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S
ie fuhren noch am selben Abend nach Berlin. Für einen Besuch im Stasiarchiv war es bereits zu spät, doch wenn sie in der Hauptstadt übernachteten, waren sie am nächsten Morgen gleich vor Ort. Außerdem, hatte Sabine vorgeschlagen, konnten sie dann den Abend mit Janine verbringen. Angersbach, der seine Halbschwester bisher nicht ein einziges Mal in ihrer neuen Heimat besucht hatte, hatte sich gesträubt, doch Kaufmann hatte ihm keine Chance gelassen, sondern erst Ruhe gegeben, als er sein Smartphone zur Hand genommen und Janine angerufen hatte.
»Du bist in Berlin? Wie cool.« Seine Halbschwester freute sich riesig. »Dann kannst du endlich Morten kennenlernen.«
Was der Grund war, warum er sich bisher vor einem Besuch gedrückt hatte. Er wollte dem Mann nicht begegnen, der plante, Janine ans andere Ende der Welt zu entführen.
»Wir sind im A.HORN
«, sagte Janine und erklärte ihm, welche U-Bahn-Linie sie nehmen mussten, um dorthin zu kommen. Ralph gab die Informationen an Sabine weiter, die bereits den Plan auf ihrem Smartphone geöffnet hatte.
»Das finden wir.« Sie hob den Daumen.
Ralph fügte sich in sein Schicksal. »Also, in einer halben Stunde, okay?«
Er ließ sich von Sabine mitziehen, durch endlos lange unterirdische Katakomben, auf Bahnsteige, deren Wände von Graffiti übersät waren, in überfüllte U-Bahn-Wagen. Es gefiel ihm nicht, es war zu voll, zu laut,
zu hektisch. Ständig wurde gedrängelt, fremde Menschen kamen ihm zu nah. Ihm war schon Frankfurt zu groß, doch dorthin fuhr er zumindest mit dem eigenen Wagen, wenn es sein musste. Aber Kaufmann hatte sich geweigert, die Strecke nach Berlin in seinem Lada zurückzulegen. Also waren sie mit dem ICE
gefahren. Das Hotel befand sich direkt am Hauptbahnhof, der in seinen Dimensionen fast an einen Flughafen erinnerte. Angekommen waren sie unter der Erde; die S-Bahn, mit der sie das erste Stück in die Stadt zurücklegten, fuhr oberirdisch.
Das A.HORN
befand sich in Kreuzberg, direkt am Landwehrkanal. Sie stiegen an der U-Bahn-Haltestelle Prinzenstraße aus und überquerten den Kanal. Kaufmann sah sich um.
»Schön hier. Dieses Flair. Hat etwas von Aufbruchsstimmung, findest du nicht? Man fühlt sich viel lebendiger als in Frankfurt oder Wiesbaden.«
Angersbach sah sie verwundert an. Er empfand nichts dergleichen. Nur ein Rumoren in der Magengegend und eine unangenehme Enge in der Kehle.
Wann hatte er Janine zuletzt gesehen? Es musste Weihnachten gewesen sein; sie war gekommen, um den ersten Weihnachtstag mit ihm und seinem Vater zu verbringen. Endlich war es einmal so, wie Ralph es sich wünschte, sie drei in Gründlers schönem Haus im Vogelsberg vor dem Kamin, jeder mit einem Punsch in der Hand, die Füße hochgelegt. Seine kleine Familie. Morten war bei seinen Eltern in Australien, und es hatte keine Mühe gekostet, Janine zu überreden, noch ein paar Tage zu bleiben. Erst am Tag vor Silvester war sie zurück nach Berlin gefahren, um Morten vom Flughafen abzuholen.
Kaufmann strebte auf die Tür des Lokals zu. Es lag direkt an der Straßenecke. Bunt zusammengewürfelte Tische und Stühle standen davor. Etliche Leute saßen noch draußen, obwohl es schon dunkel war und nicht mehr besonders warm. Janine konnte er nicht entdecken.
Der Gastraum war nicht besonders groß. Dunkle Holztische standen gedrängt und für Angersbachs Geschmack viel zu dicht beieinander. Widerwillig folgte er Kaufmann, die sich geschickt zwischen den Stühlen hindurchschlängelte.
Dann endlich sah er Janine. Sie hatte einen Platz in der Ecke am Fenster mit Blick auf den Kanal ergattert. Zwei junge Männer saßen rechts und links neben ihr, der eine groß, blond und sportlich, der andere klein und rundlich, mit braunen Haaren, die ihm in die Stirn hingen, und einer dicken Brille. Ralph betrachtete den Blonden widerwillig. Er hatte es ja geahnt. Morten war der Typ cooler Sonnyboy, neben dem er selbst sich immer besonders unbeholfen und behäbig vorkam. Genau deswegen hatte er ihn lieber gar nicht erst kennenlernen wollen.
Janine sprang auf, als sie ihn entdeckte. Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn herzlich.
»Ralph. Das ist so toll, dass du da bist.« Sie begrüßte auch Sabine, mit einer Umarmung und zwei gehauchten Küssen auf die Wange. Dann zeigte sie auf die beiden Männer.
