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J ohn erwartete sie vor dem Eingangsportal des Zentralarchivs. Daneben war auf einem Schild mit dem Bundesadler zu lesen: »Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«. Der Student winkte, als er Ralph und Sabine entdeckte.
Janine hatte angerufen, als sie im Hotel beim Frühstück saßen, und ihnen angeboten, dass sich John als persönlicher Guide zur Verfügung stellen würde. Angersbach hatte abgewehrt.
»Danke. Wir haben eine offizielle Genehmigung. Das sollte reichen, um alles zu bekommen, was wir brauchen.«
Doch Janine ließ nicht locker. »Diese Akten sind richtig dick«, argumentierte sie. »Um einen Überblick zu bekommen, sieht man sich am besten zuerst die Mikrofiches an. Das ist umständlich, da könnt ihr jede Hilfe gebrauchen, die ihr bekommen könnt.«
Ralph, der das Telefon auf laut gestellt hatte, warf Sabine einen fragenden Blick zu. Sie beugte sich vor und sagte: »Das wäre toll, Janine. Je eher wir etwas finden, desto besser.«
Angersbach hatte sich der geballten Frauenpower gefügt.
»Trotzdem weiß ich nicht, ob das richtig ist«, bemerkte er jetzt, als sie auf John zugingen. »Das ist immerhin eine offizielle Ermittlung. Dabei haben Privatpersonen nichts verloren.«
Kaufmann stimmte ihm grundsätzlich zu, doch in diesem Fall war sie bereit, eine Ausnahme zu machen. Dass diese ganze DDR -Geschichte überhaupt mit den Morden an Roth und Schulte zusammenhing, war ja bisher nicht mehr als eine vage Hypothese. Sollte sich herausstellen, dass das Motiv tatsächlich in Fullers Vergangenheit lag, sähe die Sache anders aus. Aber dann konnte man John immer noch zum Stillschweigen verpflichten.
Ihre Toleranz wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt, als John sie ins Foyer des Zentralarchivs führte. Dort saßen Janine und Morten auf einer Bank und küssten sich. Als sie Ralph und Sabine entdeckten, standen sie auf und kamen auf sie zu.
»Wir dachten, je mehr Hilfe ihr habt, desto schneller geht es«, verkündete Janine. Angersbach warf Sabine einen Blick zu, der wohl so viel heißen sollte wie: »Ich habe es dir ja gleich gesagt.« Doch jetzt war es zu spät, um die Entscheidung rückgängig zu machen. Sie wollte Ralphs Halbschwester und ihren Freund nicht vor den Kopf stoßen.
Gemeinsam mit den dreien gingen sie zum Empfang, wiesen sich aus und trugen ihr Anliegen vor. Die Frau hinter dem Tresen, Ende fünfzig bis Anfang sechzig, füllig und mit einer Frisur, die seit wenigstens zwanzig Jahren aus der Mode war – gerader Pony, hinten knapp kinnlang und ohne Stufen –, strahlte John an.
»Ich sehe, Sie haben einen fachkundigen Führer dabei«, sagte sie zu Kaufmann und Angersbach. »Das ist gut.«
John zwinkerte der Frau zu und führte die kleine Gruppe dann in die Tiefen des Zentralarchivs.
»So.« Er rieb sich in freudiger Erwartung die Hände. »Was suchen wir?«
»Markus Fuller«, erklärte Angersbach. »Er muss Mitte bis Ende der Achtzigerjahre versucht haben, aus der DDR zu fliehen, gemeinsam mit seinem Vater. Die Flucht ist missglückt. Der Vater wurde verhaftet, Fuller zwangsadoptiert.«
»Also ist Fuller nicht sein Geburtsname?«
»Nein. Vermutlich nicht.« Sabine lächelte. Vielleicht war es doch nicht so dumm, die jungen Leute dabeizuhaben. Sie selbst hatten so weit noch nicht gedacht.
John setzte sich an einen Computer und scrollte durch Datensätze. Es dauerte eine ganze Weile. Dann drehte er sich zu ihnen um.
