5
Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende
A ls er wieder zu sich kam, lag er in einem weißen Bett in einem weißen Raum. Draußen war es noch dunkel, nur ein rötlicher Schimmer der aufziehenden Morgendämmerung fiel durch das Fenster herein und ließ Bett und Wände leuchten.
Sein rechtes Bein lagerte auf einem weichen Klotz, der in der Mitte eine Rinne hatte, sodass es nicht wegrutschen konnte. Es war dick bandagiert, von der Mitte des Oberschenkels bis zur Hälfte des Unterschenkels.
Schmerzen hatte er nicht, aber er fühlte sich benommen. Als wäre der Nebel, der über der Wiese gelegen hatte, in seinen Kopf gekrochen und hätte sich dort verdichtet, bis nur noch weiße Leere in seinem Schädel war. Nur langsam kamen seine Gedanken in Gang.
Er registrierte die durchsichtige Flasche, die an einem Ständer neben seinem Bett hing. Ein Schlauch führte von dort zu einer Kanüle, die in seiner linken Armbeuge steckte.
Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, was geschehen war.
Sie hatten die Abfahrt des Wagens verpasst. Onkel Dranko und seine Mutter waren allein durch das Minenfeld gerast. Sein Vater und er waren ihnen zu Fuß gefolgt. Bis ihn ein Schlag gegen das Knie gestoppt und zu Fall gebracht hatte.
Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen.
Sie hatten es nicht geschafft.
Die Tür des Zimmers öffnete sich. Grelles Neonlicht fiel vom Flur in den dunklen Raum. Ein hagerer Mann mit streng zurückgekämmten grauen Haaren im weißen Kittel trat ein. Er betätigte den Lichtschalter neben der Tür, und die Deckenlampe flammte auf. Rico schloss geblendet die Augen.
Als er sie vorsichtig wieder öffnete, sah er, wie der Mann den Tropf kontrollierte. Er nahm Ricos Arm und fühlte nach dem Puls am Handgelenk. Anschließend schob er Ricos Lider hoch und schaute ihm in die Pupillen. Dann nickte er.
Rico sah, dass er sich wieder abwenden wollte. Er leckte sich die Lippen. Der Arzt schien nicht mit ihm sprechen zu wollen, aber er musste doch wissen, was mit seinem Knie los war.
»Ist es schlimm?«, krächzte er.
Der Arzt schaute ihn ausdruckslos an.
Rico merkte, wie seine Hände feucht wurden. »Dauert es lange, bis ich wieder gesund werde?«
»Davon solltest du ausgehen.«
Kalt und hart, eine Stimme wie ein Messer.
Rico schlug das Herz bis zum Hals. »Aber … Ich kann doch irgendwann wieder Fußball spielen?«
Die Mundwinkel des Arztes zuckten, erst nach oben, dann nach unten. Ganz so gefühllos, wie er vorgab, war er wohl doch nicht.
»Deine Kniescheibe ist von einer Kugel getroffen und zertrümmert worden. Wir haben dich operiert, aber natürlich kann man so etwas nicht wieder zusammensetzen.«
In Ricos Kopf setzte ein Summen ein, das immer lauter wurde.
»Aber … Ich will doch Profifußballer werden.«
Der Arzt schnaubte leise. »Das kannst du vergessen. Sei froh, wenn du irgendwann wieder laufen kannst und dein Bein nicht steif bleibt.«
Damit drehte er sich um und wollte das Zimmer verlassen.
»Warten Sie! Was ist mit meinem Vater?«
Der Arzt warf einen Blick zurück. »Man hat ihn verhaftet. Was dachtest du?«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Rico starrte auf sein bandagiertes Knie.
Es war kaputt, alles war kaputt, und man konnte es nicht reparieren. Genau wie seine Träume.
***
Über den Feldern hing dichter Nebel. Die Sonne hatte es an diesem Morgen noch nicht geschafft, sich hindurchzufressen. Es war, als fahre man durch eine Wolke.
Sabine Kaufmann kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt durch die Frontscheibe. Dabei konnte sie ohnehin nichts tun. Angersbach lenkte den Wagen, ruppig und nachlässig wie immer. Er rumpelte um die Kurven, streifte ständig den Grasstreifen am Fahrbahnrand und schaltete krachend die Gänge hinauf und hinunter. Sein Gesicht war zerknittert, die Haare noch strubbeliger als sonst. Offenbar war seine Nacht unruhig gewesen.
Ob ihm der vergangene Abend auch im Magen lag? Sabine hatte versucht, die Gedanken daran abzustreifen, erst mit einer ausgedehnten Joggingrunde durch die verträumte Landschaft um das Golfhotel herum, anschließend mit einer heißen Dusche. Sie hatte gut geschlafen, die Betten im Hotel waren hervorragend, und beim üppigen Frühstücksbuffet hatte sie sich vor allem an das Obst gehalten. Je näher sie Bad Vilbel kamen, desto mehr verblasste die Erinnerung an das Gespräch auf der Terrasse, und ein wohlbekanntes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Sie verspürte es immer, wenn sie in einen neuen Fall eintauchte. Die Befragung der Metzgers war nur das Vorspiel gewesen. Sicher hatten die Männer ein Motiv, doch die schlichten Gemüter der Metzgers passten nicht zu der sprachlich gewandten Drohung, die auf der Polizeistation eingegangen war. Dass der Brief etwas mit dem Fall der Dezentralen Ermittlungsgruppe zu tun hatte, erschien ihr plausibler.
Ralph lenkte den Lada auf den Parkplatz der Polizeistation und stellte den Motor ab. Gemeinsam betraten sie das Gebäude.
