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Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende
E
s dauerte lange. Rico fror. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und schlang die Arme eng um den Körper, um seinen Vater nicht sehen zu lassen, wie seine Hände zitterten. Seine Mutter war jetzt drüben auf der anderen Seite, zusammen mit Onkel Dranko. Das war der beste Freund seines Vaters. Er war bei der Grenzpolizei und hatte zusammen mit weiteren Freunden hier und drüben den Plan ausbaldowert.
Eigentlich war es ganz einfach. Dranko wollte bei seiner Einheit den Panzerwagen stehlen, Rico und seine Eltern aufnehmen und durch das Minenfeld rasen. Es hatte ja auch geklappt. Nur dass sein Vater und er nicht rechtzeitig am Treffpunkt gewesen waren, weil dieser Stasimann mit einem Trupp Volkspolizisten aufgetaucht war und ihre Wohnung durchsucht hatte.
Zufall? Oder hatte die Stasi Wind von ihrem Fluchtplan bekommen?
Die Flutlichter gingen aus, und sein Vater griff nach seiner Hand.
»Jetzt!«
Er zerrte ihn hinter sich her aus dem Gebüsch, und sie rannten über die Wiese.
Rico betete, dass sich sein Vater den Weg genau gemerkt hatte. Wenn sie von der Spur des Panzerwagens abkamen und auf eine Mine traten …
Er wollte lieber nicht daran denken. Ihm fehlte auch der Atem dafür. Sein Vater lief sehr schnell, und obwohl Rico auf dem Fußballplatz allen davonrannte, hatte er Mühe, ihm zu folgen. Er sah ja nicht, wohin er trat, und normalerweise hatte er beim Sprinten auch keinen schweren Rucksack auf dem Rücken. Nun stolperte er, seine Füße verhedderten sich, und er wäre gestürzt, wenn sein Vater ihn nicht wieder hochgezogen hätte.
Sie hatten vielleicht die Hälfte der Strecke geschafft, als die Flutlichter wieder aufflammten. Der milchige Schein fraß sich durch den dichten Nebel, der über der Wiese hing, zusammen mit dem Rauch der unzähligen explodierten Minen, der sich noch nicht verzogen hatte. Eine weißgraue Giftwolke, und mittendrin sie, zwei dunkle Gestalten, allein auf freiem Feld, ohne jede Deckung, hinter der sie sich in Sicherheit bringen könnten.
Eine blecherne Lautsprecherstimme hallte über die Ebene.
»Bleiben Sie sofort stehen! Wir werden nicht zögern, zu schießen!«
Rico bekam keine Luft mehr. Seine Knie fühlten sich an wie Gummi, seine Füße wie dicke Betonklötze, die er kaum vom Boden heben konnte.
»Lauf!«
Sein Vater beschleunigte, zog so schmerzhaft an seinem Arm, dass er dachte, er werde ihm aus dem Gelenk gerissen. Hinter ihnen heulte ein Motor auf. Das dumpfe Dröhnen eines Jeeps, der wie sie der Spur folgte, die frei von Minen war.
Rico konzentrierte sich nur noch auf seine Beine. Sein Herz hämmerte wie verrückt.
Sie mussten es einfach schaffen. Er wollte doch zu seiner Mutter!
Der Scheinwerferkegel des Geländewagens erfasste sie. Schüsse peitschten durch die Nacht. Und immer wieder diese Megaphonstimme: »Stehen bleiben!«
»Lauf, Junge!«
Sein Vater zog und zerrte, und Rico gab sein Bestes. Auf der anderen Seite der Wiese konnte er die Bäume sehen, die Äste ausgestreckt wie Arme, die ihn willkommen heißen wollten. Dort war die Grenze. Wenn sie es in den Wald schafften, waren sie frei.
Es war nicht mehr weit, fünfzig, sechzig Meter vielleicht. Nur noch ein paar Sekunden, dann hatten sie es geschafft. Rico verspürte ein euphorisches Kribbeln, so wie er es auch erlebte, wenn er ganz allein mit dem Ball am Fuß aufs Tor zustürmte. Wenn er wusste, dass ihn niemand mehr aufhalten konnte, der Torhüter eine Pappfigur, die er lässig austricksen würde. Nur noch ein kurzer Blick, die Konzentration auf den Schuss, und dann …
Irgendetwas traf ihn am rechten Knie wie ein Hammerschlag. Ein Splittern und Reißen, dann ein Schmerz, der so heftig war, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Seine Hand glitt aus der seines Vaters, und er stürzte zu Boden wie nach einem besonders brutalen Foul.