»Tut mir leid. Ich finde hier nichts.« Er legte die Stirn in Falten. »Ist das denn sein richtiger Name? Manchmal haben die neuen Eltern den Kindern andere Namen gegeben. Könnte es sein, dass er später den Namen wieder angenommen hat, den ihm seine richtigen Eltern gegeben haben?«
Kaufmann und Angersbach waren überfragt.
»Okay. Ich versuche etwas anderes.« John tippte wieder auf der Tastatur, und neue Listen erschienen auf dem Monitor.
»Ah. Da haben wir ihn ja.« Er vertiefte sich in ein Dokument. Schließlich blickte er auf.
»Markus Fuller hat in der Tat einen Fluchtversuch unternommen, gemeinsam mit einem Freund namens Robby. Die beiden wollten in den Westen schwimmen. Sie haben ihre Sachen wasserdicht verpackt und sind bei Nacht und Nebel in die Ulster bei Unterbreizbach gestiegen. Sie hatten aber Pech. Ein Wachposten hat sie entdeckt. Die beiden wurden festgenommen. Man hat sie zu zwei Jahren Jugendarrest verurteilt.«
Angersbach runzelte die Stirn. Auch Kaufmann war verblüfft. Das war nicht die Geschichte, die ihnen Horst Schulte erzählt hatte.
»Was war mit dem Vater?«
John scrollte in seinem Dokument weiter nach unten.
»Linientreu. Die ganze Familie. Markus war offenbar so etwas wie das schwarze Schaf.«
»Der Vater hat also keinen Fluchtversuch unternommen? Er war nicht im Gefängnis?«
»Moment.« Wieder klickte sich John durch eine Reihe von Dateien. Sabine war mittlerweile sehr froh, dass sie ihn dabeihatten. Allein hätten sie nicht so schnell etwas herausgefunden.
»Ah. Hier.« John schaute auf. »Die Eltern leben nicht mehr. Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. 1998.«
Neun Jahre nach der Maueröffnung also.
Sabine schaute Ralph an und seufzte. So viel zu ihrer DDR -Spur.
»Verdammt.« Angersbach schnaufte ärgerlich. »Schulte hat sich getäuscht. Wir hätten uns die ganze Fahrt nach Berlin sparen können.«
»Das wäre aber schade gewesen«, lächelte Janine.
»Wie seid ihr denn überhaupt auf die Idee gekommen?«, erkundigte sich Morten. Sabine erklärte es ihm.
Janines Verlobter legte die Stirn in Falten. »Das heißt, die Geschichte stimmt. Aber der Mann war nicht der richtige. Ihr Kollege hat sich geirrt, als er geglaubt hat, ihn wiederzuerkennen.«
»Offensichtlich.« Eine Idee durchzuckte Sabine. Verrückt. Oder doch nicht? Sie dachte daran, wie Johannes Lohmann aus seinem Wohnwagen gestiegen war, mit den zerrissenen Jeans und dem schmuddeligen T-Shirt. Was, wenn er es gewesen war, den sie einige Tage zuvor als Chip-Einsammler am Kettenkarussell gesehen hatte? Der Schausteller kam aus Jena. Vielleicht gab es eine alte Verbindung? Das könnte bedeuten, dass Lohmann ebenfalls aus der DDR stammte. Vielleicht hatte Schulte die beiden Eventmanager verwechselt?
»Schau doch mal, ob du etwas über einen Johannes Lohmann findest«, bat sie John.
»Klar.« Der Jurastudent bearbeitete wieder die Tastatur. Ralph, Sabine, Janine und Morten warteten gespannt.
»Hey.« Morten drehte sich zu Sabine um und grinste. »Du bist gut. Da haben wir was. Es gibt eine Akte. Zu einer Zwangsadoption. Walter und Margot Lohmann haben 1985 einen Jungen adoptiert. Der Name ist hier mit Johannes angegeben.«
Sabine lief ein Schauer über den Rücken.
»Weshalb wurde er zwangsadoptiert?«
»Das steht hier nicht. Wir müssen uns die Akte herausgeben lassen.«
Sie gingen zurück zu der Frau am Empfang mit der altmodischen Frisur.