Kaufmann war gespannt auf die Kollegen. Würden sie kooperativ sein oder mauern, weil ihnen die Einmischung durch das LKA nicht passte? Sie erinnerte sich noch gut, wie Angersbach und sie selbst vor ein paar Jahren reagiert hatten, als Schmittke und Rahn ungebeten aufgetaucht waren und sich in ihren Fall eingeklinkt hatten. Ralph hatte, wie ihr gestern klar geworden war, seine Aversionen bis heute nicht überwunden.
Konrad Möbs erwartete sie bereits im Foyer. Von Weitzel und Queckbörner war nichts zu sehen.
Möbs nickte ihnen nur knapp zu. Kein »Guten Morgen«, kein Handschlag zur Begrüßung. Nun, sie legte auch keinen Wert darauf. Möbs hatte sich damals keinerlei Mühe gegeben, seine Freude darüber zu verbergen, dass man das Projekt »Mordkommission« nach zwei Jahren eingestampft hatte. Wahrscheinlich hatte er in seinem Büro heimlich einen Freudentanz aufgeführt, als sie gegangen waren.
»Kommen Sie«, sagte ihr ehemaliger Chef, »die Kollegen von der DEG warten schon.«
Er geleitete sie in den Konferenzraum, in dem sie auch schon am Tag zuvor gesessen hatten. Immerhin, der Tisch war gedeckt, Getränke standen bereit, außerdem ein Teller mit Keksen und eine Schale mit Obst. Sogar Servietten waren da.
Angersbach warf seine abgewetzte Jacke nachlässig über einen Stuhl und blickte sich mürrisch um. »Wo sind sie denn nun, die Kollegen?«
Möbs schien ebenfalls irritiert und wandte sich zur Tür, durch die im selben Moment zwei Frauen traten. Kaufmann entfuhr ein überraschtes »Ach!«.
Nicht nur, weil es sich bei den »Kollegen« offensichtlich um Kolleginnen handelte, was Möbs bei seiner Wortwahl natürlich nicht berücksichtigt hatte, sondern weil sie eine der beiden kannte. Sabines Mundwinkel hoben sich unwillkürlich.
»Petra!« Sie trat auf die Freundin zu, die sie in den letzten Jahren aus den Augen verloren hatte. »Ich hatte keine Ahnung, dass du jetzt hier in Bad Vilbel arbeitest.« Zuletzt war Petra Wielandt bei der Dienststelle in Friedberg beschäftigt gewesen.
»Du hast ja auch nie angerufen«, entgegnete Petra, lächelte aber dabei. Im nächsten Augenblick hatte sie Sabine in die Arme geschlossen und drückte sie. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Ja.« Sabine löste sich von Petra, nahm ihre Hände und betrachtete die alte Freundin. »Gut siehst du aus.«
Petra Wielandt war ein paar Jahre älter als sie selbst, Anfang vierzig, doch das sah man ihr nicht an. In den kurzen, dunklen Haaren war keine graue Strähne zu entdecken, das Gesicht war bis auf ein paar Lachfältchen in den Mund- und Augenwinkeln glatt, und die tiefblauen Augen hatten einen jugendlichen Glanz.
»Danke. Es geht mir auch gut. Die Arbeit hier in der DEG ist sehr reizvoll.«
Sabine stutzte. Petra klang ehrlich begeistert. Trotzdem schien etwas Distanziertes in ihrer Aussage mitzuschwingen.
Den Grund dafür ahnte sie, als sie sich Wielandts Kollegin zuwandte. Sie war im selben Alter wie Petra, hatte ebenfalls dunkle Haare und war ebenso wie diese mittelgroß und schlank, aber damit endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Petra Wielandt trug Jeans, Turnschuhe und einen locker fallenden Pullover. Sie war eher der burschikose Typ. Ihre Kollegin dagegen präsentierte sich in einem grauen, eng geschnittenen Hosenanzug, schwarz glänzenden Pumps und einer hellblauen Bluse, die bis zum obersten Knopf geschlossen war. Sie wirkte korrekt und ein wenig verkniffen. Selbst ihre schwarze Kurzhaarfrisur war streng. Jemand, mit dem man nicht leicht warm wurde und wahrscheinlich auch nicht so einfach zusammenarbeiten konnte, vermutete Kaufmann.
Die Kollegin hielt ihr eine schmale, blasse Hand hin.
»Guten Morgen. Ich bin Cordula Scherer.«
Ein wenig von oben herab, aber Kaufmann versuchte, darüber hinwegzusehen. Es kam immer wieder vor, dass man mit Kollegen oder Kolleginnen zusammenarbeiten musste, zu denen man keinen persönlichen Draht fand. Trotzdem konnte man in der Sache an sich produktiv sein. Dienst ist Dienst … wie es so schön hieß. Man musste sich eben zusammenraufen.
Cordula wandte sich Ralph zu, und auf ihrem abweisenden Gesicht vollzog sich eine wundersame Wandlung. Die strenge Miene verschwand und wurde von einem mädchenhaften Lächeln abgelöst. Ihre Stimme klang plötzlich nicht mehr hart, sondern weich und einschmeichelnd.
»Hallo.«
Petra warf Sabine einen vielsagenden Blick zu. Angersbach schüttelte Scherer die Hand. Auch er lächelte, etwas dümmlich, fand Kaufmann. Wie ein Schaf, dachte sie ärgerlich.
Konrad Möbs räusperte sich vernehmlich. »Wollen wir dann vielleicht anfangen?«
Alle vier drehten sich zu ihm um. Nicht nur Sabine hatte offensichtlich seine Anwesenheit völlig vergessen.
»Setzen wir uns doch.« Wielandt machte eine einladende Geste.
Sie nahmen am Konferenztisch Platz, Möbs an der Stirnseite, Ralph neben Cordula, Sabine und Petra den beiden gegenüber.
