken, aber mit dem Gefühl, auf vertrautem Boden zu landen, verlassen wir um ein Uhr morgens in Vancouver das Flugzeug und begegnen einem misstrauischen, hellwachen Immigrationsoffizier. Seine Fragen zum Grund unserer Einreise sind knapp. Und unsere Antworten offensichtlich nicht ausreichend. Pech für uns, großes Pech, denn jetzt wird es ungemütlich. Das gebuchte Hotelzimmer bleibt vorerst leer und unsere Hoffnung auf einen erholsamen Schlaf wird sich so schnell nicht erfüllen. Wir werden nun extra befragt, warten in einem neonerleuchteten Raum, verstehen nicht, wieso unsere Erläuterung zum Sabbatical für die Einwanderungsbehörde unglaubwürdig ist. Man unterstellt uns offensichtlich, dass wir die Einwanderungsbestimmungen bewusst hintergehen und illegal in Kanada bleiben wollen. Scheinbar ist das ein Weg, den manche Menschen wählen, um das aufwändige Verfahren der Immigration zu umgehen. Wir fühlen uns im Recht, haben wir doch genau aus dem Grund, die kanadischen Gesetze zu achten, das Land vorschriftsmäßig verlassen. Wir fragen nach, wie lange man außer Landes hätte bleiben müssen, um wieder rechtskräftig einzureisen und bekommen keine Antwort. Die Machtlosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins lähmen uns. Nora spürt trotz der Übernächtigung, dass wir in eine schwierige Situation geraten sind. Wir können sie nicht wirklich trösten, denn wir sind ja selbst ratlos. Der Offizier ist mit unseren Ausweisen in einem Nebenzimmer verschwunden. Wir warten, still, verzweifelt, hoffend. Lange Zeit später kommt er zurück und händigt uns die Pässe aus. Sie tragen einen Stempel, der uns zur vorübergehenden Einreise ermächtigt und verlangt, dass wir das Land innerhalb von vierzehn Tagen verlassen müssen.

Vierzehn Tage? Uns bricht der Boden unter den Füßen förmlich weg. Vierzehn Tage? Was ist mit all den Plänen für die nächsten Monate, mit all der Vorfreude, mit Noras Schule? Wir wollen nicht zurück nach Deutschland – wohin sollten wir auch gehen? Da gibt es zur Zeit keine Wohnung. Noch ist nichts für unsere Rückkehr organisiert. Doch wir sind mit diesen Pässen jetzt abgestempelt, als unerwünschte Personen sichtbar gemacht.

Nora rollen die Tränen über das Gesicht, als sie den Offizier fragt, was wir falsch gemacht hätten und wieso er uns nicht glaubte, dass wir nicht für immer in Kanada bleiben, sondern tatsächlich im Sommer zurück nach Deutschland fliegen wollen. Die bezahlten Rückflugtickets, das Schreiben der deutschen Schule, dass unsere großen Kinder in Deutschland wohnen – nichts scheint überzeugend genug zu sein. Nora bekommt keine Antwort auf ihre Frage, lediglich den Hinweis, dass vierzehn Tage schon ein Entgegenkommen seien. Immerhin hätte man uns auch sofort zurückschicken können. Aufbegehren ist zwecklos, die Machtverhältnisse sind zu ungleich. Erinnerungen an manche Grenzepisode im geteilten Deutschland tauchen unvermittelt bei uns auf. Deprimiert verlassen wir den Flughafen und fallen im nahen Hotel in die vorbestellten Betten. Nora gelingt es, irgendwann einzuschlafen. Wir Eltern sind uns der Verantwortung für die Verlängerung unseres Aufenthaltes bewusst und sehen doch keine Lösung für das Problem. So liegen wir todmüde, aber schlaflos in den Betten. Irgendwann übermannt jeden von uns der dringend erforderliche Schlaf dann doch, erholsam ist er jedoch nicht. Kein Wunder, dass uns am nächsten Morgen die Dame an der Rezeption fragt, ob wir nicht gut geschlafen hätten. Als wir unsere Geschichte in Kurzform erzählen, entschuldigt sie sich für ihr Land. So etwas dürfe nicht passieren und sie wünscht uns den Erfolg des Bleibens. Genau diese bisher erlebte Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit der Kanadier haben wir in der letzten Nacht schmerzlich vermisst.

