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Zehn Tage vor dem Bad Vilbeler Markt
D
er Vogelsberg ließ ihn nicht los. Nachdem sich der Traum vom eigenen Haus in Fuchsrod zerschlagen hatte, konnte er seiner Mietwohnung in Gießen noch weniger abgewinnen als zuvor. Das einzig Positive war der kurze Weg zum Präsidium. Aber jedes Mal wenn Ralph Angersbach seinen Vater besuchte und durch die herrliche Landschaft mit ihren ansteigenden Hügeln und den bewaldeten Bergrücken, den Flickenteppichen aus Wiesen und Feldern und den schmalen, gewundenen und wenig befahrenen Straßen unterwegs war, blutete ihm das Herz. Hier gehörte er hin, hier wollte er leben.
Das Geld dafür hätte er; nach dem Verkauf des Hauses in Okarben, das ihm seine Mutter vermacht hatte, war zumindest für eine Anzahlung genügend Kapital vorhanden. Für seine Halbschwester Janine, die er zusammen mit jenem Haus in der südlichen Wetterau geerbt hatte, musste er nicht mehr sorgen. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft in Berlin, zusammen mit Morten, einem australischen Jurastudenten. Seit dem letzten Herbst besuchte sie die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen. Sie hatten nur selten Kontakt; er mochte sich nicht aufdrängen, und Janine hatte so viel anderes zu tun, aber er war froh, dass es sie gab. Wenn er daran dachte, dass sie plante, nach dem Abitur und Mortens Abschluss mit ihm nach Australien zu gehen, zog sich ihm der Magen zusammen.
Und das nicht nur wegen allerlei giftiger Tiere und der immer heißer werdenden Sommer. Aber noch waren das zum Glück ungelegte Eier.
Weitaus mehr beschäftigte ihn der Wunsch nach einem eigenen Haus. Eines, das so aussah wie das seines Vaters. Sein alter Herr hatte schon einige Male vorgeschlagen, ebenfalls eine Wohngemeinschaft zu gründen, aber das war ihm dann doch zu eng. Zumal die anderen Mitbewohner, an die sein Vater dachte, als ergraute Hippies und Altachtundsechziger im Hinblick auf den Konsum von Rauschmitteln nicht unbedingt gesetzestreu waren; etwas, das Ralph nicht akzeptieren konnte.
Nein, er wollte etwas Eigenes.
Deshalb fuhr er jedes Wochenende kreuz und quer durch den Vogelsberg, in der Hoffnung, irgendwo die Perle zu entdecken, von der er träumte. Schließlich war er schon einmal auf ein Schmuckstück gestoßen, das gerade zum Verkauf stand, damals in Fuchsrod. Dass aus dem Hauskauf nichts geworden war, stand auf einem anderen Blatt.
Angersbach steuerte den alten grünen Lada Niva über eine holprige Nebenstraße, während er den Blick über die Häuser rechts und links seines Wegs schweifen ließ.
Tatsächlich war die Suche nach der Perle eher eine nach der Nadel im Heuhaufen. Je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass es das, was er sich erträumte, gar nicht gab. Es mangelte freilich nicht an leer stehenden Immobilien, doch mittlerweile wusste Ralph recht gut zu entschlüsseln, was sich hinter blumigen Begriffen wie »Heimwerker-Paradies« oder »Schmuckstück zum Wiederbeleben« verbarg. An die eine Ausnahme, die seinen Traum noch übertroffen hätte, dachte er lieber nicht. Dieses Haus wäre selbst dann unerschwinglich gewesen, wenn man ihn schon vor Jahren ein paar Gehaltsklassen höher eingestuft hätte.
Er zuckte zusammen, als sein Smartphone auf dem Beifahrersitz zu vibrieren begann. Mit einer Handbewegung, die inzwischen in Fleisch
und Blut übergegangen war, schaltete er das Gespräch per Bluetooth auf sein Autoradio; eine Modernisierung, die er sich vor einiger Zeit gegönnt hatte. Aufs Display sah er nicht. Deshalb traf ihn die Stimme, die aus dem Lautsprecher erschallte, wie eine Sturmbö.
»Angersbach?«, schnarrte der Anrufer.