Cordula Scherer klappte den Laptop auf, der vor ihr auf dem Tisch stand, und schaltete mit einer Fernbedienung den Beamer an der Decke ein. »Herr Möbs hat uns gebeten, euch einen Überblick über unsere aktuellen Ermittlungen zu geben«, sagte sie steif. Sie war offensichtlich nicht begeistert darüber.
Auf der Leinwand an der Schmalseite des Raums erschien ein Bild, auf dem die Fotos von drei Männern und einer Frau zu sehen waren.
»Anlass waren die Beschwerden mehrerer Schausteller, die sich um einen Platz auf dem Festgelände beworben haben, aber abgelehnt worden sind. Sie haben den Verdacht geäußert, dass bei der Vergabe der Lizenzen nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Staatsanwaltschaft hat sich entschieden, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.«
Sie deutete auf die Fotos. »Der Vorwurf lautet auf Bestechung und Korruption. Diese vier Personen sind unsere derzeitigen Verdächtigen. Es handelt sich um Frau Kirsten Gerlach, die im Stadtmarketing sitzt, die Herren Lohmann und Fuller von der Frankfurter Eventagentur Fuller & Lohmann sowie den Sicherheitsbeauftragten der Frankfurter Polizei, Herrn Eckard Roth.«
Kaufmann erinnerte sich, dass die beiden Kolleginnen am Vortag zu einem Gespräch mit Roth in Frankfurt gewesen waren. Offenbar nicht, um das Sicherheitskonzept für den Vilbeler Markt zu diskutieren, sondern um ihn zu überprüfen.
»Bisher haben wir keine Hinweise darauf gefunden, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte«, fuhr Scherer fort. »Aber wenn irgendjemand vom Stadtmarketing oder ringsherum an unsauberen Geschäften beteiligt ist, dann mit ziemlicher Sicherheit einer oder mehrere dieser vier hier. Sie sitzen an den Schaltstellen und können Einfluss nehmen. Wir beschäftigen uns schon eine Weile mit der Sache, allerdings ist die Untersuchung ziemlich aufwendig. Wir haben etliche Kartons mit Korrespondenz, E-Mail-Verkehr und Bankunterlagen zusammengetragen. Es wird einige Zeit dauern, bis wir wissen, ob sich darin irgendwelche Unstimmigkeiten finden.« Sie lächelte Angersbach an. »Aber jetzt haben wir ja Unterstützung.«
Ralph, dem jedes ausgiebige Aktenstudium zuwider war, brummte etwas Unverständliches.
Cordula Scherer zwinkert ihm zu. »Ich schlage vor, wir teilen die Sachen auf.«
Das war Kaufmann recht. Lieber saß sie mit einem Karton voller Papiere allein in ihrem Hotelzimmer als mit dieser Schnepfe am Tisch. Oder urteilte sie vorschnell? Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte sie. War sie womöglich eifersüchtig?
Unsinn, befand sie. Angersbach konnte flirten, mit wem er wollte. Er war ohnehin nicht der Richtige für sie.
»Vielleicht erklärst du uns kurz, warum diese vier infrage kommen?«, bat sie Cordula und legte Notizblock und Stift vor sich auf den Tisch. »Welche Rolle spielen sie bei der Lizenzvergabe?«
Scherer deutete auf die Projektion an der Wand. »Kirsten Gerlach ist diejenige im Stadtmarketing, die in letzter Instanz die Entscheidungen trifft. Sie beraten alle gemeinsam darüber, aber am Ende setzt sie ihren Stempel auf die Papiere.«
»Was wissen wir über die Frau?«
Petra Wielandt zog ein dickes, in Leder gebundenes Notizbuch aus der Handtasche und klappte es auf. »Zweiundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Seit vier Jahren im Stadtrat von Bad Vilbel. Ihr Mann arbeitet beim Straßenverkehrsamt in Frankfurt. Beide sind strafrechtlich nie in Erscheinung getreten. Auffällig ist allerdings, dass sie relativ luxuriös leben. Ein großes Einfamilienhaus in bester Lage hier in Bad Vilbel, zwei teure Autos. Die Kinder gehen kostspieligen Hobbys nach, Tennis, Golf, Reiten. Die Tochter hat sogar ein eigenes Pferd auf einem Hof in der Nähe untergestellt. Das Konto der Familie ist gut gefüllt. Wir wissen noch nicht, wo das Geld herkommt. Allein mit den zwei Gehältern scheint uns das alles nicht finanzierbar.«
»Okay.«
Sabine machte sich Notizen. Die Frau würde man noch genauer unter die Lupe nehmen müssen, auch wenn ihre Intuition ihr sagte, dass der Schreiber des Drohbriefs ein Mann war.
»Wir hatten gestern ein Treffen mit Kirsten Gerlach, sind aber vage geblieben«, erläuterte Cordula Scherer. »Bei Politikern muss man ja vorsichtig sein, die setzen schnell irgendwelche Hebel in Bewegung, um die Ermittlungen zu behindern. Deswegen haben wir auch nichts Neues erfahren.«
Sie deutete wieder auf das Bild an der Wand. »Die beiden in der Mitte sind Markus Fuller und Johannes Lohmann«, setzte sie ihre Ausführungen fort. »Fuller ist fünfundvierzig, Lohmann siebenundvierzig. Beide ledig und strafrechtlich ebenfalls nie in Erscheinung getreten. Sie pflegen keinen ausschweifenden Lebenswandel. Der Verdacht gegen die beiden begründet sich bisher allein dadurch, dass sie an einer zentralen Position sitzen. Die Eventagentur entwirft weite Teile des Konzepts für den Bad Vilbeler Markt, und sie sprechen auch Empfehlungen aus, welche Schausteller eingeladen werden sollen. Die Stadt versucht dann, ihre Vorschläge so weitgehend wie möglich umzusetzen. Wenn also jemand Einfluss nehmen möchte, wären die beiden eine gute Anlaufstelle.«
Kaufmann schrieb sich auch hier die Eckdaten auf. »Habt ihr mit ihnen gesprochen?«
»Noch nicht. Sie waren bis gestern in der Schweiz. Irgendeine Großveranstaltung in Zürich, die sie betreut haben.«
»Dann übernehmen wir das.«
Scherer nickte säuerlich. »Darf man fragen, warum wir plötzlich nicht mehr gut genug dafür sind?«
Kaufmann sah, dass Angersbach zu einer Antwort ansetzte, und hielt ihn mit einem scharfen Blick davon ab. Ob sie es nun richtig fanden oder nicht – Schulte hatte sie gebeten, Stillschweigen über den Drohbrief zu bewahren.
