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Bad Vilbel, einige Wochen vor dem ersten Markttag
S ie hatten sich alle in der großen Halle versammelt. Die Tonangeber der Stadt, die Eventmanager, die Schausteller, Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte. Es war das erste Zusammentreffen in dieser Besetzung, auch wenn es für die meisten eine wiederkehrende Routine war. Doch man nahm ihn ernst, den Bad Vilbeler Markt, denn er war für alle Beteiligten etwas Besonderes.
Rico schlenderte am Buffet entlang. Appetitliche Häppchen mit Wurst und Käse, Lachs und Schinkenmett. Natürlich fehlte auch die landestypische Stracke nicht. Ein Schild wies darauf hin, dass es sich um »Metzgers Stracke – die hessische Traditionswurst« handelte. Rico kannte den Hersteller; Metzger und seine Familie waren seit vielen Jahren deutschlandweit auf den Jahrmärkten unterwegs, um ihre hausgemachte Spezialität an den Mann zu bringen. Er schnitt sich ein großes Stück davon ab und nahm sich ein trockenes Stück Baguette dazu.
Genüsslich biss er in die deftige Wurst und kaute. Eher zufällig wanderte sein Blick zur Tür. Immer noch kamen Menschen, dieses Mal einige Vertreter der Polizei. Jedenfalls nahm er das an, weil die grauen Herren in den strengen Anzügen von uniformierten Beamten begleitet wurden.
Rico hätte sich beinahe an seiner Wurst verschluckt. Er keuchte und würgte den Bissen hinunter. Ungläubig starrte er den Mann an, der geradewegs zur Bühne marschierte und oben hinter dem langen Pult Platz nahm, das den hochrangigen Vertretern des Organisationsteams vorbehalten war.
Mit der Macht eines Orkans stürmten die Bilder auf ihn ein. Onkel Dranko hatte ihn einmal mitgenommen auf den Hof eines Freundes, direkt an der Grenze. Mit dem Fernglas hatten sie zugesehen, wie auf der anderen Seite, auf dem Nachbarhof, der seit der Teilung zu einem anderen Land gehörte, ein Mann eine Brieftaube fliegen ließ.
»Das ist unser Kontakt im Westen«, hatte Onkel Dranko gesagt.
Rico hatte fasziniert durch das Fernglas geschaut. Dieser Mann war es also, der ihnen die Tür in die Freiheit öffnen würde. Seine Eltern und Onkel Dranko planten seit einigen Wochen die Flucht, und sie hatten ihn eingeweiht. Einweihen müssen, weil er ungewollt Zeuge eines lautstarken Streits in der Küche geworden war. Darüber, ob man es lieber mit einem Boot an einem Fluss versuchen sollte oder Onkel Drankos Idee umsetzen, mit dem Panzerwagen quer durch das Minenfeld zu fahren. Sie hatten sich dann für das Husarenstück entschieden. Damit würde kaum jemand rechnen.
Der Mann auf dem Nachbarhof im Westen war ungefähr so alt wie sein Vater. Er hatte volles, braunschwarzes Haar, dunkle, buschige Augenbrauen, die an einen Habicht erinnerten, eine spitze, leicht gekrümmte Nase und auffallend breite Schultern.
Mittlerweile waren das Haar und die Augenbrauen grau, aber das Habichtsgesicht war immer noch dasselbe. Er war auch nicht mehr schlank wie damals, sondern füllig und ein wenig behäbig geworden. Aber Rico zweifelte nicht eine Sekunde lang. Die Namensgleichheit war kein Zufall. Das war der Mann, der damals die verhängnisvolle Flucht organisiert hatte. Er war schuld, dass seine Mutter verschwunden und sein Vater im Gefängnis gestorben war. Daran, dass er bei Walter und Margot aufwachsen und seine Fußballerträume begraben musste. Er und Onkel Dranko.
Der Hass war plötzlich wieder da, so frisch und brennend wie damals. Er hatte ihn nicht bewältigt, sondern nur irgendwo tief in seinem Inneren verschlossen. Nun kam er mit Macht zurück, aber er war nicht mehr hilflos. Jetzt hatte er ein Ziel.