»Ich lasse sie euch auf Mikrofiche kommen«, versprach sie. »Das kann allerdings eine Weile dauern. Am besten geht ihr erst mal einen Kaffee trinken.«
John übernahm die Führung, und die jungen Leute genehmigten sich ein Frühstück, während es Ralph und Sabine bei einer Tasse Kaffee – schwarz natürlich – bewenden ließen. Sabine erklärte den anderen ihren Gedankengang.
Morten sah sie beeindruckt an. »Das war gut kombiniert.«
»Warten wir es ab«, dämpfte Kaufmann die Begeisterung. »Noch wissen wir ja nur, dass es eine Zwangsadoption gab. Ob tatsächlich eine missglückte Flucht dahintersteckt …«
Das Piepen eines Handys unterbrach sie. John zog sein Smartphone hervor. »Ah. Conny hat mir eine SMS geschickt. Wir können uns die kleinen Fische jetzt ansehen.«
»Kleine Fische?« Angersbach blickte verständnislos.
»Mikro-Fisch«, erklärte Janine und prustete. »Ganz alter Witz. Aber immer noch gut.«
Ralph rang sich ein Lächeln ab. Sabine grinste. Ihr gefiel das Wortspiel.
John führte sie in den Saal mit den Lesegeräten. Ein Mitarbeiter des Zentralarchivs brachte ihnen die Mikrofiches. Es war ein ganzer Karton voll.
»Ach du liebe Güte«, stöhnte Angersbach. »Das wird ewig dauern, bis wir die alle durchgesehen haben.«
»Deswegen sind wir ja mitgekommen«, blinzelte Janine ihm zu. »So muss sich jeder nur ein Fünftel des Materials anschauen.«
»Also los.« John verteilte den Inhalt der Schachtel auf die Gruppenmitglieder, und alle nahmen hinter einem Lesegerät Platz.
Morten entdeckte als Erster etwas. »Hier. Die leiblichen Eltern von Johannes Lohmann heißen Jürgen und Maria Krawitz. Johannes ist auch nicht sein Geburtsname. Seine Eltern haben ihn Rico getauft.«
Angersbach blickte Kaufmann an und pfiff leise durch die Zähne.
»Was ist mit dem Vater passiert?«, fragte sie.
»Das steht hier nicht.« Morten nahm den Mikrofiche aus dem Lesegerät und legte einen neuen ein.
»Versuchte Republikflucht«, meldete sich Janine von der anderen Seite. »Er kam ins Gefängnis und ist dort wenige Monate später verstorben. Angeblich ein Hirnschlag. Aber man weiß ja, wie so etwas läuft.«
»Wie denn?«, fragte Ralph.
Seine Halbschwester verdrehte die Augen. »Die Stasi hatte Mittel und Wege, Personen, die ihr nicht genehm waren, zu liquidieren. Offiziell hieß es dann Hirnschlag oder Lungenentzündung oder dergleichen. In Wirklichkeit hat man den Leuten wahrscheinlich eine Spritze verpasst oder sie einfach totgeprügelt.«
Sabine konnte nicht beurteilen, ob das so war oder nicht, dazu wusste sie zu wenig über die Vorgehensweise der Staatsmacht in der DDR . Aber vorstellbar war es.
»Da steht auch, wer die Information über die geplante Flucht an die Stasi weitergegeben hat. Ein Mann namens Eckard Roth.«
Ralph und Sabine sahen sich an. Das war die Verbindung, nach der sie gesucht hatten.
»Hast du da auch etwas über die Mutter?«, erkundigte sich Kaufmann.
»Die ist tatsächlich geflohen. Gemeinsam mit einem Freund der Familie. Ich habe das Dokument hier«, verkündete John. Ralph und Sabine standen auf. Sie stellten sich hinter ihn und blickten über seine Schulter auf den Monitor des Lesegeräts.
Als sie den Namen lasen, stockte ihnen beiden der Atem.
Zwölf Stunden zuvor
Eigentlich wollte er fernsehen, doch er konnte sich nicht konzentrieren. In seinem Hinterkopf rumorte es. Es hatte mit dem Mann von der Eventagentur zu tun, der auf der Trauerfeier für Horst Schulte in der zweiten Reihe gesessen hatte. So ein Gefühl, als sei er ihm schon einmal begegnet. Nicht in jüngerer Zeit, aber irgendwann vor vielen Jahren. Da war so etwas Vertrautes in seinen Zügen. Etwas, das ihn an jemanden erinnerte.