Was können wir tun? Man muss doch etwas tun können! Das ist eine typisch deutsche Haltung. Also fahren wir nach telefonischer Voranmeldung zur Vertretung des deutschen Konsulats an den Canada Place in der Stadtmitte Vancouvers. Dieses Mal haben wir keinen Blick für die Schönheit der Hafenbucht, die verschneiten Berge im Hintergrund und die Kreuzfahrtschiffe an der Landungsbrücke. Uns bewegen weit existenziellere Themen. Es ist wie eine Krankheit, die plötzlich über dein Leben hereinbricht. Sie verändert alles schlagartig. Prioritäten, Wünsche, Wertigkeiten verschieben sich von heute auf morgen. Unser größter Wunsch ist es momentan, entspannt zurück ins Cariboo zu fahren, wissend, der Stempel im Pass war nur ein schlechter Traum. Leider ist er dick, fett und eindeutig der Kategorie Realität und nicht einem Alptraum zuzuordnen. Da kann auch der Angestellte in der deutschen Vertretung nicht zaubern. Er bedauert den Vorfall, erklärt uns, dass es offensichtlich in den letzten Monaten ein strengeres Verfahren zur Einreise gebe und beteuert, dass wir nicht der einzige Fall seien, bei dem Deutsche ohne weitere Erklärung zur Ausreise veranlasst worden wären. Es sei extrem unerfreulich, doch sei das Verfahren eine kanadische Angelegenheit, in die man diplomatisch nicht eingreifen könne. Es gebe keine Ausführungsbestimmungen, die man für die Einreise einklagen könnte. Der jeweilige Offizier der Grenzbehörde dürfe souverän handeln, auch wenn uns das jetzt nicht passte. Damit nimmt uns der deutsche Konsulatsbeamte auch den letzten Hauch von Wind aus den schlaffen Segeln. Es bleibt uns wohl nur die Frist von vierzehn Tagen, um einen einigermaßen geordneten Rückzug anzutreten. Wir rufen Bruno, unseren Vermieter, an, um ihm von dem ganzen Schlamassel zu erzählen. Er ist nicht mal überrascht, weil er genau in dieser Nacht von Schwierigkeiten bei unserer Wiedereinreise geträumt hat. Wir sind verblüfft, er dagegen hat die Fassung schnell wieder gefunden und will in den nächsten Stunden Erkundigungen einholen. Er mahnt uns, trotz allem sorgfältig und konzentriert zu fahren, und wünscht uns eine gute Reise in den Norden. Dieses Mal entspricht der graue Schneeregen exakt unserer Stimmung. Es könnte kaum trostloser sein. Schweigend, hin und wieder am Kaffeebecher nippend, fahren wir den Bergen nördlich von Vancouver entgegen. Lediglich das Gefühl, unseren Hund bald wieder zu begrüßen und ihn nicht ausgeliefert zu wissen, kann ein wenig trösten. Die sonstige Fröhlichkeit, die Gespräche, Noras Fragen oder das Staunen über Naturschönheiten, die uns während der Fahrt begegnen, ist verschwunden. Die Gedanken kreisen um das Wohin. Wohin sollen wir gehen? Eigentlich haben wir ja Zeit und viele Möglichkeiten. Niemand erwartet uns in Deutschland. Wir müssen lediglich dafür sorgen, dass Nora unterrichtet wird. Aber wir haben wenig Spielraum für Experimente. Einreisebedingungen für einen Hund und ein schulpflichtiges Kind schränken die Aufenthaltsorte ein. Geld ist ein weiteres Kriterium. Wir wollen weder nach Südostasien noch in die USA. Nach Europa zurückzugehen, kommt uns wie ein Scheitern des Projektes vor. Unser Traum war die Weite des kanadischen Westens. Und wir hätten so viele Möglichkeiten, wie das Sabbatjahr weitergehen könnte. Frans Haus in Wells wartet auf uns, das Blockhaus ist bis Ende April bezahlt, Olaf hat zugesagt, als Teil einer kanadischen Mannschaft bei zwei großen Rennen mitzumachen. Er freut sich und trainiert bereits für den Goldrush-Relay und das Death Race in den nördlichen Rocky Mountains. Es soll für ihn der sportliche Höhepunkt des Sabbatjahres kurz vor unserer Heimreise werden. Und wieder enden die Gedanken bei der Frage nach dem Warum. Unsere Auszeit scheint von außen begrenzt zu sein, wie der Verlauf der schmalen Straße im Canyon, durch den wir gerade fahren. Steile, unwirtliche Felshänge und der Weg geht eben nicht darüber hinweg, sondern nur geradeaus, ohne Alternativen. Man bräuchte Aufwind wie ein Adler, um die Berge und Hindernisse zu überwinden. Und ausgerechnet heute sehen wir unglaublich viele Weißkopfseeadler auf den Bäumen am Wegrand. Auch Nora ist darauf aufmerksam geworden. Sie beginnt mit dem Zählen. Es lenkt von den trüben Gedanken ab. Sechzehn Adler verkündet Nora, als wir schließlich Stunden später den Canyon verlassen und unser Handy wieder Funkkontakt hat. Drei Nachrichten von Bruno. Er macht uns in seinem freundlichen Schweizer Akzent Mut, die Hoffnung nicht aufzugeben. Er habe schon Kontakt zur Einwanderungsbehörde in der Region aufgenommen und es gebe vielleicht einen Ausweg. Er setzt alle Hebel der Kommunikation und Beziehungen in Bewegung. Wie gut, wenn man Menschen hat, denen es nicht egal ist, was mit einem geschieht! Beate hat sich nach unserem ergebnislosen Besuch im Konsulat ein Wunder und einen Engel gewünscht. Es scheint, als sei der Engel schon aktiv. Als wir kurz vor 100 Mile House sind, überholen wir die ersten Schneemobile. Die Silhouette der Berge in der Ferne, Schneewehen am Fahrbahnrand, verwittert aussehende Holzhäuser und fette Trucks, die hupend an uns vorbeiziehen – so sieht das Cariboo im Winter aus. Im General Store am Highway, wo wir einige Lebensmittel einkaufen, legt der Kunde vor uns drei Köder für die Angel auf den Ladentisch. Eisangeln, na klar! Wir sind zurück im Land der Unikate, Querdenker, Goldsucher und Cowboys, Welten entfernt von Businessanzügen, Frühlingsblumen und Einwanderungsbestimmungen. Kurz taucht der Gedanke auf, ob es überhaupt jemand bemerken würde, wenn wir einfach hier bleiben würden. Doch darauf können und wollen wir es nicht ankommen lassen. Wir haben schließlich nichts Unrechtes getan und wollen uns auch nicht wie Verdächtige fühlen, die immer befürchten müssen, dass ihr Geheimnis entdeckt wird. Wir wollen heraus aus dem Stempelstatus. Noch dreizehn Tage haben wir Zeit.

Wir holen unseren Hund ab, der sich unbändig freut und fahren über eisige Wege vorsichtig zu unserem Blockhaus. Unser Blockhaus – wie das klingt. Es ist ja nur eine Unterkunft auf Zeit und, wie es aussieht, für erheblich kürzere Zeit als gedacht. Als wir die Tür aufschließen, sehen wir einen Korb mit Leckereien auf dem Küchentisch stehen und wissen, dass jemand unseren Empfang vorbereitet hat. Das Haus ist bereits geheizt. Ein Zettel von Bruno und seiner Familie heißt uns willkommen: Welcome back. Nehmt’s nicht allzu schwer. Wir alle helfen euch!

Noch bevor die letzte Tasche im Haus ist, klopft es an der Tür. Ken und Jody sind gekommen. In Windeseile muss sich unser Pech herumgesprochen haben, denn sie bringen uns Grüße von etlichen Leuten, Nora zum Trost einen Kuscheltier-Husky sowie die Einladung auf die Ranch ihrer Freundin Bethany zum morgigen Spielen. Die fürsorglichen Menschen wissen, dass Nora jetzt Ablenkung gebrauchen kann und sorgen auf ihre Weise dafür. Wir werden von einem Netz getragen, dessen Existenz wir allenfalls geahnt haben, und sind froh, die Sorgen nicht allein aushalten zu müssen.

Unterstützungsangebote und E-Mails treffen ein. Jeder versucht, uns auf seine Art zu helfen. Wir werden mit Essen versorgt, erhalten Kontakt zu Rechtanwälten und Parlamentariern, bekommen Formulare übersetzt und ermutigende Briefe. Schließlich bringt Bruno in Erfahrung, dass wir sofort einen Eilantrag auf Verlängerung unseres Aufenthaltes stellen sollen. Ein Berg von Papieren ist auszufüllen und fordert unsere Aufmerksamkeit. Die Parlamentarierin, bei der wir einen Sondertermin bekommen, kann zwar nicht ins Geschehen eingreifen, bestätigt uns aber, dass wir in Kanada bleiben dürfen, solange der Antrag auf Verlängerung offiziell bearbeitet wird. Dieses Verfahren kann bis zu vier Monaten dauern. Vier Monate erscheinen uns wie eine wunderbare Ewigkeit. Damit unser Antrag auf Verlängerung Aussicht auf Erfolg hat, brauchen wir Fürsprecher, die bezeugen, dass wir die Wahrheit gesagt haben und mit unserer Anwesenheit einen Nutzen für Kanada stiften. Unsere Bitte um sogenannte »Letters of support«, eine Art persönliches Empfehlungsschreiben, verbreitet sich wie ein Lauffeuer und schon zwei Tage später haben wir sechs individuelle Briefe vorliegen, manche davon sind sogar handgeschrieben, einige mehr als eine Seite lang. Beate liest sie mit zitternder Stimme vor. Es ist die Kategorie Briefe, die man selbst nur selten hört. Solche Wertschätzung findet sich in Nachrufen, die bei einer Beerdigung gesprochen werden, und dann ist es eigentlich zu spät dafür. Dies persönlich, schwarz auf weiß zu lesen, berührt uns zutiefst. Wir entdecken, dass die Ängste der letzten Tage und der ganze Ärger auch eine positive Seite haben.