***
Ralph schimpfte halblaut vor sich hin, während er den Lada in Richtung Frankfurt steuerte. Für die Schönheit der Landschaft hatte er keinen Blick, obwohl sie an diesem Morgen besonders lieblich dalag. Die Sonne schien durch dünne Wolkenschleier, die wie ein Weichzeichner wirkten. Alles schien wie mit Gold übergossen, die Felder, auf denen das reife Korn stand, die saftigen Wiesen und die bewaldeten Hügel. Sein Sehnsuchtsort, immer noch, doch im Augenblick war sein Inneres ausgefüllt mit lodernder Wut.
»Wenn wir das vorher gewusst hätten«, fluchte er. »Wir wären Fuller ganz anders angegangen.«
Sabine legte ihm federleicht die Hand auf den Arm.
»Du hast ja recht. Aber wir können es nicht mehr ändern. Das Kind ist in den Brunnen gefallen.« Sie zog die Hand wieder zurück. »Außerdem steht noch nicht fest, ob diese alte Geschichte tatsächlich das Motiv ist. Immerhin liegt das Ganze mehr als dreißig Jahre zurück.«
Angersbach grunzte. Was sie sagte, stimmte natürlich. Aber er wollte sich nicht beruhigen. Mit überhöhtem Tempo fuhr er durch Bad Vilbel und beschleunigte weiter, kaum dass sie das kurze Stück Landstraße bis nach Frankfurt erreicht hatten.
»Jedenfalls hätten wir die Sache untersuchen können. Bevor jemand stirbt.«
»Aber wir hätten nichts in der Hand gehabt. Auch wenn wir ihn mit der Vergangenheit konfrontiert hätten. Fuller hätte niemals zugegeben, dass er die Drohbriefe geschrieben hat. Und ich wage zu bezweifeln, dass wir Polizeischutz für Roth bekommen hätten.«
»Zumindest hätten wir ihn warnen können«, widersprach Angersbach. »Er hätte gewusst, dass er sich in Acht nehmen muss. So hat sein alter Freund Schulte ihn ins offene Messer laufen lassen.«
»Falls Markus Fuller der Täter war«, wiederholte Kaufmann. »Woher soll er denn überhaupt gewusst haben, dass Roth damals seine Eltern und ihn verraten hat?«
Ralph verdrehte die Augen. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er irgendwelche alten Stasiakten studiert? Du denkst es doch auch.«
»Ja.« Sabine seufzte. »Aber solange wir keine Beweise oder ein Geständnis haben, ist es nur eine Theorie.«
Ralph atmete tief durch und drosselte das Tempo, als sie sich dem Stadtzentrum näherten. Er hatte auch dieses Mal Glück und fand einen Parkplatz ganz in der Nähe des Hochhauses mit der Glasfront, in dem sich das Büro der Eventagentur Fuller & Lohmann befand.
Als sie aus dem Fahrstuhl stiegen, sah Kaufmann ihn beschwörend an.
»Lass mich reden, ja? Wir sollten nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.«
Angersbach knirschte mit den Zähnen. Doch. Genau das wollte er. Markus Fuller am Kragen packen und ihn durchschütteln, bis er ein Geständnis ablegte. Aber er fügte sich.
Kaufmann drückte auf die Klingel, und gleich darauf öffnete sich die Tür. Johannes Lohmann stand vor ihnen, wie immer in T-Shirt und Bluejeans, die dunkelblonden Haare zerzaust, als wäre er eben erst aufgestanden.
»Guten Morgen«, sagte er überrascht. »Haben wir einen Termin?«
»Nein. Wir sind spontan vorbeigekommen«, knurrte Angersbach. Kaufmann sah ihn warnend an.
»Wir hätten noch eine Frage an Ihren Kompagnon«, erklärte sie.
»Oh.« Lohmanns jungenhaftes Gesicht nahm einen bedauernden Ausdruck an. »Dann haben Sie den Weg umsonst gemacht. Markus ist nicht hier.«
Ralph ballte die Fäuste. Das war wieder einmal typisch. Statt nachzudenken, war er einfach losgerast. Sie hätten zumindest vorher anrufen und sich erkundigen können, ob Fuller im Büro war.
»Wo ist er denn?«, fragte Kaufmann.