Es war Kriminaloberrat Horst Schulte, Koordinator der Abteilung für Gewaltdelikte bei der Regionalen Kriminalinspektion Friedberg. Derselbe Mann, der auch verantwortlich für das Projekt »Mordkommission in Bad Vilbel« gewesen war. Das Experiment, zwei Außenstellen des K10 in der Polizeistation Bad Vilbel zu schaffen, hatte nicht überall für Begeisterung gesorgt. Schon gar nicht beim dortigen Dienststellenleiter. Ralph Angersbach war einer der beiden Kommissare gewesen, gemeinsam mit Sabine Kaufmann. Seine Gedanken kehrten zu dem Anrufer zurück, der in der Leitung auf eine Antwort wartete.
»Ja! Am Apparat.« Obwohl er dank Bluetooth beim Fahren telefonieren konnte, lenkte Ralph den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Er hatte den Verdacht, dass er für das Gespräch seine gesamte Konzentration brauchen würde.
Schulte kam sofort auf den Punkt, er war kein Mann, der lange um den heißen Brei herumredete. »Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass der Bad Vilbeler Markt vor der Tür steht?«
»Ja.« Auch wenn Ralph mittlerweile wieder in Gießen und damit einem anderen Bezirk zugeordnet war, bekam er von den umfangreichen Vorbereitungen immer etwas mit. Das Volksfest blickte auf eine fast zweihundertjährige Tradition zurück und wurde Mitte August ausgerichtet. Nach mehreren furchtbaren Anschlägen auf feiernde Menschen in verschiedenen Städten war in den vergangenen Jahren das Sicherheitskonzept für diesen Markt deutlich ausgebaut worden. Immer wieder wurden externe Beamte angefordert, und immer mehr versuchte man dennoch, einen
normalen Anschein zu wahren. In seiner Zeit in Bad Vilbel hatte Ralph Angersbach den Markt allerdings gemieden. Er hatte diesen Massenveranstaltungen noch nie etwas abgewinnen können, zu viele Menschen auf viel zu engem Raum: um Aufmerksamkeit heischende Marktschreier, kreischende Jugendliche in den Fahrgeschäften, grölende Betrunkene, plärrende Kinder, schimpfende Eltern … Und dazu die laute Musik, die einen von allen Seiten beschallte und sich, zusammen mit den surrenden Motoren der Karussells, zu einer Kakophonie mischte, die nichts als ohrenbetäubender Lärm war.
»Das betrifft auch Ihre ehemalige Dienststelle. Die Kollegen spielen im Sicherheitsmanagement eine wichtige Rolle. Ich habe die Koordination übernommen. Der Kollege Möbs ist ja mittlerweile im Ruhestand.«
Ralph war für einen Moment überrascht, obwohl es ihm hätte bewusst sein müssen. Konrad Möbs, der damalige Dienststellenleiter, hatte zwar seit vielen Jahren immer wieder seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert, aber jeder hatte gewusst, wie alt er wirklich war. Ralph rechnete nach. Inzwischen musste Möbs fünfundsechzig sein. Möbs war froh gewesen, als man das K10 zunächst auf eine Stelle reduziert und schließlich ganz eingestampft hatte und erst Ralph Angersbach und ein Jahr später Sabine Kaufmann aus Bad Vilbel weggegangen waren, Angersbach zurück zum K11, der Mordkommission der RKI
Gießen, Kaufmann nach Wiesbaden zum LKA
.
»Hm«, brummte Ralph. Was sollte er auch dazu sagen? Doch ihm schwante nichts Gutes.
Schulte räusperte sich. »Weshalb ich Sie anrufe: Wir haben ein Problem.«
»Aha?« Was immer es sein mochte, es ging ihn nichts an. Auch wenn die Polizeistation Bad Vilbel genau wie die RKI
Gießen zum Polizeipräsidium Mittelhessen gehörte – sein Job waren
Kapitalverbrechen, nicht die Erstellung von Sicherheitskonzepten für Großveranstaltungen.
Schulte hörte offenbar die Ablehnung in seiner Stimme. »Ich weiß, dass Sie damals nicht im Frieden auseinandergegangen sind. Aber Konrad ist nicht mehr da. Und mit den anderen Kollegen haben Sie sich doch gut verstanden?«
Das musste Angersbach einräumen.
»Also, die Sache ist die: Wir haben ein Drohschreiben erhalten. Von einem unbekannten Absender.«
»So?« Ralph verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. »Was steht darin?«
»Der Absender kündigt an, dass es einen Anschlag geben soll. Auf die Polizei Bad Vilbel. Er schreibt, das Attentat solle den krönenden Abschluss
des diesjährigen Marktes bilden.«
Angersbach wurde innerlich kalt. Das war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen durfte.