Es wirft die Frage auf: Wie gehe ich mit dem um, was mir im Leben begegnet? Wie wir diese Frage beantworten, entscheidet darüber, ob wir an Niederlagen scheitern oder daran wachsen. Es ist nicht schlimm, hinzufallen. Nur das Liegenbleiben wäre fatal. Wir erleben, dass uns viele Menschen beim Aufstehen helfen. Aber auch sie können nicht verhindern, dass Nora schwer krank wird. Ob es ein Virus auf der Reise oder die nervliche Belastung war, weiß niemand zu sagen. Ähnlich wie beim Start ins Sabbatjahr hat sie hohes Fieber und einen Husten, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Als wäre das nicht genug, quittiert auch unser Auto bei minus dreißig Grad seinen Dienst und zwar just in dem Moment, als wir den Brief mit allen Unterlagen für die Immigrations-Behörde fertiggestellt und per Eilpost in der Poststelle in 100 Mile House auf den Weg gebracht haben. Glück im Unglück, dass das Ganze nicht irgendwo auf der Landstraße, sondern direkt in der Kleinstadt passiert. Kaum haben wir ratlos die Kühlerhaube aufgeklappt, stehen schon vier Passanten daneben, die helfen wollen und Tipps geben. Wie durch ein Wunder haben wir nicht nur Handyempfang, sondern erreichen auch Bruno, der wenige Straßen weiter seine Tochter von der Schule abholt. Er lässt einen geschäftlichen Termin in der Stadt ausfallen, um uns einen Abschleppservice zu organisieren. Dank seiner Fürsprache nimmt uns die Autowerkstatt außerplanmäßig dran und verspricht, die defekte Benzinpumpe schon in der kommenden Woche zu reparieren. Benommen von so viel Glück und Unglück zur gleichen Zeit lassen wir uns in Brunos Auto fallen und nach Hause fahren. Als hätte sie es geahnt, wartet Jody dort auf uns. Sie war einfach bei Nora geblieben, als wir nicht wie verabredet nach einer, sondern erst nach vier Stunden wieder zu Hause eintrafen.

Zu Hause! Es gibt kein passenderes Wort, um das Blockhaus zu beschreiben. Durch diese ganzen Schwierigkeiten spüren wir, wie tief wir uns schon auf ein Leben an diesem Ort und mit diesen Menschen eingelassen haben. Es gehört untrennbar zu unserem Sabbatical dazu. Der Blick aus den Fenstern in die menschenleere Winterlandschaft, die Sonne über dem verschneiten Horselake, die Elchspuren vor der Haustür, das freundliche »How are you – Wie geht’s dir«, wenn wir die entfernten Nachbarn mal treffen, das Knacken der Holzscheite im Ofen und der Blick auf die mächtigen Holzbohlen im Wohnraum – dies alles macht Geborgenheit, Zuflucht, Zuhause aus. Wir sind weit davon entfernt, die Situation schönzureden, aber wir versuchen, mehr als eine Seite des Ganzen wahrzunehmen. Ja, es kann sein, dass schon kommende Woche die Ausreise droht und der negative Bescheid im Briefkasten liegt. Aber heute sind wir hier und heute können wir etwas aus dem Tag machen. Ohne diese leidige Angelegenheit hätten wir nie diese intensive Form der Unterstützung erlebt. Jetzt sind wir dankbar für die Freunde, für ein Netz, das uns aufgefangen hat. Ja, Nora ist krank, aber es gibt Ärzte in 100 Mile House und wir bekommen schließlich ein Antibiotikum, mit dem sie wieder genesen kann. Wir denken an die Adlerperspektive und versuchen, diese Zeit mit Abstand zu sehen. Was kann im schlimmsten Fall passieren? Es ist ja nur die Ausweisung aus einem Land. Wir könnten in Deutschland irgendwo unterschlüpfen, das Leben ginge doch weiter. Viktor Frankl, österreichischer Psychologe und Überlebender eines Konzentrationslagers, hat einmal gesagt: »Man kann dem Menschen alles nehmen, nur nicht die Freiheit, sich so oder so zu den Umständen zu verhalten.« Mitten in der Tiefe der Verunsicherung spüren wir, wie die Zuversicht wieder Raum gewinnt in unserem Denken und die Angst kleiner wird.

Momentan fühlen wir uns wie in einem Labyrinth. Wir wollen dem Weg trauen, können aber nur bis zur nächsten Wegbiegung sehen. Ob es dann näher zum Ziel oder in eine entferntere Schleife geht, können wir nicht sagen. Bruno meint scherzhaft, wir sollten uns lieber entspannen, als ängstlich auf Post zu warten. Vielleicht hätte die Immigration unseren Brief vergessen. Mitunter arbeiten die Behörden sehr langsam, vielleicht würde die Antwort erst kommen, wenn wir schon längst wieder in Deutschland wären. Recht hat er. Wir haben alles getan, was in unserer Macht liegt und jetzt müssen wir loslassen. Der ganze Schlamassel bewirkt, dass wir umso dankbarer für jeden weiteren Tag unseres Sabbaticals sind. Die Sonne lacht bei minus 25 Grad und der Horselake lädt zum Langlaufen ein. Die Bewegung im Freien, Licht, Wind und frische Luft helfen, dass wir uns von dem Seelenstress regenerieren. Noras Lehrer kommt überraschend zum Krankenbesuch und bringt lauter Schokoherzen als Gruß von den Mitschülern mit. Er sagt: »Wenn du schon nicht in die Schule kommen kannst, dann kommt die Schule eben zu dir«, und zaubert ein erstes Lächeln auf Noras blasses Gesicht. Ganz langsam entspannen wir uns und machen zaghaft wieder Pläne für die kommenden Wochen in Kanada.