»Das ist Morten.« Sie strahlte.
Der kleinere der beiden stand auf und strich sich die braunen Haare aus der Stirn.
»Hi«, sagte er. »Du bist also Janines großer Bruder? Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.«
Angersbach blinzelte. Seine Augen huschten zwischen den beiden Männern hin und her.
»Du bist Morten?«
»Ja.«
Ralph fiel ein Stein vom Herzen. Der junge Mann wirkte offen, freundlich und bescheiden. Keiner, neben dem er sich blöd vorkam. Im Gegenteil war er ihm auf Anhieb sympathisch.
»Freut mich.« Er schüttelte Morten die Hand. Dann deutete er auf
den Sonnyboy. »Und wer ist das?«
»John«, sagte Morten. »Ein Kommilitone von mir. Ich habe ihn mitgebracht, weil Janine gesagt hat, ihr interessiert euch für alte Stasiakten. John macht gerade ein Praktikum im Zentralarchiv. Vielleicht kann er euch weiterhelfen.«
»Super.« Auch Sabine begrüßte die beiden Männer. »Aber erst mal will ich was essen.«
Sie setzten sich und bestellten jeder ein Nudelgericht von der Tafel an der Wand, auf der die Tagesgerichte mit Kreide angeschrieben waren, dazu Berliner Weiße mit Schuss.
»Wenn man schon mal hier ist …« Kaufmann grinste.
»Wir trinken das auch gern«, sagte Morten und griff nach Janines Hand. Angersbach sah die beiden identischen Ringe an ihren Fingern. Morten trug ihn rechts, Janine links. Ralph betrachtete das Paar und musste zugeben, dass sie gut zueinanderpassten. Offensichtlich tat Morten Janine auch gut. Sie sah entspannt aus, erwachsener und in sich ruhender, als er es jemals erwartet hätte.
Nachdem sie gegessen hatten, orderte Kaufmann eine Flasche Sekt. »Wir müssen doch auf eure Verlobung anstoßen.«
Ralph wartete auf das Grummeln im Magen, das ihn bei dieser Vorstellung jedes Mal befiel, doch es blieb aus. Stattdessen verspürte er etwas anderes. Er freute sich für seine Halbschwester. Sie hatte gefunden, wonach er bisher vergeblich gesucht hatte. Aus dem Augenwinkel schaute er zu Sabine. Würden sie beide jemals so einträchtig nebeneinandersitzen wie Janine und Morten? Wenn er sich weiterhin so ungeschickt anstellte wie bisher, sicherlich nicht.
Der Sekt kam, und Sabine, Ralph und John brachten jeder einen Toast auf das junge Glück aus. Anschließend gab ihnen John einen Überblick über die Arbeit des Stasiarchivs.
»Es ist unfassbar. Millionen von Akten. Die haben damals fast jeden beobachtet und alle Informationen gesammelt, die sie bekommen
konnten. Das meiste befindet sich hier im Zentralarchiv, aber es gibt auch Außenstellen. Viele Dokumente finden sich auf Mikrofiche, und wir haben die entsprechenden Lesegeräte im Archiv. Von einigen existieren auch digitale Kopien, aber das meiste ist noch auf Papier. Es ist erstaunlich, wie die es damals geschafft haben, den Überblick zu behalten.« Seine Miene verfinsterte sich. »Es muss schrecklich gewesen sein, in diesem Land zu leben. Ständig bespitzelt und immer mit der Angst, plötzlich verhaftet zu werden, weil man etwas Falsches gesagt hat, oder einfach weil einen der Nachbar nicht leiden konnte. Aber das Furchtbarste sind die Zwangsadoptionen. Da haben sie den Leuten einfach ihre Kinder weggenommen.«
Angersbach erinnerte sich, dass man das Markus Fuller angetan hatte, nach der missglückten Flucht mit seinem Vater. Die Mutter und ein Freund der Familie hatten es in den Westen geschafft, aber sein Vater war ins Gefängnis gekommen und dort gestorben, und Fuller war von fremden Menschen adoptiert worden, so jedenfalls hatte ihnen Horst Schulte die Geschichte erzählt.
Der Gedanke an Schulte bedrückte ihn. Es kam ihm mit einem Mal falsch vor, hier zu sitzen und sich einen schönen Abend zu machen, während der Mörder seines ehemaligen Vorgesetzten frei herumlief.
»Lass uns zurück ins Hotel fahren, ja?«, sagte er zu Sabine. »Ich bin müde.«
Janine und die beiden jungen Männer wirkten enttäuscht.
»Ich dachte, wir ziehen noch um die Häuser«, äußerte seine Halbschwester.
»Vielleicht morgen. Wenn wir den Fall gelöst haben.«
Sie verabschiedeten sich herzlich und machten sich dann auf den Weg zum Hotel, mitten hindurch durch das Berliner Nachtleben. Überall um sie herum pulsierte es. Nur in Ralphs Innerem schien alles erstarrt.