Er wusste sofort, was das bedeutete.
Für ihn war das Spiel aus.
***
Das Golfhotel war ein Traum, ein imposantes Haupthaus und mehrere kleine Nebengebäude auf einem weitläufigen Grundstück mit gepflegtem Rasen. Die Zimmer geräumig und modern eingerichtet, mit flauschigen, weißen Handtüchern im chromblitzenden Bad und einem eigenen Balkon für jedes Zimmer. Es war ruhig; bis auf das entfernte Brummen eines Traktors, der in der Nähe ein Feld bestellte, und das Gezwitscher einiger Vögel war nichts zu hören.
Sabine Kaufmann stellte ihre Reisetasche auf der dafür vorgesehenen Bank ab und zog den Reißverschluss auf. Nach der Befragung der Metzgers hatten sie sich kurz getrennt und waren in ihre Wohnungen gefahren, um zu packen. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ob es nicht besser wäre, zu Hause zu bleiben, doch jetzt
freute sie sich, hier zu sein. Es war ein bisschen wie Urlaub, auch wenn die Ermittlungen sicherlich anstrengend werden würden. Aber die freie Zeit in einem derart angenehmen Ambiente verbringen zu können, noch dazu in der Gesellschaft eines Mannes, mit dem sie sich wohl fühlte …
Sie räumte ihre Kleidungsstücke in den Schrank und stellte Zahnbürste und Schminksachen ins Bad. Dann trat sie auf den Balkon. Während sie ihren Blick über die grüne Wiese zum See wandern ließ, der hinter dem Haupthaus lag und tiefblau in der Abendsonne leuchtete, dachte sie darüber nach, ob sie bereit für eine neue Liebe war. Nur gesetzt den Fall, Ralph hätte tatsächlich Interesse an ihr. Vielleicht bildete sie sich das alles ja auch nur ein, weil sie einsam war. Obwohl sie schon fast zwei Jahre beim LKA
in Wiesbaden tätig war, hatte sie noch keine neuen Kontakte geknüpft. Die Kollegen waren nett, aber gebunden. Sie hatten Familie, einen festen Freundeskreis und kaum freie Kapazitäten.
Eine Zeit lang hatte sie Streifzüge durch Clubs und Diskotheken unternommen, doch das war nicht die richtige Umgebung, um jemanden kennenzulernen. Wenn es ihr um einen One-Night-Stand gegangen wäre, ja, doch daran hatte sie kein Interesse. Ihre letzte diesbezügliche Begegnung hatte sich als grober Fehlgriff erwiesen. Deshalb saß sie jetzt nach Feierabend wieder in ihrer Wohnung, hatte diverse Streamingdienste abonniert und war in den meisten aktuellen Fernsehserien up to date. Ihr Essen bestellte sie beim Bringdienst, und davon gab es in Wiesbaden eine ganze Menge, damit es nicht langweilig wurde. Das alles war völlig okay, denn Sabine sagte sich, dass es nur eine Phase sei. Aber diese Phase dauerte nun schon eine ganze Weile, und manchmal verspürte sie eine Leere, die ihr wie ein dunkler Schlund vorkam, der sie zu verschlingen drohte, und eine überwältigende Sehnsucht nach Nähe. Es wäre einfach schön, jemanden zu haben, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Das musste
nicht einmal eine Liebesgeschichte sein. Eine gute Freundschaft würde es auch tun.
Seit dem Tod ihrer Mutter waren alle früheren Kontakte eingeschlafen, zu den ehemaligen Frankfurter Kollegen ebenso wie zu jenen aus Bad Vilbel und Friedberg. Sie musste an Petra Wielandt denken, mit der sie einige Jahre lang eine lockere Freundschaft gepflegt hatte, nachdem bei einem gemeinsamen Einsatz ein Kollege ums Leben gekommen war. Warum hatte sie das nicht fortgeführt? Sie hatte Petra doch gemocht.
Weil sich ihr Leben irgendwann nur noch um ihre Mutter gedreht hatte, gab sie sich die Antwort selbst. Für alles andere war kein Platz mehr gewesen. Jede freie Minute hatte sie Hedwig gewidmet. Damit sie keinen neuen schizophrenen Schub bekam, damit sie nicht in Panik verfiel, weil sie wieder einmal glaubte, Sabines vor über zwanzig Jahren nach Spanien desertierten Vater auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu sehen, damit sie nicht wieder zur Flasche griff. Die Sorge um ihre Mutter hatte alles ausgefüllt. Ihr Tod hatte ein Vakuum hinterlassen.
