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Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende
D as Knie war steif geblieben, aber Rico hätte nicht einmal sagen können, ob das das Schlimmste war. Sein ganzes Leben war eine einzige Katastrophe. Er lebte jetzt bei Walter und Margot, aufrechten, regimetreuen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik. Rico war sich sicher, dass sie ihre Nachbarn bespitzelten und jeden, der sich verdächtig verhielt, bei der Stasi anschwärzten.
Sie waren zu fünft, Kinder wie Orgelpfeifen, Rico der Jüngste und Kleinste. Nicht das Nesthäkchen, das von allen mit Liebe überschüttet wurde, sondern der Fußabtreter, den man nach Belieben herumschubsen konnte. Er wurde abkommandiert, um die Schuhe aller Familienmitglieder zu putzen, die Böden zu wischen und den Hof zu fegen. Auch das Zimmer, das er gemeinsam mit Ernst, dem ältesten Sohn von Walter und Margot, bewohnte, musste er aufräumen. Die drei Schwestern, Kathrin, Johanna und Sonja, teilten sich das zweite Zimmer. Wenn die Eltern nicht zufrieden waren, setzte es Backpfeifen. Nur bei ihm, nicht bei Walter und Margots eigenen Kindern. Er war der Sündenbock, der Punchingball für die ganze Familie.
Er hatte auch keine Freunde. Fußball spielen konnte er wegen seines kaputten Knies nicht mehr, und in die Jugendorganisation Ernst Thälmann wollte man ihn nicht aufnehmen. Ein Aussätziger, der Sohn von Republikflüchtlingen, nicht wert, das rote Halstuch zu tragen. Seine neuen Geschwister waren alle in der FDJ und zeigten stolz ihre Blauhemden. Wenn er alt genug war und sich bis dahin gut geführt hatte, würde man ihm dort Zugang gewähren. Schließlich musste Walter und Margot die Chance gegeben werden, einen aufrechten und engagierten DDR -Bürger aus ihm zu formen, und dazu war die Charakterbildung durch die FDJ wichtig.
Rico war es gleichgültig. Früher, bei den Jungpionieren mit dem blauen Halstuch, hatte er gern an den gemeinschaftlichen Freizeitaktivitäten teilgenommen. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, allein zu sein.
Er fuhr mit dem Rad herum, was ihm immer wieder Schmerzen im Knie bereitete, aber in erträglichem Maße. Oder er verkroch sich in Gebüschen und schaute sich die Menschen an. So wie man Vögel oder Ameisen beobachtete. Er fand ihr Verhalten interessant, doch im Grunde waren sie ihm gleichgültig. Nur wenn fahrendes Volk in der Stadt war, regte sich etwas in ihm. Das Flirren, der bunte Trubel, die fremden Gerüche zogen ihn an. Das waren Menschen, die etwas mit ihm gemeinsam hatten. Sie waren anders, gehörten nicht dazu, sondern standen wie er am Rand der Gesellschaft.
Gerade jetzt hatte ein Zirkus sein spitzes Zelt auf dem freien Feld am Stadtrand aufgebaut. Rico fuhr am Nachmittag mit dem Rad dorthin und sah zu, wie die Löwen gefüttert wurden und ein Artist mit einem Einrad auf dem Platz seine Runden drehte und dabei Bälle und Keulen jonglierte. Einer der Tierpfleger winkte ihn zu sich und zeigte ihm alle Tiere, die zum Zirkus gehörten.
»Wenn du willst, komm zu uns«, sagte er. »Wir können immer Verstärkung gebrauchen.«
Eine heftige Sehnsucht erwachte in ihm. Wie gern würde er fliehen und mit diesem bunten Volk durch das Land ziehen, frei und ungebunden und niemandem Rechenschaft schuldig. Aber das ging ja nicht. Wenn er das tat, könnte er seinen Vater nicht mehr besuchen, der in der Nachbarstadt im Gefängnis saß, wie er erfahren hatte, als er ein Gespräch seiner neuen Eltern belauscht hatte. Zwar hatten Walter und Margot bisher nicht erlaubt, dass er das tat, aber irgendwann würde er ihnen das Zugeständnis abringen.
Er pfiff vor sich hin, als er mit dem Fahrrad zurück in die graue Plattenbausiedlung fuhr, in der sich die Wohnung von Walter und Margot befand.
Nach Hause würde er niemals dazu sagen.
Der Nachmittag mit den Zirkusleuten hatte ihm gutgetan. Er wusste jetzt, dass die Dinge nicht für alle Zeit so bleiben würden, wie sie waren. Es gab eine Zukunft, über die Walter und Margot nicht bestimmen konnten. Wenn er volljährig war, konnte er fortgehen und sein eigenes Leben leben.
***
Das Licht blendete ihn. Angersbach hob den Arm, um die Augen abzuschirmen, und kniff die Lider fester zusammen. Er fühlte sich steif, und sein Schädel hämmerte, als wollte er zerspringen. Hatten sie gestern Abend tatsächlich zwei Flaschen Wein geleert?
Ralph stöhnte und ließ den Arm zur Seite fallen. Er traf auf etwas Weiches, Warmes, Nachgiebiges. Erschrocken riss er die Augen auf und drehte den Kopf nach rechts.
Neben ihm auf dem breiten Doppelbett lag eine Frau. Schlank, mit kurzen dunklen Haaren, die wie eine Kappe um ihren Kopf lagen, und einem schmalen, ebenmäßigen Gesicht. Cordula Scherer.
Ralph ließ den Blick tiefer wandern und sah, dass sie nackt war, ihr Körper ebenso makellos wie ihr Antlitz. Kleine, feste Brüste, ein flacher Bauch und lange Beine. Die Fußnägel waren im selben Rot lackiert wie ihre Fingernägel. Ihre Decke hatte sie bis ans Fußende gestrampelt, dabei war es nicht besonders warm im Raum.