Seelenfutter und Well(s)ness

Wir hatten uns so auf Wells gefreut. Noch vor New York hatte Fran uns geschrieben, dass wir das grüne Holzhaus in Wells im März mieten könnten. Als unser Budget für die Miete des Hauses zu knapp war, hatte sie kurzerhand gemeint, wir sollten den Aufenthalt in Wells als Geschenk von Kanadiern an ihre deutschen Freunde annehmen. Ja wo gibt´s denn so etwas? Wir waren sprachlos. Begeistert sagten wir zu und freuten uns bereits auf zwei Wochen Wohnen in den Bergen des Cariboo. Jetzt scheint der Traum zu platzen, denn unser Auto ist noch in der Werkstatt. Als Ken und Jody davon hören, überraschen sie uns mit dem Angebot, ihren Pickup-Truck zu nutzen. Sie haben noch einen alten Zweitwagen auf dem Gelände. Sie würden dann unseren Chevy von der Werkstatt abholen und diesen fahren, bis wir wiederkämen.

Und so wird wahr, was wenige Tage zuvor noch undenkbar schien. Am 2. März schweben wir im gut gefederten Pickup bei Countrymusik über verschneite Straßen nordwärts. Wir sitzen zu dritt in der ersten Reihe, haben einen großartigen Blick auf die unermessliche Weite der Landschaft und selbst Nora singt »North to Alaska« lauthals mit, als es im Radio läuft. So zu reisen macht Spaß! Waren wir vor einer Woche erst in New York? Es scheint, als wäre dies in einem anderen Leben gewesen. Die Fülle der Ereignisse der letzten Tage und die damit verbundene emotionale Berg- und Talfahrt hat unser Zeitgefühl total verändert. Jetzt sehnen wir uns danach, wieder einen kanadisch-entspannten Rhythmus aufzunehmen, und mit jedem Kilometer wächst die Vorfreude auf die Tage in den abgelegenen Bergen der Cariboo Mountains. Außerdem erwarten wir noch eine originelle Begegnung. Schon vor unserem Sabbatjahr haben wir in Deutschland bei einem mitreißenden Vortrag über die Durchquerung der Rocky Mountains zu Pferd die beiden Abenteuerreiter Günter Wamser und Sonja Endlweber erlebt. Als es sich abzeichnete, dass die beiden ihren Ritt in Westkanada fortsetzen werden, haben wir einen lockeren Kontakt gehalten. Jetzt stellt sich heraus, dass sie ihren Wanderritt im Winter unterbrochen und ihr Übergangsquartier ausgerechnet in Wells gefunden haben. Da deren Route eigentlich mehrere hundert Kilometer weiter östlich entlangführt, finden wir es unglaublich, dass sie jetzt im gleichen kleinen Ort wohnen werden. Auf dieses Treffen sind wir gespannt!

Als wir Wells erreichen, ist von dem meterhohen imposanten Ortseingangsschild nur die oberste Spitze zu sehen. Berge von Schnee haben die Landschaft im Vergleich zur Adventszeit völlig verändert. Im »Schneeloch« Wells fallen extreme Niederschläge. Würden die Dächer der Holzhäuser nicht regelmäßig freigelegt, würden sie unter der Schneelast einbrechen. Da Fran noch im Goldmining-Camp ist und uns nicht persönlich empfangen kann, hat sie dafür gesorgt, dass wir das Haus offen vorfinden. Das kleine grüne Haus schaut unter einer Schneehaube hervor, die schon ziemlich bedrohlich aussieht. Es ist klar, was unsere erste Tätigkeit hier sein wird. Ein schmaler Gang zwischen Schneemauern führt zur Haustür und siehe da, die Tür ist unverschlossen. Wir klopfen den Schnee von den Füßen, treten ein und finden auf dem Tisch im Wohnraum einen Brief an uns: »Happy spring, Beate, Olaf and Nora. Make this home your home. Use what you find and enjoy your time. See you the next days. Bill will help you with anything. Fran« So, wie man sich in Deutschland frohe Ostern zuruft, so wünscht man sich hier den Frühlingsbeginn. Fröhlichen Frühlingsanfang? Also beim besten Willen können wir draußen kein einziges Anzeichen von Frühling entdecken. Was nicht ist, kann ja noch werden, so die kanadische Haltung, und unsere freundliche Gastgeberin hat ihre Worte tatkräftig mit einem ersten Tulpenstrauß unterstrichen – wunderschön und total unwirklich in dieser tief verschneiten Winterwelt. Aruna springt begeistert durch den weißen, trockenen Pulverschnee, während wir den Truck ausräumen. Olaf hat rasch den Ofen angeheizt und bis das Haus auf Betriebstemperatur kommt, lassen wir lieber die Jacken an. Da klopft es auch schon an der Tür. Eine Klingel gibt es nicht, dafür ein Telefon und – man glaubt den Luxus kaum – einen Internetzugang. Draußen steht Bill mit offener Jacke, als wären es nicht minus, sondern plus fünfzehn Grad. Er bringt uns frisch gebackenes Brot von Claire und das Angebot, dass sie Beate und Nora das Backen beibringt, wenn wir es wollen. Welch ein Empfang! Auch hier scheint es, als ob wir längst Freunde hätten, die sich auf unsere Ankunft freuen.

An dem Brot gibt es nichts auszusetzen, außer dass es viel zu schnell aufgegessen ist. Da es im Ort keinen Bäcker gibt und der einzige kleine Laden auch nur das Nötigste bereithält, haben die Menschen riesige Gefriertruhen. Bei einem Einkaufsweg von 160 Kilometern Gesamtstrecke machen plötzlich auch die großen Verpackungseinheiten Sinn, die wir in den Supermärkten sonst immer so hässlich finden. Und es liegt nahe, viele Dinge selbst herzustellen. Also bäckt Claire ihr Brot ganz nebenher, als Ausgleich und Pausenbeschäftigung parallel zur Arbeit im Kunstatelier. Tatsächlich kommt sie zwei Tage danach, um Beate sorgfältig die Tipps und Tricks eines gelungenen Brotbackens beizubringen. »Mein erstes selbstgebackenes Brot schmeckt unglaublich gut«, notiert Beate an diesem Abend voller Stolz in ihrem Tagebuch. So etwas wäre in Stuttgart undenkbar gewesen, für uns jedenfalls. Wenn man vier Bäcker in Laufentfernung erreichen kann und voll berufstätig ist, dann gehört das Brotbacken zu den Dienstleistungen, die man gerne einkauft. Aber hier, in der einsamen Dorfwelt im abgelegenen Tal der Cariboo Berge passt es ausgezeichnet dazu.