Ihre letzte Beziehung lag mittlerweile einige Jahre zurück. Es war ein Kollege aus Frankfurt gewesen, Michael Schreck, ein IT
-Spezialist. Spannungen hatte es schon lange gegeben, oder, besser gesagt, es hatte ihrer Beziehung an Spannung gefehlt. Alles wirkte wie eingeschlafen, und keinem von beiden war es gelungen, es wieder aufzuwecken. Einer der Gründe, weshalb Sabine sich für den Wechsel nach Bad Vilbel entschieden hatte. Eine Zeit lang hatten sie die Beziehung noch fortgeführt. Dann war Michael für ein paar Monate in die USA
gegangen, um sich dort mit den neuesten Methoden der Cyberkriminalistik auseinanderzusetzen, und Sabine hatte festgestellt, dass sie ihn nicht vermisste. Nur als ihre Mutter gestorben war, hatte sie ihn sich an ihre Seite gewünscht, aber er war nicht da gewesen. Wer neben ihr gestanden und sie getröstet hatte, war Ralph.
Kaufmann seufzte leise. Sie kam immer wieder auf ihn zurück. Dabei war er überhaupt nicht ihr Typ. Er sah nicht schlecht aus, war groß und schlank, aber er machte nichts aus sich. Meist trug er ausgebeulte Cargohosen, dazu seine abgewetzte dunkelgrüne Wetterjacke. Die Haare, die langsam grau und dünn wurden, waren ständig verwuschelt, das Kinn meist schlecht rasiert. Ganz anders als Michael Schreck, bei dem immer alles korrekt war. Das war die Sorte Männer, die sie mochte: smart, gepflegt und gut gekleidet, mit geschliffenen Manieren und Einfühlungsvermögen. Ralph dagegen war ein Stoffel. Ein Raubein. Einer, der überall hineintrampelte und gar nicht merkte, wenn er jemandem auf die Zehen trat.
Zumindest vermittelte er auf den ersten Blick diesen Eindruck.
Sabine schüttelte den Kopf. Selbst wenn das alles nur Fassade war und dahinter eine sensible Seele steckte, wie sie nicht erst seit heute vermutete – Ralph war ein Einsiedler. Sie hatten nicht durchgehend Kontakt gehabt, aber soweit sie wusste, hatte es in den Jahren, seit sie einander kannten, keine Frau in seinem Leben gegeben.
Warum eigentlich nicht?
Er hatte nie über das Thema gesprochen. Sie wusste auch nichts von irgendwelchen Anstrengungen, die er unternommen hätte, um jemanden kennenzulernen. Aber was wusste sie überhaupt von ihm? Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wie er seine Abende verbrachte. Immerhin, seine Wohnung kannte sie. Gemütlich war es dort, das Mobiliar ein wenig antiquiert und angestaubt, aber eine Atmosphäre, in der sie sich wohlgefühlt hatte.
Nun, dann würde sie den Abend eben nutzen, um den privaten Ralph Angersbach kennenzulernen.
Sie ging ins Bad, um sich frisch zu machen.
Wie immer, wenn sie vor dem Spiegel stand, zitterten ihre Finger, als sie die Bluse aufknöpfte. Die Wunde war verheilt, zumindest äußerlich, aber es war eine Narbe zurückgeblieben, eine dunkle,
wulstige, hässliche Schlangenlinie mitten auf der Brust. Würde Ralph sie abstoßend finden? Oder würde er zärtlich darüberstreichen, weil er wusste, welches Leid ihr widerfahren war? Sie stellte sich vor, wie seine kräftigen, rauen Hände die weiche Haut berührten, und ein leichter Schauer durchrieselte sie.
Energisch drehte sie den Hahn auf und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Diese Hirngespinste mussten ein Ende haben. Ralph war ein Kollege, und sie hatten einen Fall zu klären. Wie sollten sie zusammenarbeiten, wenn sie mit ihm flirtete und dabei lediglich auf Vogelsberger Basalt biss, weil sie seine Signale schlicht falsch gedeutet hatte?
Die Stimmung hätte romantischer nicht sein können. Das Essen war exquisit, und das Abendlicht, das sich rot auf dem See hinter der großen Terrasse spiegelte, beinahe unwirklich.