»Darum geht es nicht«, erwiderte sie kühl. Was Scherer konnte, konnte sie schon lange. »Wir wollen lediglich prüfen, ob es sich um Vorgänge handelt, die in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts fallen. Mit der Qualität eurer Arbeit hat das nichts zu tun.«
Cordula gab ein verächtliches Schnaufen von sich.
Petra lächelte Sabine entschuldigend zu. »Wir können ohnehin nicht alles alleine machen«, sagte sie zu Cordula.
»Ja, schon gut.« Scherer wandte den Kopf demonstrativ ab und zwinkerte Ralph zu. »Ich wollte es nur wissen.«
»Gut. Dann haben wir das ja geklärt.« Kaufmann tippte ungeduldig mit dem Stift auf ihren Notizblock. »Wie ist das mit dem Kollegen?«
Wielandt seufzte leise. »Das ist natürlich besonders unangenehm. Aber wir müssen ja unvoreingenommen agieren. Für Roth gilt dasselbe wie für Fuller und Lohmann. Es existieren keine konkreten Verdachtsmomente, aber Roth hat bei der Vergabe eine Schlüsselstellung. Er entscheidet, ob ein Unternehmen die Anforderungen erfüllt, die an die Sicherheit des Marktes gestellt werden. Was er sagt, ist Gesetz. Niemand in den Gremien zweifelt sein Urteil an. Für jemanden, der sich durch Bestechung Vorteile verschaffen will, wäre er demnach eine gute Option.«
Angersbach nahm sich eine Flasche Wasser und füllte sein Glas. »Ihr habt gestern mit ihm gesprochen?«
Wielandt und Scherer bestätigten das.
»Was war euer Eindruck?«
Die beiden DEG -Kolleginnen verständigten sich mit einem kurzen Blick. Dann ergriff Cordula Scherer das Wort. »Roth ist ein Polizist der alten Schule. Geradlinig, kompromisslos und absolut korrekt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich bestechen lässt.«
»Natürlich nicht«, dröhnte Möbs, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Ich kenne Eckard. Der nimmt keine Schmiergelder. Wenn ihm jemand ein paar Scheine hinhält, hat der schneller stählerne Armreifen um die Handgelenke, als er blinzeln kann.«
Die anderen ignorierten seinen unqualifizierten Einwurf.
»Wie sind Roths Lebensumstände?«, erkundigte sich Ralph.
»Bescheiden.« Petra Wielandt lächelte. »Er hat eine kleine Zweizimmerwohnung im Frankfurter Westend und ein altes Motorrad, mit dem er zur Arbeit fährt. Seit zehn Jahren verwitwet, seine Frau hatte Magenkrebs. In zwei Jahren geht er in Pension. Hat gute Kontakte zu den Kollegen, man trifft sich oft in der Kneipe zum Kartenspielen. Von irgendwelchen kostspieligen Hobbys wissen wir nichts.«
Sabine dachte nach. War an dem ganzen Korruptionsverdacht also nichts dran? Die Anzeige nur eine Reaktion verbitterter Schausteller, die man aus guten Gründen abgewiesen hatte? So oder so, sie mussten das prüfen. Solange auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass einer der Verdächtigen etwas mit dem Drohbrief zu tun hatte, mussten sie der Sache nachgehen.
»Wir fahren nach Frankfurt«, entschied sie und steckte Notizblock und Stift in die Handtasche. »Zuerst zu Fuller & Lohmann, dann zu Roth.« Sie schaute zu Petra. »Kündigt ihr unseren Besuch bitte an?«
»Klar.« Wielandt hob zur Bestätigung ihr Smartphone.
»Anschließend statten wir Kirsten Gerlach einen Besuch ab. Vielleicht könnt ihr für uns einen Termin in der Stadtverwaltung vereinbaren?«
»Kein Problem.« Petra tippte auf ihrem Telefon. »Ich gebe dir Bescheid.«
Scherer zog die Augenbrauen zusammen. »Soll das jetzt unsere Aufgabe sein? Für euch das Sekretariat zu erledigen?«
Ralph stand auf und nahm seine Jacke vom Stuhl. »Ist das zu viel verlangt?«, grummelte er. »Zwei kurze Anrufe?«
»Nein.« Sofort knipste Cordula ihr Lächeln wieder an. »Wir haben ja die Kontaktdaten. Du hast recht. Es ist einfacher, wenn wir das übernehmen.« Sie griff in ihre Handtasche und beförderte eine Visitenkarte hervor. »Wenn wir in Zukunft zusammenarbeiten, sollten wir uns besser kennenlernen, meinst du nicht? Vielleicht hast du Lust, heute Abend etwas mit mir essen zu gehen? Dann könnten wir den Fall auch noch mal in Ruhe durchdenken. Ruf mich einfach an.«
Angersbach nahm die Karte und steckte sie ein. Sein Blick wanderte kurz zu Sabine, dann wieder zu Cordula Scherer. In seinem Kopf schien es zu rattern. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, und er straffte sich. »Wir können das auch gleich festmachen«, schlug er vor. »Heute Abend, zwanzig Uhr, Golfhotel Dortelweil?«
Scherer fuhr sich mit einer mädchenhaften Geste durch die Haare. »Ein entscheidungsfreudiger Mann«, säuselte sie. »Das gefällt mir.« Sie schaute zu ihm auf. »Ich werde da sein.«
»Fein.« Ralph grinste und winkte ihr zum Abschied zu. »Dann bis später.«
Sabine wandte sich ab und kniff die Lippen zusammen. Ihr gefielen weder Cordula Scherer noch die Art, wie sie sich an Angersbach heranmachte, doch das war seine Sache. Sie wartete, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte, und ging dann gemeinsam mit ihm zur Tür. Auf dem Weg kamen sie an Konrad Möbs vorbei.
