19
Der letzte Markttag
D
er Bad Vilbeler Markt lockte ein letztes Mal Besucher an. Zum Abschluss gab es noch einige Attraktionen, und das Gelände war wieder einmal voller ausgelassener und gut gelaunter Menschen.
Petra Wielandt und Cordula Scherer ließen sich mittreiben und beobachteten die Marktbesucher, genauso wie sie es schon die gesamte vergangene Woche getan hatten. Sie wollten keine Gelegenheit ungenutzt lassen, die Handydiebe zu entdecken und zu überführen.
Innerlich hatte Petra die Hoffnung längst aufgegeben. Sie hatte auch keine Lust mehr. Ihre Füße taten weh. Obwohl sie bequemes Schuhwerk trug, hatte sie sich mehrere Blasen gelaufen. Cordula dagegen schien keine Probleme zu haben, obwohl sie in hochhackigen Pumps unterwegs war, in denen Petra keine halbe Stunde hätte gehen können.
Sie sehnte sich auch nach ein wenig Ruhe. Die laute Geräuschkulisse des Jahrmarktes – die dröhnenden Musikboxen, die Rufe der Anpreiser, die zahllosen Stimmen der Besucher und das Kindergeschrei – verursachte ihr Kopfschmerzen, und seit zwei Tagen hatte sie im linken Ohr ein Klingeln, das vorher nicht da gewesen war. Sie hoffte, dass es verschwinden würde, wenn sie ihre gewohnte Tätigkeit in der Polizeistation wieder aufnahmen, und sich nicht zu einem Tinnitus auswuchs.
Gedankenverloren schaute sie zu den Gondeln des Riesenrads, die sich hoch oben in der Luft drehten, als Cordula hart nach ihrem Arm griff. Sie blieb stehen und folgte dem Blick der Kollegin.
Vor einem Weinstand drückte sich ein Mann in abgerissenen Jeans und schmuddeligem T-Shirt herum. Seine Hand bewegte sich beiläufig zur Jackentasche eines Kunden, der vor ihm in der Schlange stand. Er zog etwas daraus hervor und ließ es blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden. Dann löste er sich aus der Schlange, als dauere ihm das Anstehen zu lange.
Wielandt und Scherer folgten ihm über das Marktgelände. Er ging in Richtung Kettenkarussell, bog dort aber nicht ab, sondern lief weiter zu den Besucherparkplätzen. Dort strebte er auf einen himmelblauen Renault Kangoo zu. Der Wagen hatte ein Jenaer Kennzeichen, war relativ neu und sauber. Zu dem ungepflegten Mann schien er nicht recht zu passen.
Doch der zog einen Schlüssel aus der Tasche und betätigte ihn. Die Blinklichter des Wagens leuchteten auf. Der Mann sah sich kurz um und öffnete die Kofferraumklappe.
Wielandt und Scherer traten rechts und links neben ihn und zückten ihre Dienstausweise.
»Polizei. Dürften wir bitte einen Blick in Ihren Wagen werfen?«
Der Mann wirbelte herum. Seine dunklen Augen huschten zwischen ihnen hin und her. »Das dürfen Sie nicht.«
»Wir dürfen, wenn wir den begründeten Verdacht haben, dass eine Straftat vorliegt«, sagte Cordula Scherer.
Der Mann schubste sie weg. Scherer taumelte ein paar Schritte rückwärts und stürzte. Der Verdächtige wollte loslaufen, doch Petra war bereits hinter ihm. Mit zwei schnellen Tritten in die Kniekehlen brachte sie ihn zu Fall. Sie griff ihm in den Nacken und drückte ihn zu Boden. Energisch drehte sie ihm die Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. Dann half sie ihm wieder auf die Beine.
Cordula hatte sich mittlerweile aufgerappelt. Sie spähte in den Kofferraum, in dem ein großer Pappkarton stand. Petra zog den Festgenommenen mit sich und sah zu, wie ihre Kollegin den Karton öffnete. Darin lagen Smartphones, zwei oder drei Dutzend, vielleicht mehr.
»Das sind meine«, sagte der Mann und versuchte, sich aus Petras Griff zu befreien.
Cordula hob verächtlich die Mundwinkel. »Sie telefonieren wohl viel? Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?«
Sie zog die Brieftasche aus seiner Hosentasche und nahm die Plastikkarte heraus.