Für Ralph Angersbach war es fast zu viel. Er fühlte sich unbehaglich. Ihm fehlte die Routine in solchen Situationen.
Wann hatte er zuletzt mit einer Frau zusammengesessen, die ihn interessierte? Empfand er für Sabine überhaupt mehr als kollegiale Gefühle? Sein Sensorium war so eingerostet, dass er es beim besten Willen nicht sagen konnte.
In den letzten Jahren hatte es keine Frau in seinem Leben gegeben. Er hatte auch keinen Versuch unternommen, jemanden zu finden. Mit seiner Halbschwester Janine, um die er sich plötzlich kümmern musste, und seinem leiblichen Vater, den er erst als erwachsener Mann kennengelernt hatte, hatte er genug zu tun gehabt. Er hatte auch keine guten Erfahrungen mit Frauen gemacht.
Damals im Heim hatten sie ihn vor allem ausgenutzt. Ihm schöne Augen gemacht, weil sie wollten, dass er etwas für sie tat. Sie vor den bösen Jungs beschützte oder ihnen Dinge spendierte, die sie sich selbst nicht leisten konnten. Er hatte früh angefangen zu arbeiten,
Zeitungen ausgetragen, Material auf Baustellen geschleppt oder im Supermarkt Waren einsortiert. Er hatte die Mädchen ins Kino eingeladen, zum Eisessen oder auf eine Spritztour mit dem Mofa, das er sich zusammengespart hatte. Hatte geglaubt, dass sie es ernst meinten, und war mehrmals bitter enttäuscht worden. Wenn sie jemanden fanden, der ihnen mehr bieten konnte als er, ließen sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. So war das eben im Heim, es ging nicht um Gefühle, sondern ums Überleben.
Später, an der Polizeischule und in seinen ersten Dienstjahren, war es anders gewesen. Diese Frauen hatten es ernst gemeint – zu ernst. Während er einfach nur das Leben und die endlich gewonnene Freiheit genießen wollte, dachten sie ans Heiraten, Hausbauen und Kinderkriegen. Er hatte sich bedrängt gefühlt, eingeengt, als wolle ihm jemand die Luft abschnüren. So viel Nähe, wie sie verlangten, konnte er nicht geben. Dafür war er als Heimkind zu sehr zum Einzelkämpfer geworden. Er war ein Einsiedler, ein Eigenbrötler, kein Familienmensch.
Würde Sabine mit dem, was er zu geben hatte, zufrieden sein? Oder wünschte sie sich auch das volle Programm? Würde sie ständig reden wollen und Probleme von allen Seiten beleuchten und ausdiskutieren? Ralph fühlte sich dazu nicht in der Lage. Also war es wohl besser, das Ganze von vornherein zu lassen. Er war einfach nicht dafür gemacht, eine normale Beziehung zu führen.
Mittlerweile hatte er sich in seinem Leben eingerichtet und sich daran gewöhnt, dass die Dinge eben so waren. Warum sollte er daran etwas ändern?
Er winkte dem Kellner, noch eine Flasche Wein zu bringen. Nippte an seinem Glas und ließ den Blick über den See schweifen. Die Sonne versank im Westen hinter den Bäumen, und die Dämmerung senkte sich über die Felder.
»Schön«, sagte Kaufmann und prostete ihm zu. »Ich bin froh, dass
Schulte uns hier einquartiert hat.«
War das irgendeine Art von Botschaft?
Angersbach seufzte leise. All diese Beziehungsdinge waren ihm zu kompliziert. Es lag ihm auch nicht, zu flirten, das hatte er nie gelernt. Sollte er jetzt noch damit anfangen?
»Hast du dich mittlerweile in Wiesbaden eingelebt?«, fragte er, um das Gespräch auf sicheres Terrain zu lenken.
Sabine krauste die Stirn. Weil sie enttäuscht war? Oder weil sie in sich hineinhorchte?
»Nicht wirklich«, erwiderte sie nach einem langen Moment der Stille. »Die Kollegen sind nett, aber private Kontakte habe ich nicht.« Sie schaute ihn offen an. »Manchmal fühlte ich mich verdammt einsam.«
Ralph spürte sein Herz klopfen. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er trank noch einen Schluck Wein.