»Sie sollten sich ein wenig zusammenreißen«, zischte er Sabine zu. »Wir brauchen hier niemanden, der Zwietracht sät. Sie mögen jetzt beim LKA und den Kollegen von der DEG übergeordnet sein, aber Sie sind ihnen gegenüber nicht weisungsbefugt.« Er sah missfällig auf sie herab. »Ich habe Horst gleich gesagt, dass wir nicht ausgerechnet Sie dazuholen sollten. Er hätte besser auf mich gehört.«
Kaufmann spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Sie setzte zu einer giftigen Erwiderung an, doch Angersbach zog sie mit sich, ehe sie ihrem Ärger Luft machen konnte.
»Lass es«, murmelte er. »Du kennst doch Möbs. Er will dich bloß auf die Palme bringen.«
Kaufmann atmete tief durch. »Das ist ihm gelungen.« Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, den Fall jemand anderem zu überlassen. Bad Vilbel wühlte sie zu sehr auf. Dazu noch Möbs und diese Zimtzicke Cordula Scherer …
Sie lief hinter Angersbach die Treppe hinunter ins Foyer.
Dort standen Mirco Weitzel und Levin Queckbörner in ein Gespräch vertieft. Als sie Ralph und Sabine erblickten, unterbrachen sie es, und Mirco kam auf sie zu. Er lächelte Sabine strahlend an.
»Wie ist es gelaufen?«
Sie fasste kurz zusammen, was sie erfahren hatten.
»Prima.« Weitzel blinzelte ihr zu. »Dann seid ihr heute Abend wieder hier? Wir könnten zusammen etwas essen gehen. Um der alten Zeiten willen. Ich lade dich ein.«
Kaufmann registrierte, wie Angersbach neben ihr die Hände in die Jackentaschen stopfte. Was meinte Weitzel wohl damit, wenn er von alten Zeiten sprach? Damals, als sie in Bad Vilbel zusammengearbeitet hatten, hatte sie gedacht, Weitzel wäre an ihr interessiert, was sich zu ihrer Erleichterung als Irrtum herausgestellt hatte. Doch mittlerweile hatte sich vieles geändert – und Mirco war immer noch solo. Die Frauen, die auf ihn flogen, wurden von seinem attraktiven Äußeren angezogen. Er tat auch einiges dafür. Die Kollegen frotzelten, er fixiere seine akkurat gestylten Haare wohl mit Sekundenkleber, weil sie auch beim Tragen der Dienstmütze keinen Schaden nahmen. Man munkelte, er trage sogar stets einen kleinen Spiegel in der Brusttasche, um jederzeit nachbessern zu können. Zugegeben, er war ein Schönling, aber dahinter steckte eine Persönlichkeit. Sabine vermutete, dass er sich eine Partnerin wünschte, die auch hinter die Kulissen schaute.
Womöglich dachte er also daran, mehr aus ihrer lockeren Freundschaft zu machen. In dem Fall wäre es besser, die Einladung abzulehnen.
Sie wollte es schon tun, doch dann juckte es sie in den Fingern, Ralph seinen albernen Flirt mit Cordula Scherer mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Ja. Warum nicht?« Sie schenkte Weitzel ein charmantes Lächeln. »Die alten Zeiten aber sollten wir dabei lieber ruhen lassen. Zu viel Ballast. Ich freue mich auf die neuen.«
Angersbach knurrte und marschierte zur Tür. Dort drehte er sich mit grimmiger Miene um. »Kommst du?«
Sabine zwinkerte Mirco verschwörerisch zu. »Ich bin schon unterwegs«, flötete sie.
Auf der Fahrt nach Frankfurt schwiegen sie. Kaufmann schaute aus dem Seitenfenster und hing ihren Gedanken nach. Angersbach konzentrierte sich auf den Verkehr. Er mochte Frankfurt nicht; die Straßen waren zu voll, die Menschen zu hektisch. Ständig musste man befürchten, dass ein Geschäftsmann in Eile nicht darauf wartete, dass eine Ampel auf Grün sprang, sondern einfach auf die Straße stürzte.
Dazu kam, dass er sich überfordert fühlte.
Was war auf einmal los? Erst flirtete Sabine mit ihm, dann Cordula Scherer. Dabei wollte er doch nur seine Ruhe haben. Diese Spielchen waren nichts für ihn. Und gerade als er angefangen hatte, sich ernsthaft Gedanken zu machen, ob er sich Sabine annähern sollte, machte sie Mirco Weitzel schöne Augen. Ausgerechnet.
War das ihre Reaktion darauf gewesen, dass er Cordulas Ansinnen zugestimmt hatte? Dabei hatte er doch nur vermeiden wollen, dass sich die Situation vom Vorabend wiederholte. Aber war es jetzt besser?
Wenn Weitzel sein Konkurrent war, konnte er ebenso gut gleich die Waffen strecken. Mirco war jünger, smarter, attraktiver und souveräner im Umgang mit Frauen als er. Wenn er wollte, konnte er jede haben.