Tag für Tag erobern wir die nähere Umgebung. Das Goldgräber-Museumsdorf Barkerville ist im Winter frei zugänglich. Die Zugänge zu den Kassen, an denen sich im Sommer die Touristen drängen, sind zugeschneit. Der Hauptweg und etliche Dächer werden beräumt, um die Gebäude zu erhalten. Die Häuser sind verschlossen und wirken gerade dadurch, als wären die Bewohner nur kurz einkaufen oder in der Goldmine zum Arbeiten. Wir fühlen uns wie vor einhundert Jahren und staunen, als sich die alte Kirchentür knarrend öffnen lässt. Kein Mensch ist außer uns zu sehen, wir dürfen uns als Bewohner von Barkerville fühlen. Auch in Wells ist die Zahl der Einwohner deutlich geringer als im Sommer. Das Bears Paw Café ist im Winter geschlossen, doch Cheryl und Dave reißen die Tür auf, als wir vorbeistapfen. Sie erinnern sich an uns und wir laden sie zusammen mit den Künstlern aus der Kirche zum abendlichen Essen ein. Jeder bringt etwas mit und so füllt sich das Zimmer mit dem Duft von gebratenem Lachs, französischer Quiche, leckerem Salat, frischem Brot und dem fröhlichen Gespräch zufriedener Menschen. Hier ist Gemeinschaft, Austausch und Anregung wichtig für die Seele. Doch es gibt auch Menschen, die davon deutlich weniger brauchen und kilometerweit außerhalb des Dorfes allein leben. Sie schätzen die Einsamkeit so sehr, dass sie bereit sind, auf anderen Komfort zu verzichten. Zwei dieser Menschen sind Heather und Susan und sie staunen nicht schlecht, als sie uns in Frans Haus antreffen, wo sie zum Duschen kurz vorbeischauen. Ja, zum Duschen! Mit Fran haben sie die Abmachung, dass sie ab und zu auf dem Weg in die Stadt in Wells anhalten und das Bad benutzen dürfen. Diesen Luxus gibt es in den rustikalen Holzhütten der Trapper der Neuzeit nämlich nicht und um wie im Sommer üblich im Fluss zu baden, ist es jetzt eindeutig zu kalt. Lachend machen wir uns miteinander bekannt und staunen über diese andere Lebensweise. Bei uns gehört ein Computer, bei diesen Frauen das Jagdgewehr zur Grundausstattung – und jedes hat seinen Sinn.

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Und dann treffen wir tatsächlich Günter und Sonja, die Abenteuerreiter. Ihre Pferde sind im Winterquartier auf einer Ranch in den Rockies, nahe der Route, die sie im Frühjahr fortsetzen wollen. Sie selbst gönnen sich statt der sonst üblichen Vortragstour in Deutschland einen Winter in Kanada. Wir merken, dass die Reisekonstellation großen Einfluss darauf hat, was man erlebt und vor allem mit welchen Leuten man in Kontakt kommt. Während die beiden Kanada mit Zelt und Packpferden auf einsamen Pfaden entdeckt haben, sind wir neben allen Erlebnistouren auch in die kleinen Dorfgemeinschaften der Communities hineingekommen. Ein Schulkind und ein Hund eröffnen ganz andere Begegnungsmöglichkeiten. Viele Erfahrungen als Deutsche in Kanada sind dennoch gleich und die Leidenschaft, diese prächtige Natur auf eigenen Pfaden zu erleben, verbindet uns. Es macht Spaß und beflügelt die Gedanken, Menschen zu treffen, die ihre Lebensprojekte so mutig und lustvoll umsetzen wie diese beiden. An einem der nächsten Abende zeigen Sonja und Günter ihren Vortrag, der uns schon in Deutschland begeisterte, im Bears Paw Café. Es ist ein besonderes Erlebnis, gedrängt zwischen fünfundzwanzig »Wellsianern« zu sitzen und sich von deutschen Landsleuten mit fantastischen Fotos in die nahen Bergmassive der Rocky Mountains entführen zu lassen.

Wir sitzen also am 6. März, dem gestempelten Ausreisedatum in unseren Reisepässen, nicht im Flugzeug nach Deutschland, sondern im Künstlerdörfchen Wells, als würden wir zu den Einheimischen gehören. Dieses Gefühl der Freude darüber ist übermächtig. Ein Kontrollanruf bei Bruno hat ergeben, dass von der Behörde keine Post kam und auch sonst keine Nachfragen gestellt wurden. Es scheint, als hätte man uns in der Weite des Nordens wieder vergessen. Wir sind zufrieden und erkennen, dass all diese Erlebnisse das Sabbatjahr vertiefen. Jeder Moment ist ein Geschenk!

Dank Noras Besuch in der Dorfschule lernen wir auch die Besonderheit der hiesigen Schulsituation kennen. Künstler wie Claire kommen stundenweise, um den Kunstunterricht mit zu gestalten, Eltern übernehmen die Pausenaufsicht oder auch die Zubereitung schmackhafter Lunchbrote. Wir haben den Eindruck, das ganze Dorf trägt mit dazu bei, dass die Kinder eine vielfältige, anregende Schulzeit haben. Siebzehn Kinder von Kindergarten bis Klasse sieben werden zwar gemeinsam unterrichtet, aber je nach Klassenstufe und Alter individuell gefördert. Als die älteren Kinder am Nachmittag unter sich sind, wird Nora gefragt, wo in Kanada das Deutschland liegt, aus dem sie kommt. Ist Deutschland eine Stadt oder ein Dorf und ist es dort ähnlich wie in Wells? Die Lehrerin ermöglicht Nora, über Google Earth die Klasse zu einer virtuellen Reise einzuladen. Die findet es total lustig, den Kindern von Wells ihre Heimat in Stuttgart und sogar unser früheres Haus und die umliegenden Straßen auf der Großleinwand zu zeigen. Die Schule in Wells kombiniert moderne technische Errungenschaften mit den Schätzen der Natur vor der Schulhaustür. Im Winter besteht der Sportunterricht aus Langlaufstunden, die in verschiedenen Leistungsklassen durchgeführt werden. Am Nachmittag hört man das Lachen der Kinder von den Langlauf-Trails im Tal heraufschallen. Manche Eltern holen ihre Kinder direkt nach dem Unterricht an der Schule ab – mit Pony, Pickup, Motorschlitten oder zu Fuß. Die Vielfalt ist beachtlich. Ebenfalls vielfältig ist das Konzept der Lebensentwürfe. Wells ist ein Ort, an dem diese Vielfalt nicht störend, sondern bestenfalls interessant und originell wirkt. Ob farbige alte Holzhäuser, das Wohnen in der Kirche, in abgelegenen Siedlungen oder in einer nachgebauten mongolischen Jurte – wir finden alles sehenswert. Corey und Mike bewohnen mit vier kleinen Kindern eine Jurte an einem Hang oberhalb des Dorfes. Bereitwillig laden sie uns ein und zeigen uns ihre ungewöhnliche, selbst konstruierte Behausung – eine Art Wohnhöhle. Die Jurte ist im tiefen Schnee kaum zu sehen, nur der qualmende Blechschornstein ragt empor und deutet auf eine menschliche Behausung hin. Auf engstem Raum sind in diesem zeltähnlichen Rundbau ein Elternschlafbett, ein Doppelstockbett für die Kinder, Regale und ein Ofen untergebracht. Es wirkt gemütlich, aber für uns wäre diese Nähe erdrückend. Corey gibt lachend zu, dass diese Art zu wohnen ein Experiment ist. Sie meint: »Wir lieben es, unsere Kinder so nahe bei uns zu haben und die Kinder lernen viel von uns. Wenn es zu laut oder turbulent wird, dann mach ich einfach die Tür auf. Da ist genug Platz zum Spielen.« So gesehen hat sie Recht, denn der nächste Nachbar ist einige hundert Meter entfernt und sonst gibt es nur Wald ringsum. »Es muss ja nicht für immer sein«, meint Corey. Es gehört Mut und ein wenig Verrücktheit dazu, so flexibel zu denken. Sehr flexibel sind ebenfalls die bewegungsfreudigen Dorfbewohner. In Ermangelung eines Fitnesscenters treffen sie sich in einem kleinen Nebenraum der dörflichen Community hall. Yael, die Sängerin, hat uns zum Yoga eingeladen. Sie ist nicht nur beim Singen talentiert. Ihre sportliche Fangemeinde besteht an diesem Morgen aus drei Frauen, zwei Babys, einem Hund, einem Mann und uns. Gemeinsam atmen wir die Frische des Morgens, dehnen die wintermüden Knochen und haben im Anschluss noch Zeit, um Eier gegen Brot und neuesten Dorfklatsch zu tauschen. Leben in Wells erscheint uns wie mentale Wellness in diesen Tagen. Wir kreieren für diesen Urlaub im Sabbatical das Wort »Wells-ness«.