Er ging zu dem Schrank, in dem er seine Hausbar verwahrte, und schenkte sich einen Cognac ein. Manchmal beförderte ein wenig Alkohol das Denken.
Voller Unrast lief er durch das Haus, das Glas in der Hand. Vom Wohnzimmer in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohnzimmer. Er öffnete die Terrassentür und schaute hinaus in die Dunkelheit.
Da war ein Bild in seinem Kopf, das sich nicht richtig formieren wollte. An wen, um alles in der Welt, erinnerte ihn dieser Mann? Wenn er nur wüsste, wie er ausgesehen hatte, als er jünger gewesen war.
Irgendwo im Garten raschelte etwas. Ihm war, als husche ein dunkler Schatten über das Grundstück. Eine Katze? Oder ein Waschbär? Er sollte wohl besser hineingehen und die Tür schließen, doch er hatte das Gefühl, dass die kühle Luft ihm guttat.
Er schaute hinauf in den sternenklaren Himmel, an dem ein dicker, gelber Vollmond hing. Trank noch einen Schluck aus seinem Glas und genoss die Wärme, als der Cognac seine Kehle hinunterlief. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Die Frau, an die ihn der Mann erinnerte, war Maria.
Und der Mann war Rico, Marias Sohn.
Rico war damals zurückgeblieben, als er mit Maria in den Westen geflohen war. Eigentlich hätten Rico und dessen Vater, sein Freund Jürgen, mitkommen sollen. Aber sie waren nicht rechtzeitig am Treffpunkt erschienen. Er hatte bei seiner Einheit den Panzerwagen gestohlen, und Maria war wie vereinbart zugestiegen. Von Jürgen und Rico fehlte jedoch jede Spur. Und Horst Schulte auf der anderen Seite hatte gedrängt, über das Funkgerät im Panzerwagen, das sie auf einer anderen Frequenz benutzten als gewöhnlich, doch ein Risiko war es trotzdem. Das Zeitfenster war eng. Je länger sie warteten, desto größer war die Gefahr, dass man sie entdeckte. Dann wäre alles umsonst gewesen. Also war er losgefahren.
Wieder raschelte es, ganz in seiner Nähe dieses Mal. Dann teilten sich die Zweige des Gebüsches neben der Terrasse, und ein Mann trat heraus.
»Hallo, Onkel Dranko«, sagte Rico.
Er wollte weglaufen, zurück ins Haus, die Tür zuschlagen und die Vergangenheit aussperren. Doch das wäre keine gute Idee gewesen. Rico hatte eine Pistole in der Hand und richtete sie auf seine Brust.
»Ich wollte dich einladen«, sagte er. »Zu einem kleinen Ausflug. Du kommst doch mit?«
Er schluckte und versuchte Rico nicht sehen zu lassen, dass er am ganzen Leib zitterte. »Ja. Wo soll es denn hingehen?«
Ricos Augen funkelten wie Katzenaugen im Licht der Wohnzimmerlampe, das auf die Terrasse fiel.
»Das wirst du dann schon sehen, Onkel Dranko.«
Konrad Möbs.
Sabine Kaufmann starrte den Namen auf dem Bildschirm an und konnte es nicht fassen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.
Warum hatte ihr ehemaliger Vorgesetzter nichts gesagt? Er musste Johannes Lohmann in den letzten Tagen doch begegnet sein.
Hatte er ihn nicht erkannt? Oder hatte er ihn ebenso verwechselt wie Schulte? Hatte er ebenfalls geglaubt, dass nicht Lohmann, sondern Fuller der Mann war, der für die Morde verantwortlich war? Und was war mit Lohmann? Weshalb hatte er Roth und Schulte getötet, jedoch nicht Möbs? Wenn ihre Vermutung stimmte und die Morde tatsächlich etwas mit der alten DDR -Geschichte zu tun hatten. Aber sie konnte kaum glauben, dass es anders war.