»Martins, Ringo«, las sie vor. »Gemeldet in Jena.«
»Also ist das Ihr Wagen?«, erkundigte sich Petra Wielandt.
»Nein. Den Schlüssel hat mir ein Typ gegeben, den ich gestern Abend in der Kneipe getroffen habe. Ich sollte etwas für ihn hineinlegen. Heute Abend soll ich ihm den Schlüssel zurückgeben.«
Wielandt und Scherer tauschten einen schnellen Blick. Das war eine höchst hanebüchene Geschichte.
»Name?«
»Ringo Martins. Haben Sie doch gerade vorgelesen.«
Scherer schnaubte. »Der Name des Mannes, der Ihnen den Wagenschlüssel gegeben hat.«
»Weiß ich nicht.«
»Er hat sich Ihnen nicht vorgestellt, aber überlässt Ihnen die Schlüssel für sein Auto?«
Martins grinste. »Gibt halt komische Leute.«
Scherer konnte darüber nicht lachen. Sie nahm ihr Smartphone aus der Tasche, tippte auf eine Nummer und hielt sich das Gerät ans Ohr.
»Arbeiten Sie hier auf dem Markt?«, fragte Wielandt.
»Ja.«
»Wo?«
»Kettenkarussell.«
Petra runzelte die Stirn. Sie hatten doch die Fahrzeuge der Schausteller durchsucht. Wieso waren sie nicht auf diesen Wagen gestoßen?
Scherer hatte jemanden erreicht. »Wir haben eine Halterabfrage«, sagte sie und gab das Kennzeichen durch. Eine halbe Minute später bedankte sie sich und drückte die Verbindung weg.
»Das Auto ist auf eine Jacqueline Dengler in Jena zugelassen.« Sie wandte sich an den Festgenommenen. »Wer ist das?«
Martins grinste wieder. »Wahrscheinlich die Tussi von dem Typen, der mir den Schlüssel gegeben hat.«
Scherer tippte erneut auf ihrem Handy. Sie ging ein paar Schritte beiseite und hielt das Gerät ans Ohr. Petra hörte sie nur undeutlich murmeln. Als sie das Gespräch beendet hatte, drehte sie sich mit einem triumphierenden Lächeln um.
»Tja, Herr Martins. Das Einwohnermeldeamt konnte mir weiterhelfen. Jacqueline Dengler ist Ihre verheiratete Schwester.«
Der Blick des Schaustellers flackerte kurz. Dann setzte er seine gleichgültige Miene wieder auf. »Ja. Toll. Und was haben Sie jetzt davon? Meine Schwester hat mir den Wagen geliehen.«
»Sie wollen aber nicht behaupten, dass ihr der Karton mit den Telefonen gehört?« Scherer funkelte den Mann an.
Der spitzte die Lippen. »Wem denn sonst?«
Wielandt tastete ihn ab und zog ein Smartphone aus seiner hinteren rechten Hosentasche. »Und das hier?«
»Das ist meins.«
Petra aktivierte das Display. Das Gerät forderte eine Eingabe.
»Ihre PIN
?«
Martins’ Kiefer mahlten. »Die sag ich Ihnen nicht.«
Wielandt griff erneut zu und befördert ein weiteres Handy hervor, diesmal aus der linken Hosentasche. »Und dieses?«
»Ist auch meins.«
Scherer hatte genug. Sie schlug die Kofferraumklappe zu, hob den Schlüssel auf, den Martins bei seiner Verhaftung hatte fallen lassen, und verriegelte den Wagen.
»Sie kommen jetzt mit auf die Polizeistation. Und dann klären wir die Angelegenheit in aller Ruhe. Die Handys gehen an die Kriminaltechnik. Die werden die PINs schon knacken.«
Über Martins’ Gesicht fiel ein Schatten. Auf einmal sah er gar nicht mehr so abgeklärt aus. »Hören Sie. Ich kann Ihnen das alles erklären.«
Scherers Augen blitzten.