Die Tage in Wells sind unspektakulär und dennoch vielfältig. Schneeschuhwanderungen im pulvrigen Tiefschnee, eine Langlauftour auf dem Kibbeylake, einem der Seen des Bowrongebietes, abendliche Lesestunden im gemütlichen Holzhaus, Gespräche auf der Straße mit den wenigen Nachbarn – alles ist neu, bringt Abwechslung und andere Themen mit sich. Die Wildnis und unberührte Schönheit der Natur in den winterlichen Bergen verlocken Olaf zu längeren, ausgedehnten Mehrtagestouren, die Nora und Beate aber überfordern würden. Wir beraten, ob es langsam an der Zeit ist, sich für einige Tage zu trennen. Olaf soll seinen Freiraum haben, und auch wir Frauen können uns vorstellen, dass es guttut, auf uns selbst gestellt zu sein. Es reift leise die Idee, dass Olaf noch einmal allein aufbricht, um mit Langläufern eine Mehrtagestour auf den Bowron Lakes zu machen. Dave bestärkt Olaf bei diesem Vorhaben und gießt mit seinen lebhaften Berichten und tollen Bildern Öl ins Feuer der aufkommenden Begeisterung. Warum nicht? Beate wird dann mit Nora im Blockhaus am Horselake sein und dort die Frühlingsferien verbringen.

Der Fönsturm rüttelt schon am Holzhaus, als wir uns Mitte März von Wells verabschieden. Aus Bekanntschaft ist Freundschaft geworden. Keiner weiß, ob wir im Mai noch in Kanada sein können, falls ja, dann brauchen wir in dem Monat noch ein Quartier. Unser Blockhaus muss Ende April, wenn die Sommersaison beginnt, für andere Gäste geräumt werden. Erst ab Juni können wir eine cabin, eine rustikale Holzhütte, auf dem Gelände bei Ken und Jody beziehen. Fran bietet an, dass wir ihr Haus in dieser Übergangszeit einen ganzen Monat lang bewohnen können. Dann allerdings wollen wir dafür bezahlen, denn auch sie kann jeden Dollar brauchen, um ihr Haus und das Grundstück weiter auszubauen. So verabschieden wir uns vorerst und hoffen auf ein Wiedersehen im Mai. Als wir Richtung Süden fahren, sehen wir die ersten Kanadagänse. Es wird tatsächlich Frühling, auch wenn kein einziges Schneeglöckchen zu sehen ist.

Die Kanadier wissen, dass man den Frühling herbeifeiern muss. Zurück bei den Freunden der Housechurch, werden wir zu einem fröhlich-leckeren Frühlingsfest eingeladen und dieses Mal gibt es für die Kinder Eis ohne Limit. Happy Spring wird zum geflügelten Wort der nächsten Wochen. Der Frühling ist eine Zeit des Aufbruchs, in der man Lust auf Neues bekommt. Zeit für Olafs Solotour.

White Gold – Abenteuer im Schnee

Damit wir Frauen nicht zu viel Arbeit haben, hat Olaf vor seiner Abreise Holz gehackt. Der große Haufen hinter dem Haus soll bis Freitag ein warmes Haus ermöglichen – und wenn es nicht reicht, dann legen wir Frauen eben selbst Hand ans Beil. Wir haben besprochen, dass Olaf sechs Tage ausreichen sollten, um die Ostseite der Bowron Lakes über den Schnee zu erobern. Den gesamten Zirkel von 126 Kilometern zu befahren ist zu weit und allein zu riskant. Ende März ist die perfekte Zeit für eine Langlauftour, denn es ist nicht mehr so grimmig kalt, aber der See ist noch gefroren. Wenn der Schnee auf der Eisdecke der Seen so schwer ist, dass sich Risse bilden und Wasser über das Eis läuft, heißt es vorsichtig zu sein. Dieses Wasser überfriert in den eisigen Nächten und es entstehen Eisflächen, in denen man einsinken kann, ohne wirklich einzubrechen. Auch offene Eislöcher, die durch warme Strömungen entstehen, gilt es aufmerksam zu umfahren. Olaf hat eine große Verantwortung für sich bei dieser Solotour. Ein Handy funktioniert so weit abseits der Ortschaften nicht mehr. Die Tour beginnt ungefähr dreißig Kilometer außerhalb von Wells und führt ins Niemandsland – genau das, was den einsamen Wolf daran reizt.

Es ist Wahnsinn, seine eigene Spur zu ziehen und zu wissen, dass man im Umkreis von mehr als sechzig Kilometern allein unterwegs ist. Snowmobile sind auf dem Bowron-Lake-Zirkel nicht erlaubt. Du musst dich mit eigener Kraft vorwärts bewegen, bist abhängig von den Eisverhältnissen, von Schnee, Wetter und Kondition. Essen, Schlafsack, Isomatte, Axt, Ersatzkleidung und Kartenmaterial musst du selbst dabei haben. Doch der Lohn der Anstrengung ist groß. Olaf erlebt, was auf dieser Welt nicht mehr alltäglich oder leicht zu finden ist: unberührte Natur, unglaubliche Weite, absolute Stille und ein Abenteuer, was man als white gold beschreiben kann. Ein großer Traum geht für ihn in Erfüllung.