»Zu Hause«, sagte Lohmann. »Er fühlte sich heute Morgen nicht wohl. Magen-Darm-Grippe wahrscheinlich.«
»Können Sie uns seine Adresse geben?«
»Sicher.« Lohmann winkte sie höflich herein. Er nahm einen Block vom Tresen, schrieb etwas darauf und riss das oberste Blatt ab. »Er hat ein kleines Haus in Vacha.«
Ralph tauschte einen raschen Blick mit Sabine. Fuller lebte dort, wo sich damals sein Schicksal so unglücklich gewendet hatte?
»Er fährt jeden Tag den ganzen Weg hierher?«
Lohmann zuckte mit den Schultern. »Markus meint, es lohnt sich. Er wohnt so herrlich ruhig, und er mag die Landschaft.«
»Wussten Sie, dass er von dort stammt? Und dass er als Kind mit seinem Vater in den Westen fliehen wollte?«
Lohmann rieb sich das beinahe bartlose Kinn. »Nein. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Ist das wichtig?«
»Dann wissen Sie auch nicht, dass sein Vater in einem Gefängnis in der DDR gestorben ist?«, bohrte Kaufmann weiter.
»Was?« Lohmann riss erschrocken die Augen auf. »Das ist ja furchtbar.«
»Ja. Das ist es wohl.«
Sie nahm den Zettel entgegen, den Lohmann ihr hinhielt, und bedankte sich.
Als sie wieder unten vor dem Haus standen, schaute sie Ralph fragend an. »Hätten wir ihm sagen sollen, dass er Fuller nicht über unseren anstehenden Besuch informieren soll?«
Ralph schüttelte den Kopf. »Das hätte wohl kaum etwas genützt. Vermutlich hätte er es dann erst recht getan.« Er schloss den Wagen auf und setzte sich ans Steuer. Der Motor heulte auf. »Wir sollten uns besser beeilen.«
Sabine Kaufmann wurde gründlich durchgeschüttelt, als Ralph über die Landstraße in Richtung Vacha raste. Sie ärgerte sich, dass sie ständig mit Angersbachs schlecht gefedertem Wagen unterwegs waren, doch das war nicht zu ändern. Für die pausenlosen Fahrten über Land, das musste sie sich widerwillig eingestehen, war ihr Elektroauto mit seiner geringen Reichweite tatsächlich ungeeignet.
Obwohl Ralph alles aus dem Wagen herausholte, dauerte es mehr als neunzig Minuten, bis sie ihr Ziel erreichten. Kaum zu glauben, dass Fuller diesen Aufwand täglich in Kauf nahm, um hier zu leben, zumal ihn doch alles an die missglückte Flucht von damals erinnern musste. Aber vielleicht ging es ihm genau darum. Die Erinnerung zu bewahren, seinen Hass auf die Verräter und den Rachedurst wachzuhalten.
Vacha war ein kleiner, beschaulicher Ort, dem trotz der gepflegten Häuser und etlicher Neubauten noch ein gewisser DDR -Charme anhaftete. Nach all den Jahren. Aber auf dem Land tickten die Uhren eben langsamer.
Fullers Haus befand sich am Ortsrand. Dahinter lagen Wiesen, weiter im Osten erstreckte sich ein ausgedehntes Waldstück.
In der Einfahrt parkte eine dunkle BMW -Limousine. Anscheinend war Markus Fuller tatsächlich zu Hause.
»Schicker Wagen«, bemerkte Angersbach, als er den Lada dahinter abstellte. »Scheinen gut zu laufen, die Geschäfte der Eventagentur. Oder er kann ihn sich leisten, weil er sich schmieren lässt.«
»Das werden wir bald wissen.« Kaufmann stieg aus und ging zur Haustür. Hinter dem geschlossenen Vorhang des Fensters zur Straße hin meinte sie eine Bewegung wahrzunehmen. Sie drückte energisch auf den Klingelknopf. Angersbach rückte sein Holster zurecht und legte die Hand auf den Griff seiner Pistole.
Von drinnen waren Schritte zu hören, doch niemand öffnete. Stattdessen schienen sich die Geräusche zu entfernen. Ein Klappern ertönte, dann ein Knall, als irgendwo auf der Rückseite des Hauses eine Tür ins Schloss fiel. Sabine sah Ralph alarmiert an.