Es war besser, wenn er die Gefühle, die plötzlich die Finger nach ihm ausstreckten, auf der Stelle wieder dorthin verbannte, wo sie hergekommen waren: in den hintersten Winkel seines Unterbewusstseins. Solche Dinge, wie Klaus Lage sie in den Achtzigern besungen hatte, funktionierten im realen Leben ohnehin nicht. Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert. Daran sollte man nicht rütteln.
Umso erleichterter war Ralph, als sie ihr Ziel erreichten und er unmittelbar vor dem Gebäude, in dem sich die Agentur Fuller & Lohmann befand, einen Parkplatz erspähte. Er rangierte den Lada in die schmale Lücke und stellte den Motor ab.
»So«, sagte er. »Da wären wir.«
Fuller & Lohmann residierten in einem der schlanken, komplett verglasten Türme, die typisch für das Frankfurter Stadtbild waren. Sabine Kaufmann blickte an der Fassade nach oben. Offenbar liefen die Geschäfte gut, andernfalls hätte man sich ein Büro in dieser Lage nicht leisten können.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den zehnten Stock. Die Aufschrift an der Milchglastür zeigte ihnen, dass sie hier richtig waren.
Fuller & Lohmann, Eventmanagement stand dort in dezenten dunkelblauen Buchstaben.
Ralph Angersbach drückte auf den Klingelknopf neben der Tür.
Es dauerte ein paar Sekunden, dann erschien ein Schatten hinter dem Glas. Gleich darauf wurde geöffnet. Ein großer, schlanker Mann Anfang vierzig mit halblangen braunen Haaren und gepflegtem Vollbart sah sie an.
»Ja, bitte?«
Er hatte hübsche braune Augen, die durch den weichen hellbraunen Kaschmirpullover noch betont wurden. Seine linke Hand steckte in der Tasche seiner grauen Businesshose, die rechte hatte er an den Türrahmen gelegt, als sei er nicht sicher, ob er sie einlassen sollte.
Kaufmann zog ihren Dienstausweis aus der Tasche und stellte sich und Angersbach vor. Der Mann trat von der Tür zurück.
»Bitte. Treten Sie ein.« Er wandte den Kopf und rief in Richtung der rückwärtigen Räume: »Johannes? Kommst du mal? Wir haben Besuch von der Polizei.«
Er führte sie in einen Konferenzraum, der mit einem langen Glastisch und eleganten grauen Schwingsesseln aufwartete. An den Wänden hingen großformatige Fotodrucke von Veranstaltungen. Konzerte, Freilichtaufführungen, Festivals. Professionelle Bilder, die viel Atmosphäre transportierten. Bei Fuller & Lohmann verstand man offenbar sein Handwerk.
Der Mann lud sie mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen, und stellte mit routinierten Bewegungen Gläser und Getränke auf den Tisch.
»Kaffee?«, fragte er und deutete auf die chromglänzende Espressomaschine auf dem Schrank neben der Tür.
»Gerne. Stark und schwarz«, sagte Angersbach.
Sabine nickte. »Für mich dasselbe.«
Während sich der Mann am Kaffeeautomaten zu schaffen machte, schaute sie durch die bodentiefen Fenster nach draußen. Der Morgennebel hatte sich verzogen und war einem klaren, fast gläsern blauen Himmel gewichen, der Blick über die Stadt bis zu den Ausläufern des Taunus war phänomenal. Die Miete für diese Räumlichkeiten war es sicherlich auch.
Die Tür öffnete sich, und ein zweiter Mann trat ein. Ebenfalls groß, mit einer etwas sportlicheren Ausstrahlung als der erste. Kurze, dunkelblonde, widerspenstige Haare und ein fast bartloses, jungenhaftes Gesicht. Er trug ein weißes T-Shirt unter einem anthrazitfarbenen Sakko, dazu blaue Markenjeans und braune Sneakers.
»Polizei?«
Ralph und Sabine standen auf. »Kriminaloberkommissarin Sabine Kaufmann, Landeskriminalamt Wiesbaden. Kriminaloberkommissar Ralph Angersbach, Regionalkriminalinspektion Gießen.«
»Aha?« Der Jeansträger schüttelte ihnen ratlos die Hände. »Johannes Lohmann.«
Sein Kompagnon stellte edle Espressotassen auf den Tisch, aus denen ein verführerischer Duft aufstieg.
»Ach so.« Er grinste. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. »Markus Fuller. Setzen Sie sich doch wieder. Was können wir für Sie tun?«
Sabine warf Ralph einen warnenden Blick zu. Bestechung und Korruption waren ein heikles Feld. Wenn man zu ungestüm vorpreschte, schlossen sich schnell alle Türen, und man stand vor unüberwindlichen Mauern. Wenn man etwas erreichen wollte, musste man subtil vorgehen.
Zum Glück verstand er ihre stumme Botschaft, nahm seine Kaffeetasse und lehnte sich im Sessel zurück.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Kaufmann. »Und wir hoffen, dass Sie uns helfen können. Haben die Kollegen von der DEG uns nicht angekündigt?«
Johannes Lohmann sah sie ratlos an. »Sie meinen den Düsseldorfer Eishockeyverein?«
Ralph gab ein leises Prusten von sich. Sabine funkelte ihn ärgerlich an.