»Da sind wir aber gespannt.«
Dr. Klaus Wohlert zog dem Patienten die Blutdruckmanschette über den Arm und pumpte sie auf. Den Kopf des Stethoskops presste er auf die Ader. Langsam ließ er die Luft aus der Manschette ab und horchte. Der Blutdruck war perfekt, hundertvierundzwanzig zu sechsundachtzig, der Puls ruhig und gleichmäßig, achtundsechzig Schläge in der Minute. Wohlert legte das Messgerät beiseite und löste vorsichtig den Verband von der linken Schulter.
Die Schusswunde verheilte gut. Nichts hatte sich entzündet, die Haut war frisch und rosig. Der Arzt erneuerte den Verband und drehte den Regler am Tropf, der neben der Behandlungsliege stand.
Der Fremde lag immer noch im künstlichen Koma. Ohne die Medikamente, die Wohlert ihm verabreichte, wäre er längst aufgewacht, doch was hätte er dem Mann sagen sollen? Auf keinen Fall durfte er ihn auch nur zu Gesicht bekommen. Ein Mediziner, der einen Verletzten mehr als eine Woche in seiner Privatpraxis behandelte und festhielt, war mit Sicherheit die längste Zeit Arzt gewesen.
Ihm blieb nur, das zu tun, was Albert Fölsing verlangt hatte: den Mann aufzupäppeln und dann, wenn er wieder bei Kräften war, irgendwo im Wald auszusetzen, wo er den Weg fortsetzen konnte, der
durch den Schuss aus Fölsings Flinte so rabiat unterbrochen worden war. Vermutlich würde er das in den nächsten ein, zwei Tagen tun können.
Er hatte eine Magensonde gelegt, über die der Patient mit Nährstoffen und Flüssigkeit versorgt wurde. Zusätzlich bekam er Schmerzmittel und ein Antibiotikum. Trotzdem bereitete es Wohlert Bauchschmerzen, ihn ohne medizinische Nachbetreuung in die Wildnis entlassen zu müssen. Was, wenn der Mann doch zu schwach war, wenn er stürzte und sich etwas brach oder einfach zusammenklappte? Fölsing musste auf jeden Fall in der Nähe bleiben und sicherstellen, dass dem Mann die sichere Heimkehr gelang. Andernfalls würde er das Spiel nicht länger mitmachen, auch wenn es ihn Kopf und Kragen und natürlich seine Approbation kosten würde.
Wohlert versicherte sich noch einmal, dass alles in Ordnung war, und ging in seine Wohnung. Er setzte sich vor den Fernseher und wog die Fernbedienung unschlüssig in der Hand. Wenn er Urlaub hatte, pflegte er sämtliche Nachrichtensendungen zu meiden. In seinem Beruf hatte er tagtäglich mit Not und Leid zu tun. Um sich zu erholen, musste er all das für eine Weile ausblenden. Doch heute hatte er das Bedürfnis, einen Kontakt zur Welt herzustellen, nachdem er sich während der letzten Woche komplett isoliert hatte. Zufällige Begegnungen gab es nicht, sein Haus lag einsam am Waldrand, die nächsten Nachbarn waren weit entfernt. Sie wussten, dass er seine Ruhe schätzte, und drängten sich nicht auf. Nur seine Patienten kamen den schlecht gepflasterten Weg hierher, und das auch nur, wenn sie einen Termin hatten.
Klaus Wohlert ließ den Daumen kurz über dem Knopf der Fernbedienung schweben. Dann schaltete er den Fernseher ein.
Den Beginn der Nachrichten hatte er verpasst, doch die Katastrophen, die man in der verbleibenden Zeit zu bieten hatte, reichten ihm schon, um seine Entscheidung für die Sendung zu
bereuen. Er wollte das Gerät gerade wieder ausschalten, als ein Fahndungsaufruf der Polizei eingeblendet wurde.
Wohlert stockte das Blut in den Adern. Der Mann, der dort auf dem Bildschirm zu sehen war, war ohne jeden Zweifel derselbe, der in seinem Behandlungszimmer lag. Sein Name war Markus Fuller. Gesucht wurde er wegen Mordverdachts.
Klaus Wohlert starrte wie paralysiert auf den Monitor, noch lange nachdem das Foto längst ausgeblendet worden war. Die Fußballergebnisse zogen an ihm vorbei, die Wettervorhersage und der Beginn des Tatorts.
Erst als ein Schuss ertönte, der die Figur im Film jäh aus dem Leben beförderte, erwachte er aus seiner Starre.