»Der haut ab.«
Sie liefen beide um das Haus herum, Ralph auf der linken, Sabine auf der rechten Seite. Beinahe gleichzeitig kamen sie auf der Terrasse an und sahen gerade noch, wie ein Mann über die Wiese rannte und gleich darauf in das dahinterliegende Waldstück eintauchte.
Sabine sprintete los. Dank ihrer täglichen Joggingrunde war sie gut in Form. Ralph fiel schon auf den ersten fünfzig Metern weit zurück. Als sie den Wald erreichte, konnte sie nicht einmal mehr sein Keuchen in ihrem Rücken hören.
Sie blieb kurz stehen und spähte zwischen den Bäumen hindurch.
In welche Richtung war Fuller geflohen?
Sabine versuchte, auf dem Waldboden eine Spur zu entdecken, doch der Boden war zu trocken. Fullers Schritte auf der harten Erde hatten keine Abdrücke hinterlassen. Sie lauschte und glaubte, rechts von sich ein Knacken zu hören. Rasch rannte sie in diese Richtung.
Die Blätter um sie herum raschelten, irgendwo über ihr flog ein Vogel auf. Ein Tier huschte vor ihren Füßen durchs Unterholz, dichtes, rotbraunes Fell, ein Marder oder Iltis vielleicht. Trockene Zweige zerbarsten knackend unter ihren Schuhsohlen. Sie blieb mit dem rechten Hosenbein in Brombeerranken hängen und brauchte ein paar Sekunden, um den Stoff von den Dornen zu befreien.
Immer weiter lief sie in den Wald hinein. Irgendwann blieb sie stehen.
Es war sinnlos, sie konnte niemanden sehen. Sie hörte auch nichts mehr, weder die Schritte des Flüchtenden noch Ralphs Keuchen, der längst den Anschluss verloren hatte. Frustriert drehte sie sich um und trat den Rückweg an.
Seine Beine wurden immer schwerer. Er stolperte über eine vorstehende Baumwurzel und griff instinktiv nach einem Ast, um nicht zu stürzen. Spitze Nadeln bohrten sich in seine Handfläche. Markus Fuller stöhnte auf.
Sein Herz jagte wie verrückt, der Pulsschlag hämmerte in seinen Ohren. Adrenalin flutete durch seine Adern. Er merkte, dass er zu schnell atmete; sein Kopf wurde flau. Aber er durfte jetzt nicht stehen bleiben.
Weiter. Weiter.
Er torkelte mehr, als dass er lief, die Glieder weich, die Füße wie Blei. Wieder blieb er an etwas hängen und taumelte gegen einen Baumstamm. Es ging nicht mehr. Keuchend blieb er stehen und sank auf die Knie.
Langsam kam er zur Besinnung.
Warum um alles in der Welt war er weggelaufen? Es war das Dümmste, was er hatte tun können. Ein Schuldeingeständnis, ehe überhaupt irgendjemand Anklage erhoben hatte.
Johannes’ Anruf hatte ihn in Panik versetzt. Dass sie alles wussten, seine Vergehen kannten, seine Verbindung zu Roth.
Na und?
Nichts davon war ein Beweis.
Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Er wusste, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. So dumm war er nicht.
Er hätte einfach nur die Nerven behalten müssen. Die Beamten mit ihren Fragen ins Leere laufen lassen. Jeder Anwalt würde ihn in null Komma nichts wieder freibekommen, falls sie ihn festnehmen sollten.
Wenn er nicht geflohen wäre.
Doch noch war es nicht zu spät. Er musste nur umkehren und sich stellen. Den Polizisten eine gute Erklärung liefern, weshalb er weggerannt war.
Aber was sollte er sagen? Dass er Angst gehabt hatte, vor einer unfairen Vernehmung, vor der Untersuchungshaft, vor einem Fehlurteil? Davor, dass es irgendwelche alten Stasiakten gab, in denen Dinge standen, die nicht wahr waren, ihn aber zum Verbrecher stempelten?
Nein. Nichts davon.
Er war einfach in Panik geraten, nachdem Johannes behauptet hatte, sie würden kommen, um ihn zu verhaften. Punkt.
Markus Fuller nickte entschlossen. Genauso würde er es machen.
Er rappelte sich auf, klopfte sich Nadeln und Erde von den Hosenbeinen und ging den Weg zurück, den er gekommen war.