»Du nicht?«, hakte sie nach. »Oder hast du Freunde in Gießen?«
»Nein.« Angersbach lehnte sich zurück. Die einzigen Freunde, die er hatte – wenn man sie denn überhaupt so bezeichnen konnte –, waren der Gießener Rechtsmediziner Professor Hack und Neifiger, ein Vogelsberger Metzger, bei dem er gelegentlich Lammfleisch für seinen Vater oder für Hack besorgte. Und immer war er, der Vegetarier, es, der das tote Tier in seinem Auto durch die Gegend fahren durfte. Der dem Geruch nach Blut und Gewürz ausgesetzt war. Eigentlich hieß der Metzger Göbel, aber seit er sich beim Kotelettschneiden versehentlich einen Finger abgehackt hatte, nannte ihn niemand mehr so. Er war jetzt der Neifiger – Neunfinger.
Kaufmann merkte offenbar, dass ihm das Thema unangenehm war. Sie trank von ihrem Wein und lächelte.
»Wie geht es Janine?«
»Gut.«
Sabine hob die Augenbrauen. »Und weiter?«
»Sie arbeitet immer noch ehrenamtlich im Berliner Jugendstrafvollzug, und parallel holt sie an der Abendschule ihr Abi nach. Wenn sie fertig ist, will sie mit Morten nach Australien auswandern.« Noch ein Thema, das ihm Bauchschmerzen bereitete. Sosehr es ihm damals missfallen hatte, die Halbschwester zusammen mit dem Haus in Okarben vererbt zu bekommen, so sehr vermisste er sie jetzt. Immerhin war sie neben seinem Vater seine einzige lebende Verwandte.
»Noch ist sie ja da. Hast du sie mal in Berlin besucht?«
»Nein.«
Kaufmann neigte den Kopf. Angersbach versuchte, sich zusammenzureißen. Er wusste, dass er einsilbig wurde, wenn ihm Dinge zu nahgingen, aber auch, dass er sich Sabine gegenüber unhöflich verhielt. Sie gab sich alle Mühe, ein nettes Gespräch mit ihm zu führen, während er jeden Versuch mit seiner Einsilbigkeit im Keim erstickte.
»Ich verreise nicht gern«, erklärte er. »Und Großstädte mag ich nicht besonders. Außerdem will ich nicht stören. Janine hat ihr eigenes Leben.«
»Aber du würdest sie gern öfter sehen.«
Ralph leckte sich die Lippen. Was sollte das jetzt werden? Ein Beratungsgespräch? Danach stand ihm noch weniger der Sinn als nach einem Flirt.
»Ich warte lieber, bis sie herkommt. Dann können wir auch gleich meinen Vater besuchen.«
Kaufmann durchschaute sein Ablenkungsmanöver vermutlich, ließ sich aber auf den erneuten Themenwechsel ein. »Wie geht es ihm? Hat er mittlerweile seine Hippie-WG
gegründet?«
»Nein. Zum Glück nicht.«
Sabine lachte. Sie kannte seine Bedenken hinsichtlich des hemmungslosen Marihuanakonsums, dem sich die
Altachtundsechziger seiner Meinung nach hingeben würden.
»Und du? Hast du mittlerweile das Haus gefunden, nach dem du suchst?«
»Nein.« Wieder eine knappe, abweisende Antwort, aber er konnte nicht anders. Die Erinnerung an sein Traumhaus, das ihm durch die Lappen gegangen war, schmerzte noch zu sehr.
Kaufmann schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich glaube, ich gehe auf mein Zimmer und lese noch ein bisschen, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Ja, klar.« Angersbach deutete auf die leeren Gläser und Teller. »Ich übernehme das hier.«
»Danke.« Sabine stand auf. »Treffen wir uns morgen früh um acht? Dann sind wir pünktlich zu unserer Besprechung mit den Kollegen von der Dezentralen Ermittlungsgruppe in Bad Vilbel.«
»Ja.«
»Schön. Dann gute Nacht.« Sie beugte sich zu ihm herunter und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Im nächsten Moment lief sie mit leichten Schritten über die Terrasse und verschwand im Inneren des Hotelgebäudes.
Ralph berührte vorsichtig seine Wange. In seinem Magen knäuelte sich irgendetwas.
War er nun froh, dass nichts passiert war? Oder bedauerte er, eine Chance verpasst zu haben?
Er holte seine Brieftasche hervor und legte ein paar Scheine auf den Tisch. Dann stand er auf.
»Nein«, sagte er laut. Es war alles gut so, wie es war.