Was sollte er tun? Der Mann nebenan in seiner Praxis war ein mutmaßlicher Mörder.
Er musste ihn so schnell wie möglich loswerden.
Ein lauter Knall zerriss die Stille. Eine glühende Feuerkugel schoss in den dunklen Himmel, zerplatzte und teilte sich in Hunderte rot, blau und grün leuchtender Sterne. Zwei, drei, vier weitere Feuerbälle folgten und gossen Fontänen aus buntem Licht über das Festgelände. Die Menschen unten auf dem Platz raunten, aus zahllosen Kehlen waren Ahs und Ohs zu hören.
Es war brechend voll. Die Zuschauer standen dicht gedrängt, zum Feuerwerk gab es immer ein Besucherhoch. Dazu kamen die Polizeikräfte, die einen Ring um den gesamten Markt gebildet hatten. Schulte hatte sich selbst übertroffen und mehrere Hundertschaften aus ganz Hessen hierherbeordert. Weitere uniformierte Polizisten behielten die Fahrgeschäfte im Auge, und ein paar Dutzend Zivilbeamte bewegten sich zwischen den Besuchern umher. Wenn irgendjemand plante, diesen traditionellen Höhepunkt des Festes für eine Straftat zu nutzen, würde er nicht ungesehen davonkommen.
Auch die Polizeistation Bad Vilbel stand an diesem Abend unter
besonderer Bewachung. Zusätzlich zu den dort tätigen Kollegen war ein Spezialeinsatzkommando vor Ort, das im Falle eines Anschlags schnell und kompromisslos agieren würde.
Sie waren so gut aufgestellt, wie es überhaupt nur möglich war. Jetzt konnten sie nur noch warten.
Fast eine halbe Stunde lang flogen die Raketen in den Himmel und malten immer neue impressionistische Gemälde aus bunten Lichtblitzen. Dahinter bildete sich eine dunkle Rauchwolke, die schwerfällig in Richtung Osten zog. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Schwarzpulver. Die zahllosen Explosionen verschmolzen zu einer Sinfonie aus Trommelschlägen, die etwas Hypnotisches an sich hatte. Es war derart beeindruckend, dass Sabine für einen Moment vergaß, weshalb sie hier waren. Eine innere Ruhe erfüllte sie angesichts der beeindruckenden Schönheit, und wie von selbst neigte sich ihr Kopf zur Seite und lehnte sich an Ralphs Schulter.
Sie merkte, wie sich Angersbach versteifte.
»Entschuldige.« Hastig streckte sie sich wieder. Er hatte ja recht, jetzt war nicht der richtige Augenblick für Romantik. Im Grunde sollte sie sich nicht einmal das Feuerwerk ansehen, sondern die Besucher beobachten. Doch das Farbenspiel war einfach zu schön. Sie konnte sich nicht entziehen.
Das Finale bestand aus Silberfontänen und Goldregen, der sich als Kuppel über den Markt wölbte. Wie in Zeitlupe fielen die goldenen Lichtfäden der Erde entgegen, während von oben immer neue nachkamen.
Dann explodierte mit einem besonders lauten Knall die letzte Rakete. Eine Goldfontäne, größer und schöner noch als die vorhergehenden, regnete auf die Fahrgeschäfte hinab und tauchte alles in einen unwirklichen Schimmer. Das Bild des Riesenrads vor dem goldenen Himmel haftete noch auf Sabines Netzhaut, als das Licht schon verflogen und der Knall verhallt war.
Mit einem leisen Seufzen schaute sie zu Ralph. »Gott, war das schön.«
»Was?«
Die andächtige Stille war unmittelbar nach dem letzten Leuchtkörper zerrissen, die Besucher tauschten sich mit erhobenen Stimmen über das Schauspiel aus, riefen versprengte Mitglieder ihrer Herde zusammen und drängelten, weil nun alle möglichst schnell zu den Parkplätzen und nach Hause wollten.
»Es war schön«, brüllte Sabine gegen den Lärm an.
»Ja«, gab Ralph in gleicher Lautstärke zurück, während er seinen Blick wachsam über das Gelände wandern ließ. »Hübsch.«
Kaufmann seufzte. Aber was hatte sie auch erwartet? Angersbach war eben doch ein grober Klotz, wenn ihn nicht einmal diese bunte Lichterpracht rühren konnte. Oder war er einfach nur professionell, während sie sich von ihren Gefühlen leiten ließ?