»Ich komme«, sagte er rau.
»Danke.« Obwohl Schulte vermutlich nichts anderes erwartet hatte, wirkte er erleichtert. »Sie finden mich in meinem Büro in Friedberg.«
Sabine Kaufmann drehte den Hahn über der Wanne zu und goss ein wenig von dem teuren Badezusatz ins Wasser, den sie sich gegönnt hatte. Ein angenehmer Duft nach Lavendel breitete sich aus. Sie legte ihre Kleidung ab, faltete sie auf dem Hocker neben dem Waschbecken und steckte den rechten großen Zeh ins Wasser. Die Temperatur war perfekt. Mit einem Seufzen ließ sie sich in die Wanne gleiten.
Auf diesen Moment hatte sie sich schon die ganze Woche gefreut. Sie fühlte sich überarbeitet und ausgelaugt. Zu viele Fälle, zu viele undurchsichtige Geschäfte, zu viel Zeit am Schreibtisch. Die Jagd nach Tätern, die in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts fielen, war eine deutlich trockenere Angelegenheit als die Suche nach
gewöhnlichen Mördern. Häufig ging es um Organisierte Kriminalität. Ehe eine Festnahme erfolgen konnte, mussten Verdächtige oft monatelang observiert werden. Es gab Unmengen von Papieren durchzuarbeiten. Alles in allem kam sie zu selten auf die Straße.
Kaufmann lehnte den Hinterkopf an den Wannenrand und schloss die Augen. Die Wärme löste die verkrampfte Muskulatur in Schulter und Nacken, und sie spürte, wie sie sich entspannte. Aus dem eingebauten Radio neben der Tür ihres Badezimmers perlte leise Musik. Es war eine der Annehmlichkeiten der Wohnung im Wiesbadener Stadtteil Dotzheim, die sie direkt nach der Grundsanierung und Renovierung bezogen hatte. Entsprechend hoch war die Miete, fast tausend Euro warm. Aber da sie ansonsten so gut wie keine Ausgaben hatte, konnte sie sich den Luxus leisten.
Ihr Kopf wurde schwer und füllte sich mit einer angenehm dumpfen Leere. Beinahe wäre sie eingedöst, doch da schrillte das Telefon im Wohnzimmer. Sabine öffnete die Augen und stöhnte.
Nein. Nicht jetzt,
beschloss sie.
Es klingelte fünf-, sechs-, siebenmal, dann brach der Klingelton ab.
Na also.
Kaufmann lehnte sich lächelnd zurück und schloss die Augen wieder.
Im Wohnzimmer erklang die Melodie ihres Handys.
»Verdammt.« Warum hatte sie das Gerät nicht mit ins Bad genommen und auf den Hocker neben der Wanne gelegt?
Weil sie nicht telefonieren, sondern ihre Ruhe haben wollte, antwortete sie sich selbst. Doch der Anrufer war hartnäckig. Das Klingeln des Smartphones brach ab, als sich die Mailbox einschaltete, setzte aber zehn Sekunden später erneut ein.
Offenbar war es wichtig.
Sabine stieg seufzend aus der Wanne, rieb sich notdürftig mit dem flauschigen Handtuch ab, das sie bereitgelegt hatte, und schlüpfte in
den Bademantel. Dann lief sie ins Wohnzimmer, gerade als das Smartphone zum dritten Mal zu klingeln begann. Sie nahm es zur Hand und sah, dass der Anrufer ihr Vorgesetzter war, Kriminaloberrat Julius Haase.
Was vermutlich bedeutete, dass es Arbeit gab.
Eine halbe Stunde später fuhr sie mit ihrem silberfarbenen Renault Zoe auf der A66 von Wiesbaden in Richtung Frankfurt. Am Nordwestkreuz wechselte sie auf die A5 nach Norden. Gut fünfzehn Kilometer, dann kam die Abfahrt zur B455 nach Friedberg. Sabine durchfuhr die erste Stadt, Rosbach, um festzustellen, wie sehr sich alles verändert hatte. Neue Straßen, ein ganz neues Wohnviertel. Der äußerste Speckgürtel des Rhein-Main-Gebiets mit direkter Anbindung an die Autobahn. Sie erreichte Friedberg und passierte einen Kreisel, der so gebaut worden war, dass die US
-Panzer der hiesigen Kaserne ihn bei Manövern über eine Schranke direkt überfahren konnten, und nahm die erste Ausfahrt, die sie entlang eines Industriegebiets zur Regionalen Kriminalinspektion führte. Ein Weg, den sie immer noch auswendig beherrschte. Während sie ohne Eile die letzten paar Hundert Meter fuhr, dachte Sabine darüber nach, was ihr Chef Julius Haase ihr mitgeteilt hatte.