Dave, der Outdoorexperte und Besitzer des Bears Paw Café, ermöglicht Olaf einen perfekten Einstieg in das Abenteuer und stattet ihn mit dem nötigen Equipment aus. Nach einer urigen Nacht auf dem Fußboden in Daves Café fährt Olaf gemeinsam mit ihm und zwei Frauen am nächsten Morgen hinaus zum 30 Kilometer entfernten Bowron-Lake-Provincial Park. Dave, der Eiskenner, führt die Gruppe über den See, zeigt Stellen, die es zu meiden gilt und erklärt die vielen Wildspuren, die im Schnee gut sichtbar sind. Nach einem erfüllten Skitag fährt Dave mit den anderen zurück nach Wells, während Olaf mit Aruna zur ersten Übernachtungshütte aufbricht. 28 Kilo Gepäck sind sorgsam auf dem Schlitten verstaut, aber auf der hügeligen ersten Etappe geht nach einem Sturz der Teekessel doch verloren. Dumm, wenn man weiß, dass man Schnee im Kessel schmelzen muss, um Trinkwasser zu gewinnen. In der Dämmerung trifft Olaf an der Kibbeylake-Cabin ein und stößt überraschend auf Gesellschaft aus Vancouver, einen australischen Immobilienmakler und eine kanadische Ärztin. Das Paar verbringt jede freie Minute in der Wildnis. Zuerst haben alle etwas gestaunt, denn niemand hat Hüttengesellschaft erwartet, aber dann ergeben sich gute Gespräche und eine Essenseinladung, die es in sich hat. Am Feuer wird ein erstklassiges, deftiges Essen bereitet und auf grob gehackten Holzbrettern serviert. Olaf erfährt von den Experten, wie man dünne Späne schnitzt, die nächste cabin findet und was man auf dem Trail beachten sollte. Ausgestattet mit dem Teekessel der hilfsbereiten Kanadier bricht er am nächsten Morgen auf und taucht ein in eine glitzernde, weiße Weite. Ab jetzt ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt ein kleiner Notfallsender. Es gibt nur drei Knöpfe – ein o.k., die Hilfe-Taste, welche Dave alarmiert, und die 911-SOS-Taste, die den Helikopter anfordert. Olaf weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Dave seine abendlichen o.k.-Signale lokalisiert und verbunden mit einem Google-Earth-Link per Mail zu Beate ins Blockhaus schickt. So können die beiden Frauen jeden Abend sehen, wo Olaf sich befindet. Technik sei Dank!

Auch in der absoluten Einsamkeit sind die Tage gut gefüllt. Vormittags nutzt Olaf den festen Schnee, um Strecke zu machen. Auf das richtige Timing kommt es an. Das Wetter ist ein erheblicher Faktor. Von Günter und Sonja, den Abenteuerreitern, weiß Olaf, dass sie ihre Tour über die Seen wegen schlechten Wetters und zu tiefem Schnee abbrechen mussten. Also will Olaf die morgendliche Kälte nutzen und lieber nachmittags rasten. Es gibt nur eine weitere Spur in dieser Weite. Sie stammt von einer dreiköpfigen Gruppe, die vor zwei Tagen ins Gebiet gestartet ist. Olafs Wegweiser sind die Karte, freie Sicht dank gutem Wetter und diese Spur. An der nächsten Hütte angekommen, ist allerhand zu tun. Es dauert fast eine Stunde, einen Tee zuzubereiten: Feuerholz organisieren, Ofen heizen, Schnee auftauen – und dann endlich, ein Getränk. Man lernt Selbstverständlichkeiten ganz neu zu schätzen. Aruna ist für den Sologänger Gefährtin, Schutz und Mitesserin. Die beiden teilen sich Wiener Würstchen und das Brot. Das gab es noch nie! Die Hündin folgt Olaf auf Schritt und Tritt und ist auch vorsichtig an den gefährlichen Eislöchern. Abends wird gelesen, solange der Feuerschein der Kerze es zulässt. Unendlich scheint der funkelnden Sternenhimmel zu sein. Kein Tier- oder menschlicher Laut durchbricht die Stille. Nichts. Absolute Stille. Es ist, als wäre man allein auf der Welt. Eine Woche Tour, das ist die Zeitspanne, die wir maximal angepeilt haben. Ohne diese Verabredung und mit mehr Lebensmitteln auf dem Schlitten würde Olaf sicher noch nicht umkehren, so sehr genießt er das Alleinsein, die körperliche Anstrengung und die stille Weite. Nicht nur der Bart ist gewachsen, als er schließlich wieder am Horselake eintrifft. Olaf fühlt sich verändert, aufgeladen und überreich beschenkt, als er Beate und Nora wieder in die Arme nimmt. Er hat sein weißes Gold auf den Bowron Lakes gefunden

Feiern, Fasten und Fülle

Am Horselake ist Spring dance angesagt. Die unscheinbare Gemeindehalle von Lone Butte, dem Nachbarort, ist Tatort für den kommunalen Frühlingstanz. Keine Frage, wir müssen diesen Event miterleben. Tagsüber klettern die Temperaturen inzwischen über den Gefrierpunkt – Anlass, ein Kleid aus dem Koffer zu holen. Als Beate erfährt, dass der Frühlingstanz nicht nur Spring dance, sondern vor allem Cowboy dance ist, will sie unbedingt Cowboystiefel tragen. Doch diese sind neu gekauft ein Vermögen wert. Jody setzt alle Hebel des Buschfunkes in Bewegung und just am Abend davor treibt sie ein Paar wunderbar gearbeitete, schwarz-türkise Prachtstiefel für Beate auf. Dem Vergnügen steht jetzt auch kleidertechnisch nichts mehr im Wege. Nora darf leider nicht mit, wie immer, wenn in Britisch Columbia Alkohol an Erwachsene ausgeschenkt wird. Da gibt es strenge Gesetze. Kinder und Jugendliche sollen nicht dabei sein, wenn Erwachsene an der Bar trinken. Wir haben schon hitzige Diskussionen geführt, ob diese Regel sinnvoll ist. Bekanntlich ist das, was verboten ist, besonders reizvoll. Wäre es nicht besser, einen guten Umgang mit all den Dingen einzuüben, die man missbrauchen kann? Egal, wir werden die Regeln nicht ändern. Nora wird am Nachmittag zu einer Freundin gefahren und darf dort übernachten. So hat jeder etwas, worauf er sich an diesem Tag freut. Mit einigen Freunden, in Cowboystiefeln und die Männer mit Hut geht es zu unserem ersten Cowboy dance. Ernüchternd der Anblick, als wir die Halle betreten. Ringsum an den Wänden sind alte Tische mit Stühlen aufgestellt, in der Mitte eine riesige, leere Tanzfläche. Hinten ein Stand, an dem die freiwillige Feuerwehr Whisky und Wein in Plastikbechern oder Bier in Dosen verkauft. Helles Licht, das den schäbigen Bau auch nicht hübscher erscheinen lässt. Es fühlt sich an wie eine Zeitreise in unsere Jugend, in die Schuldisko mit all ihren anfänglichen Peinlichkeiten. Als jedoch plötzlich laute, rockige Musik einsetzt, dazu ein Lichtspektakel von einer kleinen Bühne mit Discjockey gesteuert, springen die Leute auf, als hätten sie tatsächlich ein Jahr lang auf diesen Moment gewartet. Unsere Freundin Jody ist ein wahres Feuerwerk auf der Tanzfläche. Das Stampfen und Rocken der Cowboystiefel ist fantastisch. Wir lassen uns mitreißen, tanzen und grölen die Lieder mit. Es ist egal, ob jemand mittanzt oder wie Kens fast achtzigjähriger Vater zufrieden mit einem Becher Scotch in der Hand dabeisitzt. Der Event bringt die Leute aus den Häusern und in Bewegung. Später wird Essen aufgetischt, was der örtliche Lionsclub organisiert hat. Man tut sich und anderen Gutes verbunden mit einer Menge Spaß. Dem kann es nichts anhaben, als der Discjockey kurz nach Mitternacht die Schreckensbotschaft bringt, dass es draußen zehn Zentimeter Neuschnee gibt. Sie wird mit johlendem Beifall quittiert, hat doch hier noch jeder seine Winterreifen auf dem Pickup.