Kriminaloberrat Horst Schulte kam durch den Besucherstrom auf sie zu. »Irgendwelche Vorkommnisse?«
»Bis jetzt nicht«, teilte Angersbach mit.
»Gut. Bei den anderen Einheiten ist auch alles ruhig.« Schulte hielt das Funkgerät hoch, mit dem er in ständigem Kontakt mit der Polizeistation und den Bereitschaftspolizisten auf dem Marktgelände stand.
Sabines Handy vibrierte. Am anderen Ende war Petra Wielandt.
»Wie ist die Lage bei euch?«
»Bisher alles ruhig.«
»Hier auch. Kein Attentäter. Dafür haben wir das Diebesnest ausgehoben. Ringo Martins und zwei seiner Kollegen vom Kettenkarussell. Alle drei beteuern, dass ihr Chef, Erich Stankowitz, nichts mit der Sache zu tun hat. Das klingt so weit glaubhaft, trotzdem muss es irgendwo einen Mann im Hintergrund geben. Die drei machen nicht den Eindruck, als verfügten sie über genügend
Organisationstalent, die gestohlenen Handys zu vertreiben. Martins ist offenbar technisch versiert, er knackt die PINs und macht irgendwas mit den Geräten, damit sie SIM
-Lock-frei sind. Aber er ist mit Sicherheit nicht das Verkaufsgenie.«
»Kocht sie noch ein bisschen weich«, riet Sabine. »Irgendwann werden sie schon singen. Morgen früh wird abgebaut, und die Schausteller ziehen weiter. Das werden sie nicht verpassen wollen. Sonst sind sie ihren Job los.«
»Wir legen eine Nachtschicht ein, wenn es sein muss«, versprach Wielandt und verabschiedete sich. Kaufmann steckte das Telefon zurück in die Tasche.
»Irgendetwas Neues?«, erkundigte sich Schulte.
»Die Kolleginnen Wielandt und Scherer sind dabei, die Ermittlungen in Sachen Handydiebstahl wasserdicht zu machen. Ansonsten ist alles wie immer.«
»Gut.«
Sie blieben am Rand des Marktes stehen und sahen zu, wie er sich leerte. Die Schausteller verriegelten ihre Fahrgeschäfte und Stände und tingelten zu ihren Wohnwagen. Die letzten Besucher erreichten die Parkplätze. Schließlich waren nur noch die Einsatzkräfte der Polizei vor Ort.
Schulte setzte sich noch einmal mit der Polizeistation in Verbindung, doch auch dort hatte sich nichts ereignet.
»Das war’s dann wohl«, sagte er und gab den Einheiten den Befehl, abzurücken. »Alles nur ein Mummenschanz. Oder ein Dummejungenstreich. Viel Lärm um nichts.«
»Sieht ganz danach aus«, grummelte Angersbach. »Und dafür die ganze Arbeit.«
Sabine nickte, verspürte aber einen nagenden Zweifel im Hinterkopf. »Vielleicht war die Drohung ernst gemeint, aber der Briefschreiber hatte keine Gelegenheit, sie in die Tat umzusetzen.«
Ralph verstand sie sofort. »Weil es Fuller war, der jetzt untergetaucht ist.«
Kriminaloberrat Schulte zuckte mit den Schultern. »Der Effekt ist derselbe, oder nicht? Es ist nichts passiert. Nur darauf kommt es an.«
»Trotzdem wäre mir wohler, wenn wir Fuller endlich festnehmen könnten und ein Geständnis hätten«, beharrte Kaufmann.
»Das wird schon.« Schulte klopfte ihr ein wenig unbeholfen auf den Arm. »Er wird in ganz Deutschland gesucht. Irgendwann muss er aus dem Rattenloch hervorkriechen, in dem er sich versteckt. Und dann kriegen wir ihn.«
Gemeinsam gingen sie über den Markt zur Straße. Eine Karawane von Polizeibussen rollte vorbei. Sie sahen ihnen nach, bis die letzten roten Rücklichter in der Finsternis verschwunden waren. Alle Geräusche waren verstummt, nun war es unwirklich still in Bad Vilbel. Zwölf Tage war dies das Zentrum des größten hessischen Volksfestes gewesen. Jetzt war es wieder eine friedliche Kleinstadt, in der sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.