Kriminaloberrat Horst Schulte aus Friedberg hatte sich ans Landeskriminalamt gewandt, weil bei der Polizeistation Bad Vilbel ein Drohbrief eingegangen war. Man kündigte einen Anschlag auf die Polizei im Zusammenhang mit dem Vilbeler Markt an. Für solche Dinge war das LKA
zuständig.
Es rührte sie, dass ihr ehemaliger oberster Vorgesetzter aus ihrer Zeit in der Mordkommission in Bad Vilbel explizit darum gebeten hatte, sie für diesen Fall abzustellen. Trotzdem widerstrebte ihr dieser Ausflug in die Vergangenheit. Nicht nur, weil sie und Konrad Möbs, der Bad Vilbeler Dienststellenleiter, alles andere als freundschaftlich
auseinandergegangen waren. Bad Vilbel beschwor noch eine Reihe anderer unangenehmer Erinnerungen herauf.
An die letzten Jahre, die sie dort zusammen mit ihrer Mutter gelebt hatte, weil diese nicht allein zurechtkam – paranoide Schizophrenie, die sich auch mit Medikamenten nicht hundertprozentig kontrollieren ließ. Ihre Mutter hatte Betreuung und Hilfe gebraucht. Das war oft schwer gewesen, und Sabine hatte sich manches Mal gewünscht, die Dinge wären anders. Bis zu dem Tag, an dem man Hedwig Kaufmann ermordet hatte.
Seit ihre Mutter tot war, vermisste sie sie schmerzlich. Statt sich der Trauer zu stellen, war sie geflohen. Es war einer der Gründe für ihre Entscheidung gewesen, zum LKA
nach Wiesbaden zu gehen. Nach Bad Vilbel kam sie nur noch, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und das tat sie nicht oft. Es wühlte zu vieles auf, und sie konnte nicht gut damit umgehen.
Als sie die ersten Häuser von Friedberg erblickte, kamen ihr die Tränen. Vielleicht hätte sie doch auf Haase hören sollen, der ihr bei ihrem Dienstantritt beim Landeskriminalamt geraten hatte, sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu holen. Den Mord an der eigenen Mutter zu verkraften war nichts, was man allein gut bewältigen konnte. Sie hatte seine Empfehlung in den Wind geschlagen, weil sie nicht noch mehr aufwühlen wollte. Ohnehin hatte sie sich schon wie ein leckgeschlagenes Schiff gefühlt. Ein Therapeut hätte sich nicht damit zufriedengegeben, ihre Gefühle in Bezug auf den Tod ihrer Mutter zu besprechen. Er hätte auch in ihrer Vergangenheit gewühlt und über den Vater reden wollen, der die Familie verlassen hatte, als Sabine ein kleines Mädchen gewesen war, um irgendwo in der spanischen Sonne ein neues Leben anzufangen. Doch mit diesem Thema wollte sie sich nicht auseinandersetzen, wie mit so vielen anderen auch nicht. In der letzten Zeit hatte sie allerdings der Verdacht beschlichen, das wachsende Gefühl der Leere, das sie von
innen heraus aufzufressen schien, könnte womöglich etwas damit zu tun haben, dass sie alle Probleme in die dunklen Kellerräume ihrer Seele verbannte, statt sich ihnen zu stellen.
Doch jetzt gab es zunächst anderes zu tun. Bad Vilbel stand der Marktbeginn bevor, und nun drohte ein Verrückter mit einem Anschlag auf die Polizei. Sie musste herausfinden, wer derjenige war, und ihn unschädlich machen, im besten Fall, ehe das Volksfest begann. Das Letzte, was die Stadt brauchte, war eine blutige Katastrophe, die sich ausgerechnet hier abspielte. Sie lenkte den Zoe auf den Parkplatz der Regionalen Kriminalinspektion und blinzelte. Neben dem silbernen E-Klasse-Mercedes, der, wie sie wusste, Horst Schulte gehörte, parkte ein dunkelgrüner Lada Niva.
Kaufmann kannte nur einen Menschen, der eine derart in die Jahre gekommene, schlecht gefederte und hässliche Schrottkiste fuhr.