Rasch zog er die Hand zurück.
Was war letzte Nacht geschehen? Hatte er tatsächlich …?
Dass er selbst ebenfalls nackt war, ließ wohl keinen anderen Schluss zu. Er warf sich auf die linke Seite und schloss die Augen wieder. Langsam kamen die Bilder zurück. Das gute Essen, der süffige Wein, die romantische Stimmung auf der Terrasse des Golfhotels, mit der glatten Oberfläche des Sees unter einem Himmel, der im Abendrot glühte und sich auf dem Wasser spiegelte.
Cordula hatte mit ihm geflirtet, und er hatte es genossen. Wann hatte ihn zuletzt eine Frau so angesehen? Nachdem er bezahlt hatte, hatte sie seine Hand genommen und ihn hinter sich her ins Foyer gezogen. Er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen gewesen. Sie hatte nach seiner Zimmernummer gefragt und sich den Schlüssel aushändigen lassen. Und dann hatte sie ihn begleitet.
Er hatte nichts dagegen gehabt. Es war schön gewesen. Jetzt allerdings …
Ralph presste zwei Finger an die pochenden Schläfen.
Er war nicht der Typ für eine Nacht. Eigentlich war er überhaupt kein Beziehungstyp. Wenn überhaupt, wollte er etwas Solides. Mit einer Frau wie … Sabine. Aber die hatte sich ja lieber mit Mirco Weitzel getroffen, der ja auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit war. Vielleicht hatten die beiden ja auch …
Angersbach verzog das Gesicht. Es geschah Sabine nur recht, wenn er sich anderswo umschaute.
Die Frage war bloß, was er jetzt mit Cordula Scherer machen sollte.
Sabine Kaufmann rekelte sich. Sie hatte wunderbar geschlafen, wie auf einer Wolke. Die Betten im Golfhotel waren hervorragend. Sie öffnete blinzelnd die Augen. Das Morgenlicht fiel durch die dezent gemusterten Vorhänge und tauchte den Raum in ein warmes Licht. Zu schade, dass sie heute schon auschecken mussten. Hier im Lindenhof hätte sie es noch ein paar Tage ausgehalten.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Während sie sich die Zähne putzte und ihre Frisur richtete, dachte sie an Mirco.
Der Abend mit ihm war ausgesprochen nett gewesen. Sie hatten sich in einer Pizzeria getroffen. In deren gemütlichem Innenhof hatten sie unter einer großen Linde gesessen, weit genug von den anderen Tischen entfernt, um sich ungestört unterhalten zu können.
Zu ihrer Erleichterung hatte Mirco keinen Annäherungsversuch unternommen. Stattdessen hatte er ihr sein Geheimnis verraten. Er war seit einigen Jahren mit der Tochter eines Gutsbesitzers verbandelt, für den ein einfacher Polizist wie Weitzel als Schwiegersohn nicht infrage kam. Die Tochter würde es wohl auf einen Konflikt ankommen lassen, doch ihr Vater war schwer krank und hatte nicht mehr lange zu leben. Sie hatten beschlossen, ihm die Auseinandersetzung zu ersparen. Die Mutter war eingeweiht und unterstützte die beiden. Davon abgesehen trafen sie sich nur heimlich. Bad Vilbel mochte zwar eine Stadt sein, doch in vielerlei Hinsicht hatte es etwas Dörfliches. Jeder kannte jeden, zumindest galt diese Regel für die Einheimischen, die in den alten Wohnvierteln lebten. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem Vater von ihrer Liaison berichtete, war also nicht gerade klein.
Sabine hatte nicht recht gewusst, wie sie das Arrangement fand. Einerseits war es rücksichtsvoll, andererseits makaber. Hieß es nicht, dass sie auf den Tod des Vaters warteten, um endlich ihre Beziehung offen leben zu können? Dass die Trauer drohte, die Liebe einmal aufzufressen? Dass der Reiz, den dieses Risikospiel mit sich brachte, mit ihm sterben würde? Andererseits verstand sie die beiden. Wahrscheinlich hätte sie selbst nicht anders agiert, wenn es um ihre Mutter gegangen wäre. Richtig oder falsch? Wer wusste das schon. Eigentlich war sie der Überzeugung, dass es immer besser war, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie schmerzlich war. Authentisch zu sein. Trotzdem hatte sie Mirco natürlich versprochen, sein Geheimnis für sich zu behalten. Und ihm alles Gute gewünscht und das auch so gemeint.
Sabine sah auf die Uhr und entschied, dass noch genügend Zeit für eine Joggingrunde um den See war. Um neun wollte sie sich mit Angersbach im Foyer treffen, um auszuchecken und anschließend mit ihm gemeinsam nach Gießen zu fahren.
Lust hatte sie nicht dazu. Sie war immer noch ärgerlich über sein unsachliches Vorgehen bei der Befragung von Kirsten Gerlach. Aber für die Ermittlungen war es sinnvoll, zusammenzubleiben. Also würde zumindest sie sich professionell verhalten.
Sie trat aus der Tür des Nebengebäudes, in dem sich ihr Zimmer befand, und ließ Arme und Beine kreisen, um die Muskeln aufzuwärmen.
Aus dem Augenwinkel registrierte sie eine Bewegung vor dem Haupthaus. Eine Frau trat aus der Eingangstür. Eng geschnittener grauer Hosenanzug, schwarze Kurzhaarfrisur.
Sabine stockte und lachte bitter.
Angersbach und Scherer hatten offensichtlich nicht nur gemeinsam zu Abend gegessen. Sie hatten auch die Nacht zusammen verbracht.