»Mein Wagen steht auf dem Parkplatz dahinten«, verkündete Schulte und deutete nach Norden.
»Wir haben auf der anderen Seite geparkt.« Angersbach wies in die entgegengesetzte Richtung.
»Dann trennen sich unsere Wege hier.« Schulte reichte erst Sabine, dann Ralph die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz. Es war mir eine Freude, wieder einmal mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Der Kriminaloberrat tauchte in der Dunkelheit unter. Ralph und Sabine gingen zu Ralphs Lada. Er hielt ihr einladend die Tür auf. »Kommst du noch mit zu mir?«
»Nein.« Sabine hatte schon am Morgen ihre Sachen gepackt und im Kofferraum verstaut. »Setz mich bitte an der Polizeistation ab. Ich will heute Nacht mal wieder im eigenen Bett schlafen.«
»Meinst du, der Zoe hat noch genug Saft?«
»Ich fahre ihn direkt an die Ladestation. Die ist gleich bei mir um die Ecke. Den Rest kann ich laufen.«
»Okay.« Angersbach steuerte den Wagen schweigend durch die menschenleeren Straßen. Auch in der Polizeistation war alles dunkel. Die Kollegen waren wohl inzwischen auch gegangen, das Spezialeinsatzkommando abgerückt.
Ralph stoppte neben Sabines Zoe. Sie wollte die Tür öffnen, doch er hielt sie auf.
»Wir müssten ja schon mal irgendwann über den Kuss reden.«
Sabine hob die Augenbrauen. »Übers Küssen redet man nicht. Man tut es.«
Damit drückte sie die Klinke hinunter und sprang aus dem Wagen, ehe er etwas erwidern oder womöglich Taten folgen lassen konnte. Sie schnappte sich ihre Tasche aus dem Kofferraum, entriegelte den Zoe und setzte sich hinters Steuer.
Zum Glück sprang er an. Sie lenkte ihn eilig vom Parkplatz. Im Rückspiegel sah sie, dass Ralph ihr immer noch konsterniert hinterherblickte.
Die Fahrt nach Gießen hatte er wie in Trance zurückgelegt. Sein gesamter Körper fühlte sich irgendwie taub an. Er hatte das Autoradio laut aufgedreht, damit er nicht nachdenken musste. Dafür kam ihm die Stille im Treppenhaus jetzt umso erdrückender vor. Angersbach betrat die Wohnung und ging ins Wohnzimmer.
Das Sofa war ausgeklappt, die Decke und das Kissen, auf dem Sabine die letzten Nächte geschlafen hatte, lagen noch dort. Ralph nahm sie an sich, trug sie ins Schlafzimmer und verstaute sie im Bettkasten. Anschließend klappte er das Sofa wieder zusammen, öffnete eine Flasche Rotwein und setzte sich in den Sessel.
Er wollte gerade zur Fernbedienung greifen, um den Fernseher einzuschalten, als sein Handy vibrierte. Sein neues Smartphone, das
er zwangsweise hatte anschaffen müssen, nachdem man ihm das alte im Markttreiben gestohlen hatte. Zu seiner Überraschung hatte sich die Technik rasant weiterentwickelt; das Wischen auf dem Display, das er immer gehasst hatte, ging mit diesem Gerät so leicht, dass es ihm regelrecht Spaß machte. Rasch nahm er das Telefon aus der Tasche. Vielleicht war es Sabine, die dem schroffen Abschied noch etwas hinzufügen wollte? Wer sonst sollte ihn mitten in der Nacht anrufen?
Doch das Foto auf dem Display zeigte ein anderes Gesicht.
»Janine.« Angersbach nahm das Gespräch an wie einen Rettungsanker. Zum Glück hatte er die neue Handynummer sofort nach der Anschaffung des Geräts an alle Kontakte verschickt, die er in seinem handgeschriebenen Telefonbuch gefunden hatte. »Wie schön, dass du anrufst.«
»Hallo, Ralph.« Seine Halbschwester klang gut gelaunt und ein wenig verwundert. »Hast du mich vermisst?«
Ralph wollte es nicht vermasseln. Wenn er zu sehr klammerte oder gar väterlich wurde, würde Janine sich rasch wieder zurückziehen.