Angersbach zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte auf einen Kontakt. Er stellte das Telefon auf laut. Kaufmann hörte das Klingeln, doch niemand nahm ab. Schließlich schaltete sich die Mailbox ein. Die Stimme von Konrad Möbs erklang und forderte dazu auf, eine Nachricht zu hinterlassen.
»Herr Möbs? Ralph Angersbach hier. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Johannes Lohmann der Mörder von Eckard Roth und Horst Schulte ist. Lohmann hieß ursprünglich Rico Krawitz. Er ist der Sohn der Frau, mit der Sie 1985 aus der DDR geflohen sind. Wir gehen davon aus, dass er Roth und Schulte dafür verantwortlich macht, dass seinem Vater und ihm die Flucht nicht gelungen ist. Sein Vater ist im Gefängnis gestorben, Rico wurde zwangsadoptiert.« Angersbach stockte. »Das wissen Sie vermutlich alles.« Er schaute Kaufmann Hilfe suchend an. Sie beugte sich vor.
»Melden Sie sich bitte bei uns«, sagte sie in Ralphs Smartphone. »Es könnte sein, dass Krawitz – also Lohmann – sich auch an Ihnen rächen will.«
Angersbach drückte das Gespräch weg und wählte den nächsten Kontakt.
»Mirco? Ist Möbs bei euch?«
»Möbs?« Mirco Weitzel lachte abfällig, was überhaupt nicht zu ihm passte. »Der zieht doch neuerdings die bessere Gesellschaft vor. Darf jetzt, nachdem Schulte nicht mehr da ist, bei all den wichtigen Personen im Stadtmarketing den dicken Max markieren.«
Sabine nahm Ralph das Telefon aus der Hand. »Mirco? Das ist nicht komisch. Es könnte sein, dass der Täter auch Möbs töten will.« Sie erläuterte ihm die Zusammenhänge. Weitzel gab einen verblüfften Laut von sich.
»Unser Möbs? Ich fasse es nicht.«
»Kümmert ihr euch darum? Schickt jemanden zu ihm nach Hause und zum Büro des Stadtmarketings. Wir müssen ihn finden. Solange wir Lohmann nicht haben, braucht er Polizeischutz.«
»Klar. Wird erledigt.«
»Danke.« Sie drückte auf das rote Hörersymbol, wählte eine neue Nummer und tippte auf den grünen Hörer. Schon nach dem ersten Klingeln war sie mit der Staatsanwaltschaft Frankfurt verbunden. Sie legte der zuständigen Staatsanwältin die Lage dar und beantragte einen Haftbefehl. Dr. Johanna Freier versprach, sich darum zu kümmern. Kaufmann verabschiedete sich und rief im Frankfurter Polizeipräsidium an. Sie bat darum, jeweils ein Team zur Eventagentur und zu Lohmanns Wohnung zu schicken, um ihn festzunehmen. Sollten sie ihn nicht antreffen, musste er umgehend zur Fahndung ausgeschrieben werden. Die Kollegen sicherten die sofortige Erledigung zu.
Sabine verabschiedete sich und gab Ralph das Telefon zurück. »Wir müssen so schnell wie möglich nach Bad Vilbel.«
»Ich fahre euch.« John zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und schwenkte es. »Zum Bahnhof, meine ich. Mein Wagen steht auf dem Parkplatz hinter dem Zentralarchiv.«
»Also los.«
Sie eilten durch die langen Gänge nach draußen.
Johns Auto war ein alter VW -Bus. Ralph wollte sich von Janine und Morten verabschieden, doch seine Halbschwester wehrte ab.
»Wir kommen mit«, verkündete sie. »Und unterwegs erklärt ihr uns die ganze Geschichte. Ich habe höchstens die Hälfte verstanden.« Ihre Wangen glühten. »Das ist ja wie in einem Thriller.« Sie schaute Ralph bewundernd an. »Echt. Ich hätte nicht gedacht, dass dein Job so spannend ist.«
Angersbach knurrte nur. Das hier war kein Abenteuer, auch wenn es Janine so vorkommen mochte. Immerhin stand ein Menschenleben auf dem Spiel. Sabine hatte Möbs zwar nie gemocht; er hatte sie von Anfang an abgelehnt und Ralph und ihr beständig Steine vor die Füße geworfen. Doch dass ihm jemand die Kehle durchschnitt, hatte er nicht verdient.