»Nein«, sagte sie zu Lohmann und Fuller. »Die Dezentrale Ermittlungsgruppe der Polizeistation in Bad Vilbel.«
Fuller runzelte die Stirn. »Das wird ja immer verworrener. Erst Wiesbaden und Gießen – und jetzt auch noch Bad Vilbel. Worum dreht es sich denn?«
»Um den Vilbeler Markt.«
Johannes Lohmann nahm seine Kaffeetasse, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Wenn es um das Sicherheitskonzept geht: Da arbeiten wir mit der Frankfurter Polizei zusammen. Der Ansprechpartner ist Kommissar Eckard Roth, ein Beamter mit einer Menge an Erfahrung, aber das brauche ich Ihnen ja vermutlich nicht zu sagen.«
»Ja. Das ist uns bekannt. Aber wir ermitteln in einer anderen Angelegenheit, und die ist leider etwas heikel. Die Kollegen von der Dezentralen Ermittlungsgruppe wollten sich deshalb mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Wir sind gerade erst aus der Mittagspause zurückgekommen«, erklärte Lohmann. »Die ist uns heilig, da gehen wir nicht ans Telefon und lassen auch unsere Smartphones ausgeschaltet.«
»Aha.« Kaufmann war ein wenig irritiert, doch das war nicht das Thema. Sie beugte sich zu den beiden Männern vor und nahm den eigentlichen Faden wieder auf. »Es gibt vonseiten der Schausteller Anschuldigungen, dass bei der Vergabe der Lizenzen für den diesjährigen Markt nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei.«
»So?« Markus Fuller kniff die Augen zusammen. »Und was genau ist damit gemeint? Wollen Sie unterstellen, wir hätten dabei unsere Finger im Spiel?«
Lohmann legte den Kopf schief. Seine blaugrauen Augen blitzten. Belustigt? Oder alarmiert?
Sabine hob die Hände. »Es geht nicht um Sie. Wie gesagt: Wir brauchen Hilfe. Der Verdacht richtet sich gegen ein Mitglied des Stadtmarketings. Wir kommen auf Sie zu, weil Sie beide bei den Planungen eine zentrale Rolle spielen. Sie sind oft vor Ort, aber mit den anderen Beteiligten nicht persönlich verbandelt. Wir hatten gehofft, dass Sie uns etwas sagen können.«
Lohmann runzelte die Stirn. »Zum Beispiel was? Dass wir gesehen haben, wie einer von diesen Jahrmarktsleuten Kirsten Gerlach heimlich einen dicken Umschlag übergeben hat?«
Kaufmann zuckte innerlich zusammen. Hatte sie den Namen erwähnt? Nein. Sie war ganz allgemein geblieben. Woher wusste Lohmann dann, dass es um Gerlach ging?
Der Eventmanager sah ihr offenbar an, was hinter ihrer Stirn vorging.
»Das war nicht schwer zu erraten«, erklärte er. »Kirsten ist diejenige, die letztlich die Entscheidungen trifft. Alle anderen – die Mitarbeiter der Stadt, die Sicherheitskräfte, wir – beraten sie nur.«
Angersbach hielt es nicht länger in seiner Zuschauerposition. Er rutschte auf seinem Sessel nach vorn und stellte seine Tasse so schwungvoll auf den Unterteller, dass Sabine eine Sekunde lang befürchtete, das Geschirr könnte Schaden nehmen.
»Aber sie verlässt sich auf das Urteil ihrer Berater, oder nicht? Jemand, der bestimmte Interessen hat, könnte sie entsprechend manipulieren.«
Kaufmann seufzte innerlich. Da war er wieder, der Bulldozer. Erwartungsgemäß fuhr Lohmann die Abwehr hoch.
»Sie denken also doch, dass wir etwas damit zu tun haben.« Er vollführte eine weit ausholende Handbewegung. »Glauben Sie, wir hätten das nötig? Schauen Sie sich doch hier um. Ein solches Büro in bester Lage.« Er wies auf die Wände mit den Fotodrucken. »Events in ganz Europa. Wir gehören nicht zu diesen kleinen Agenturen, die sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Bei uns stehen keine Gläubiger Schlange. Wir sind gefragt, weil wir gut sind. Meinen Sie, irgendein Jahrmarktschausteller könnte uns etwas anbieten, das uns reizt? Die Branche hat seit Jahren massive Umsatzeinbußen, die Leute gehen nicht mehr so viel nach draußen. Die sitzen zu Hause, starren auf ihre Flachbildfernseher oder Smartphones. Waren Sie in den letzten Jahren mal auf einem Volksfest? Die Betreiber fahren die halbe Zeit mit massenweise leeren Gondeln. Das war früher anders.«
Er hatte sich in Fahrt geredet, seine Wangen glühten. »Jeder von denen steht mit einem Fuß am Abgrund. Die müssen kämpfen, sonst gehen sie unter.«
Markus Fullers Miene war mit jedem Satz, den Lohmann äußerte, verkniffener geworden. »Deine Argumentation ist nicht gerade geeignet, den Verdacht zu entkräften, Johannes«, versetzte er. »So wie du es darstellst, hätten die verzweifelten Budenbesitzer allen Grund, ihr letztes Hemd zu opfern, um einen Platz auf dem Vilbeler Markt zu ergattern. Immerhin ist das eines jener Feste, bei denen hohe Besucherzahlen zu erwarten sind, anders als bei den vielen jährlichen Jahrmärkten, zu denen kaum noch jemand hingeht.«
Lohmann nickte. »Das ist aber nicht der Punkt. Was ich meinte, war, dass wir kein Interesse an Almosen haben. Wer uns kaufen will, müsste mehr bieten als ein Schausteller, der sich in wirtschaftlicher Schieflage befindet.«
Fuller schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das klingt, als wäre es nur eine Frage des Preises. Aber so ist es natürlich nicht. Es geht ums Prinzip. Wir sind als Eventmanager gefragt, weil wir gute Arbeit machen und einen untadeligen Ruf genießen. Unser Anspruch ist es, aus jedem Event das Beste herauszuholen. Wir machen keine Abstriche, weil uns irgendjemand Geld anbietet, sei es nun viel oder wenig.«
Lohmann lächelte schief. »Du hast natürlich recht. Wir würden es ohnehin nicht annehmen. Ich wollte nur sagen …« Er brach ab, weil er merkte, dass er sich nur immer weiter verheddern würde. »Ist auch egal.«
Sabine hob die Augenbrauen und tauschte sich wortlos mit Angersbach aus. War Johannes Lohmann einfach nur naiv? Oder brachte ihn ihr Besuch aus dem Konzept, weil die Agentur tatsächlich in einen Bestechungsskandal verwickelt war? Es mussten ja nicht beide Partner daran beteiligt sein. Möglicherweise hatte Lohmann Geld genommen, und Fuller wusste nichts davon. Oder umgekehrt. Aber ehe sie die beiden unter Druck setzen und ein Geständnis erzwingen konnten, brauchten sie Hintergrundinformationen. Über die Vermögensverhältnisse der beiden Teilhaber und deren Lebensstil. Daten, die ihnen in Form der Unterlagen, die ihnen Wielandt und Scherer mit den großen Kartons übergeben hatten, bereits zur Verfügung standen. Sie mussten sie nur durchgehen.