»Ich habe in den letzten Tagen ein paarmal an dich gedacht«, entgegnete er. »Wir ermitteln gerade in Bad Vilbel. Das erinnert mich an unsere Zeit in Okarben.«
»Du meinst, Sabine und du?«
»Ja.«
»Läuft da endlich was zwischen euch?«
Angersbach schluckte. Hatte Janine etwas gemerkt? Sie war doch schon seit Jahren weg, lebte in Berlin in ihrer WG
mit ihrem Morten.
Und mit dem sie nach Australien auswandern will,
schoss es Ralph schmerzlich durch den Kopf.
»Was bringt dich denn auf die Idee?«
»Ach, komm schon. Ihr habt euch doch schon damals so gezofft. So wie man es tut, wenn man nicht will, dass der andere merkt, dass man eigentlich etwas ganz anderes empfindet.«
»Aha?«
»Nun sag schon. Habt ihr es endlich kapiert?«
»Na ja.« Ralph wusste nicht so recht, was er sagen sollte. »Wir hatten einen netten Abend zusammen auf der Terrasse des Golfhotels. Und später, als wir bei mir waren, haben wir uns geküsst. Aber das war ein Versehen.«
»Ja, klar.« Janine lachte. »Ihr seid ja schlimmer als meine Jungs im Jugendknast. Die tun auch immer so, als wären sie zu cool, um irgendwas zu fühlen.«
Janine hatte dort ihr Soziales Jahr abgeleistet und arbeitete im Jugendgefängnis noch ehrenamtlich, während sie ihr Abitur nachholte.
»Du musst ihr zeigen, dass du sie willst«, erklärte seine Halbschwester. »Frauen erwarten so etwas.«
»Das ist ein bisschen schwierig. Ich bin da in etwas hineingeschlittert. Mit einer anderen Kollegin aus Bad Vilbel.«
»Ein One-Night-Stand?« Janine klang ungläubig. Das hatte sie ihm wohl nicht zugetraut. Es passte ja auch gar nicht zu ihm.
»Weiß Sabine davon?«
»Nein. Oder … vielleicht.«
»Was denn nun?«
»Es war in dem Hotel, in dem wir beide übernachtet haben. Kann sein, dass sie Cordula am nächsten Morgen gesehen hat.«
Janine stöhnte. »Na bravo.«
Ralph knirschte mit den Zähnen. Aber was sollte er sagen? Es war tatsächlich keine Meisterleistung gewesen. »Jedenfalls habe ich Cordula erklärt, dass es ein Ausrutscher war. Aber es spielt auch keine Rolle. Sabine ist ohnehin nicht interessiert. Sie hat selbst einen Verehrer.«
»Ach so? Wen denn?«
»Mirco Weitzel.«
Janine lachte herzlich. »Das glaubst du doch nicht wirklich?«
»Warum nicht?«
»Mirco ist überhaupt nicht ihr Typ. Und er will auch nichts von ihr. Er hat doch seit Jahren eine andere.«
Davon war Angersbach nichts bekannt. Er war immer davon ausgegangen, dass Weitzel Single war – und außerdem der Typ, der durch die Clubs zog und Frauen aufriss. Haben konnte er sie sicherlich alle, er war smart, sah gut aus und konnte flirten.
»Die Tochter eines Gutsbesitzers aus der Gegend, für den ein Polizist als Schwiegersohn nicht infrage kommt. Sie treffen sich heimlich.«
»Woher weißt du das?«
»Das hat er mir damals verraten, als ihr mich aus dieser Drogensache rausgeholt habt.«
Angersbach erinnerte sich nur ungern daran. Janine wäre beinahe den Kollegen von der Drogenfahndung bei einer Razzia in die Finger geraten, wenn Sabine und er nicht eingegriffen hätten. Weitzel hatte einen guten Draht zu Janine gehabt und ihr geholfen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
»Da bist du dir sicher?«
»Ja. Das ist die ganz große Liebe. Sie wollten es längst offiziell machen, haben aber irgendwie immer den richtigen Zeitpunkt verpasst.« Janine seufzte schwer, während Ralphs Herz heftig zu klopfen begann. »Na ja«, fuhr sie fort, »und jetzt ist ihr Vater schwer krank und hat nicht mehr lange zu leben. Deshalb wollen sie ihm die Enttäuschung wohl ersparen und einfach … abwarten. Schlimm, oder?«
Überhaupt nicht schlimm, hätte Ralph beinahe gedacht. Natürlich war es heftig, dass in modernen Zeiten wie diesen zwei Liebende auf Romeo und Julia machen mussten. Doch etwas anderes war viel wichtiger: Wenn das alles so war, mit Mirco Weitzels großer Liebe …
dann war Sabine frei, und er musste nicht gegen ihn antreten. Aber wahrscheinlich hatte er seine Chance verspielt, als er sich auf Cordula Scherer eingelassen hatte.