Ganz kurz schoss ihr die Frage durch den Kopf, welchen Körperteil Lohmann ihrem ehemaligen Vorgesetzten wohl abschneiden würde, wenn er ihn in die Finger bekam. Bei Roth war es die Zunge, bei Schulte waren es die Augen. Und bei Möbs? Sabine schob den Gedanken eilig beiseite. Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen.
Cordula Scherer rief auf Angersbachs Handy an, als sie im untersten Stockwerk des Berliner Hauptbahnhofs auf dem Gleis standen und auf den ICE Sprinter nach Frankfurt warteten.
»Möbs ist nicht im Büro des Stadtmarketings«, verkündete die DEG -Beamtin. »Er sollte eigentlich heute Vormittag zu einer Sitzung erscheinen, aber er ist nicht gekommen.«
»Hat er sich abgemeldet?«, erkundigte sich Angersbach.
»Negativ«, erwiderte Scherer. Sie klang förmlich, und Ralph fragte sich für einen Moment, ob es am Ernst der Situation lag oder an der Abfuhr, die er ihr erteilt hatte.
»Wir haben mit allen gesprochen, die hier sind. Kirsten Gerlach, Lothar Trautwein und die Leute vom TÜV und vom Bauamt. Da herrscht ein ziemlicher Trubel. Die Hydra war nicht das einzige Fahrgeschäft, bei dem Teile durchgerostet waren. Mindestens fünf weitere Karussells genügen nicht den Sicherheitsbestimmungen. Wir können froh sein, dass auf dem Vilbeler Markt nicht mehr passiert ist.«
»Verdammt. Kümmert ihr euch darum?« Ralph machte es wütend, wie in diesem Fall aus Profitgier Menschenleben aufs Spiel gesetzt worden waren, doch wirklich einlassen konnte er sich auf diese Geschichte jetzt nicht. Zu sehr drängte es ihn, herauszufinden, wo Möbs war. Er drückte Cordula weg, ehe sie antworten konnte. Wahrscheinlich würde sie ihm auch das übel nehmen. Es war ihm egal.
Der ICE fuhr ein, und sie verabschiedeten sich von Janine, Morten und John.
»Kommt mal wieder vorbei«, sagte seine Halbschwester. »Und ruf mich an, wenn ihr den Fall gelöst habt. Ich will unbedingt wissen, ob dieser Rico Krawitz tatsächlich der Mörder war.«
»Klar, machen wir«, versprach Ralph. Auch wenn es ihm nicht gefiel; Janines Freunde hatten ihnen einen großen Dienst erwiesen, also verdienten sie wohl auch eine Erklärung.
Das elektronische Piepen kündigte das Schließen der Türen an. Ralph und Sabine traten einen Schritt zurück. Durch die Scheibe winkten sie Janine und den beiden Männern, bis der Zug ausgefahren war. Dann begaben sie sich zu ihren Sitzplätzen. Zum Glück hatte Sabine mit ihrer App reserviert. Der Zug war brechend voll. Ralph hätte keine Lust gehabt, vier Stunden lang zu stehen.
Als sie saßen, zog er sein Smartphone hervor. »Was ist mit Weitzel? Warum meldet er sich nicht?«
Sabine legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Wenn ich mich richtig erinnere, wohnt Möbs irgendwo in der Nähe von Florstadt. Das ist ein Stück zu fahren. Sie können noch gar nicht da sein.«
Ralph atmete einmal tief durch und steckte das Smartphone wieder weg. Dann schloss er die Augen. Er spürte noch die Wärme von Sabines Hand auf seinem Arm. Angenehm, genauso wie hier so dicht neben ihr zu sitzen, näher noch als in seinem Wagen, und ausnahmsweise entspannt. Nicht was den Fall anging, da vibrierten seine Nerven. Aber zumindest auf dem privaten Schlachtfeld herrschte momentan Waffenstillstand. Der Abend mit Janine und den beiden jungen Männern hatte ihnen gutgetan.
Vielleicht wäre es ja doch nicht schlecht, wenn es immer so wäre?