»Um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Sie können sich also nicht vorstellen, dass Frau Gerlach empfänglich für Bestechungen wäre?«
»Auf keinen Fall«, antwortete Lohmann wie aus der Pistole geschossen. Markus Fuller gab sich nachdenklicher. »Nun ja. Was weiß man schon? Man kann den Leuten nicht in den Kopf schauen.«
Lohmann sah ihn böse an. »Kirsten ist absolut korrekt. Sie würde so etwas niemals tun.«
Fuller hob beschwichtigend die Hände. »Nein. Wahrscheinlich nicht. Auf der anderen Seite: Man kennt sich nicht wirklich.« Er winkte ab, als Lohmann dazwischengehen wollte. »Du hast schon recht. Vorstellen kann ich es mir auch nicht.«
»Eben.« Lohmann nickte zufrieden.
Kaufmann sah zwischen den beiden hin und her. »Und sonst ist Ihnen auch nichts Verdächtiges aufgefallen?«, blieb sie allgemein.
Fuller und Lohmann schüttelten die Köpfe.
»Gut.« Angersbach stand auf. »Dann wollen wir Sie nicht länger stören.« Er sah Sabine auffordernd an.
Wir verschwenden hier nur unsere Zeit, sagte sein Blick.
So wie es aussah, hatte er recht.
Ralph atmete auf, als sie das Gebäude verließen. Das hier war nicht seine Welt. Politik, dubiose Geschäfte, Wirtschaftskriminalität – das waren Bereiche, in denen Ermittlungen für gewöhnlich langwierig und zäh waren. Zu viel Papierkram, zu wenig handfeste Beweise. Er konnte auch mit solchen Yuppie-Typen nicht gut umgehen. Kaufmann dagegen schien Feuer gefangen zu haben.
»Was meinst du?«, fragte sie auf der Fahrt zum Frankfurter Polizeipräsidium. »War das nur Theater, was sie uns vorgespielt haben? Oder kocht da jeder sein eigenes Süppchen?«
»Du meinst, der eine macht hinter dem Rücken des anderen krumme Geschäfte?« Dieser Gedanke war ihm nicht gekommen. Er konnte sich auch kaum vorstellen, dass es möglich war. Wenn man zu zweit war, hatte doch jeder Einblick in alles, was geschah. Andererseits konnte das Schmiergeld auf einem privaten Konto eingezahlt oder in bar übergeben worden sein.
Aber Angersbach fand das Argument, das Johannes Lohmann ins Feld geführt hatte, überzeugend. »Die haben es nicht nötig, mit gezinkten Karten zu spielen. Ganz offensichtlich ist die Agentur erfolgreich. Die brauchen das Geld nicht. Und das Risiko, den ganzen Laden an die Wand zu fahren, ist viel zu groß.«
Kaufmann lachte. »Das siehst du so, weil du ein grundanständiger Charakter bist.«
Ralph schaute zu ihr hinüber. Er wusste nicht, was daran schlecht sein sollte. Aber ihr Tonfall hatte nicht so geklungen, als meinte sie das als Kompliment. Fand sie, dass er zu sehr Dorfbulle war und zu wenig Ahnung hatte von der großen, weiten Welt, die ihr zu Füßen lag, seit sie beim LKA arbeitete? Nun ja, ganz unrecht hatte sie nicht. Angersbach war trotzdem gekränkt.
»Du nicht?«, knurrte er und trat aufs Gas, um den Lada bei Dunkelgelb in eine enge Kurve zu steuern. Er rumpelte über den Bordstein, und Sabine streckte reflexartig die Hand nach dem Griff über der Beifahrertür aus. Sie rollte mit den Augen und wartete, bis er den Wagen zurück in die Spur gebracht hatte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie dann. »Ich denke nur, man darf die Gier der Menschen nicht unterschätzen.« Sie nahm ihren Notizblock aus der Tasche und blätterte darin. »Vielleicht haben sie es wirklich nicht nötig, sich bestechen zu lassen, weil sie im Geld schwimmen. Aber vielleicht ist es auch genau andersherum. Sie schwimmen im Geld, weil sie sich bestechen lassen.«
Ralph stöhnte leise. Er hatte es ja gewusst. Ermittlungen im Wirtschaftsmilieu waren immer unübersichtlich. Es gab einfach zu viele Möglichkeiten.
»So oder so, wir finden es heraus«, erklärte Kaufmann optimistisch. Sie deutete auf das Gebäude des Frankfurter Polizeipräsidiums, das vor ihnen auftauchte. »Jetzt bin ich erst mal auf den Kollegen Roth gespannt.«
»Ja, ich auch.«
Angersbach fuhr auf den Hof des Reviers und stellte den Motor ab. Hier fühlte er sich auf jeden Fall wohler. Man war unter sich und sprach dieselbe Sprache. In dieser Umgebung würde er ein schwarzes Schaf erkennen, wenn er eines sah.