»Interessant. Und wie geht es dir?«
Janine schnaubte leise. Sie hatte gemerkt, dass er ihr auswich, aber sie hatte offensichtlich auch etwas, das ihr unter den Nägeln brannte. Sonst hätte sie wohl kaum mitten in der Nacht bei ihm angeklingelt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits nach zwei war, eine selbst für Janine ungewöhnliche Zeit für einen Anruf. Aber eine Katastrophe hatte sich offensichtlich nicht ereignet, so entspannt und beschwingt, wie sie klang. So als hätte sie schon ein paar Gläser intus und sich keine Gedanken über die unpassende Uhrzeit gemacht, fiel ihm jetzt auf.
»Deswegen rufe ich an«, erklärte sie aufgekratzt. »Morten hat mir einen Ring geschenkt.«
»Aha?« Ralph fand das keine so bemerkenswerte Neuigkeit, dass es einen Anruf zu nachtschlafender Zeit rechtfertigte. »Wertvoll?«
»O ja. Sehr.« Sie kicherte. »Einen Verlobungsring.«
Angersbach musste schlucken. Seine Kehle war plötzlich ganz eng.
»So?« Etwas Blöderes hätte er nicht antworten können, dachte er, aber irgendwie fehlten ihm die Worte. Umso redseliger zeigte sich Janine.
»Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht«, verkündete sie mit einer Leichtigkeit, die so gar nicht zu dem Deathmetal hörenden Teenager passte, der sie einmal gewesen war. »Ganz romantisch. Er hat ein Boot gemietet und ist mit mir auf den Wannsee rausgerudert. Und dann hat er sich vor mich hingekniet und mich gefragt, ob ich seine Frau werden will.« Sie machte eine kleine dramatische Pause. »Na ja. Und ich habe natürlich Ja gesagt.«
»Glückwunsch«, presste Ralph hervor.
»Wir heiraten in Australien«, sprudelte seine Halbschwester weiter.
»Mortens ganze Familie wird dabei sein. Du kommst doch auch?«
»Nach Australien?«
»Ja, klar. Ich erwarte von dir, dass du dabei bist.« Sie hüstelte. »Wenn du willst, kannst du Sabine mitbringen.«
Das ging ihm nun alles viel zu schnell.
»Schauen wir mal. Es wird ja nicht schon nächsten Monat sein?«
»Nein. Nächstes Jahr. Aber ich dachte, ich warne dich rechtzeitig vor. Ich weiß ja, wie viel Zeit du immer brauchst, bis du dich auf Veränderungen eingestellt hast.«
Das Gespräch wurde Ralph zunehmend unangenehm. »Bis dahin kann ja noch einiges passieren«, blieb er vage.
»Das hoffe ich doch«, sagte sie verschwörerisch. Im Hintergrund war ein Klappern zu hören, dann das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde. »Oh, ich muss Schluss machen. Morten kommt zurück. Er war schnell beim Kiosk, um neuen Sekt zu holen. Wir wollen noch weiterfeiern.«
»Viel Spaß«, sagte Ralph steif.
»Den werden wir haben. Also, bis bald.« Es knackte, dann war die Verbindung getrennt. Angersbach starrte auf das Telefon in seiner Hand. Einen Moment leuchtete noch Janines Foto. Dann wurde das Display schwarz.
Ralph warf das Handy aufs Sofa und schenkte sich Rotwein ein. Das erste Glas trank er in einem Zug leer. Gegen den Gedanken, der sich schmerzlich in seinem Kopf nach vorn drängte, half es nicht.
Warum mussten alle Frauen, die ihm etwas bedeuteten, weglaufen?