Das mitreißende Frühlingsspektakel beim Cowboy dance ist gold wert. Denn Bewegung, Begegnung und Begeisterung sind drei wertvolle Vitamin Bs. Auch an Vitamin D mangelt es uns nicht. Die Sonne lacht oft vom Himmel, allerdings will und will der Schnee nicht weichen. Er schmilzt, fällt erneut in dicken Flocken, überfriert, wird matschig und so weiter. Es ist langsam anstrengend und selbst die sonst so unbeschwerten Nachbarn sehnen sich nach dem Aufbruch des Sees und ersten Knospen an den Sträuchern. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Olafs Training für den Vancouver Marathon, zu dem wir am 1. Mai fahren wollen, kommt nicht recht in die Gänge. Doch da gibt es noch eine weitere Art der Vorbereitung auf Marathon, Ostern und das Frühjahr, das Fasten.

Wie praktisch, wenn man Fasten als positive Körpererfahrung erlebt hat. Dies unterscheidet Beate und Olaf. Während Olaf ohne große Anstrengung seinen Körper auf »null« bzw. auf Ernährung von innen umstellen kann, kann Beate dem kompletten Verzicht nicht so viel abgewinnen. Olaf klinkt sich für eine komplette Woche aus dem gemeinsamen Essen aus und ernährt sich von Tee und Wasser. Für Beate steht das Fasten in diesem Jahr nicht im Vordergrund, sie möchte lieber fokussieren als verzichten. Sie will sich gezielt einer Sache widmen und dadurch auf viele andere verzichten. Sich ganz und gar auf eine Tätigkeit, auf eine Person, auf ein Gespräch zu konzentrieren, vertieft das Leben. Es ist in der Meditation als Achtsamkeit bekannt. Diese entsteht bei der Art unseres gegenwärtigen Lebensstiles oft von ganz allein. Inspiration kommt durch die viele Bewegung im Freien, durch Bücher, Gespräche, den begrenzten Austausch mit anderen Menschen, durch Stille, Natur und auch über gezieltes Informieren per Computer. Wir sind immer wieder froh, dass unser kleiner Laptop störungsfrei und zuverlässig arbeitet. Er ist unsere Verbindung in die Welt »dort draußen«. Da ist es eher Luxus als Verzicht, so abgeschieden zu leben. Leben in Fülle, so beschreiben wir diese Tage. Sichtbar wird die Fülle unserer Möglichkeiten, als Olaf nach dem Fasten voller Entzücken in seinen ersten Apfel beißen kann. Im Anschluss verwirklicht er ein kleines Fotoexperiment. Der große Holztisch im Blockhaus wird gedeckt mit je sieben Tellern fürs Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die leeren Teller werden fotografiert. Dann kochen wir, tafeln auf, füllen die Teller Stück für Stück und halten alle Schritte mit der Kamera fest. Als der Tisch randvoll ist, sieht man, welche Menge Nahrung und Köstlichkeiten ein Mensch in sieben Tagen zu sich nimmt. Leben in Fülle! Diese Fülle wollen wir natürlich nicht allein aufessen, also haben wir Gäste eingeladen, die sich auf das leckere Essen freuen und unseren Spaß an diesem Experiment teilen.

Solche Aktionen helfen uns über den tatsächlichen Frust hinweg, der uns befällt, wenn unsere Familie in Deutschland schon seit Wochen vom Frühling schwärmt und am 3. April enthusiastisch berichtet: »Es sind 26 Grad hier, wir gehen Eis essen und haben den ersten Sonnenbrand.« Wir gönnen den anderen den Sommer im Frühling, doch es fällt uns mit jedem Tag etwas schwerer. Es sind fünf Grad, nachts minus sieben Grad und leichter Schneefall – Frühling sieht anders aus. Wir erinnern uns an die Empfehlung, ein Freudetagebuch zu schreiben. Also richten wir den Blick auf das, was erfreulich, erbaulich, ehrlich gut ist. Die Bücherei hat einen immensen Schatz an guter philosophischer Literatur, die wir mittlerweile auch einigermaßen gut lesen können. Folglich geht der Diskussionsstoff nicht aus. Wir kennen viele verschiedene Leute im Umkreis von fünfzig Kilometer, sodass wechselseitige, nette Einladungen das Ausbrechen des sogenannten cabin fevers, des Hüttenkollers beim Warten auf den Frühling, verhindern. Und immer noch will keine Behörde unseren Aufenthalt in Kanada verkürzen, wir sind geduldete Gäste.

Als wir am frühen Ostermorgen mit Ken, Jody, deren Kindern und ihren Freunden um das erste Feuer im Freien sitzen, gemeinsam schweigen, singen und frisches Brot teilen, kommt schließlich der Frühling. Es wird wärmer. Ach, ist das herrlich!

Den Horselake haben wir schon seit einigen Tagen nicht mehr betreten. Lautes Grollen zeugt davon, dass sich tiefe Risse im Eis gebildet haben und der See demnächst aufbrechen wird. An unserem letzten Abend am Horselake, dem 28. April, lässt der Loon erstmals sein klagendes Rufen ertönen. Der Winter ist vorbei.