Ralph gab sich dem Sog der Geschwindigkeit hin, der Vibration auf den Schienen und dem leisen Rauschen des Fahrtwinds, der am Zug vorbeistrich.
Im nächsten Moment war er eingeschlafen.
Sie waren kurz vor Halle, als Sabines Smartphone vibrierte. Der Anruf kam von Petra Wielandt. Kaufmanns Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich.
»Petra.«
»Sabine.« Die Kollegin von der Dezentralen Ermittlungsgruppe machte eine kurze Pause. »Das sieht nicht gut aus hier.«
»Was ist los?«
»Wir sind beim Haus von Konrad Möbs. Es liegt am Rand von Florstadt, nicht weit vom Wald entfernt. Schöner Blick über Wiesen und Felder. Es ist nicht besonders groß und erst recht nicht gepflegt, aber es könnte eine Perle sein.« Die Kollegin hüstelte. »Was ich eigentlich sagen will: Von den Nachbarhäusern aus hat man keinen Blick auf Möbs’ Terrasse. Deshalb hat wohl auch niemand etwas bemerkt.«
Kaufmann merkte, wie sie ungeduldig wurde. »Wovon denn?«
»Möbs ist nicht zu Hause. Aber die Terrassentür steht offen. Die würde er doch schließen, wenn er weggeht? Er ist immerhin Polizist.«
In der ersten Sekunde war Sabine erleichtert. Wielandt und Scherer hatten also nicht Möbs’ Leichnam in seinem Haus gefunden. Dann wurde ihr klar, was sich abgespielt haben musste und weshalb Wielandt so erschüttert war.
»Lohmann hat ihn entführt. Oder er hat ihn getötet und die Leiche irgendwo anders abgelegt.« Ihre Gedanken galoppierten. »Ist irgendwo in der Nähe ein Jahrmarkt?« Lohmann hatte ja offenbar einen besonderen Bezug zu Volksfesten und Schaustellern. Roths Leiche hatte im Kettenkarussell gesessen, die von Schulte hatte man in der Gondel des Riesenrads gefunden. Oder hatte Lohmann sich womöglich trotz der Polizeiabsperrung Zutritt zum Festgelände verschafft und auch Möbs’ Leichnam dort abgeladen?
»Kann ich dir so aus dem Stegreif nicht sagen«, entgegnete Wielandt. »Aber es sieht nicht so aus, als hätte er Möbs getötet. Es gibt keine Kampfspuren und auch keine offensichtlichen Blutspuren.«
»Check das mit den Volksfesten. Und schick ein Team übers Jahrmarktsgelände. Wir müssen sichergehen, dass sich Lohmann nicht dort versteckt.«
»Da ist doch schon alles voller Polizei.«
»Dann sollen die sich umsehen. Ich will nicht noch eine Leiche in irgendeinem Karussell.« Schon gar nicht die von Konrad Möbs. »Ruf auch die Spurensicherung. Die sollen sich Möbs’ Haus ansehen. Vielleicht finden sie einen Hinweis darauf, was passiert ist.«
Sie verabschiedete sich von Wielandt und schaute auf ihre Anruferliste. Weshalb hatten sich die Frankfurter Kollegen noch nicht gemeldet?
Als hätte das Universum ihren stummen Wunsch erhört, leuchtete im selben Moment die Nummer des Frankfurter Präsidiums auf. Es war ihre frühere Kollegin Julia Durant.
»Tut mir leid, Sabine.« Sie kam ohne Umschweife zur Sache. »Johannes Lohmann hält sich weder in der Agentur noch in seiner Wohnung auf. Sein Wagen steht in der Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich die Agentur befindet. Von ihm selbst keine Spur. Da es außer Fuller, den ihr im Gewahrsam habt, keine Mitarbeiter gibt, konnten wir auch niemanden befragen. Die Fahndung läuft.« Im Hintergrund hörte Kaufmann Stimmen. »Die Kollegen melden sich, wenn sich etwas Neues ergibt. Wir müssen jetzt los. Da ist mal wieder ein Verrückter unterwegs. Aber das ist in dieser Stadt ja kaum etwas Besonderes.« Sie zögerte kurz. »Melde dich, wenn du mal wieder in Frankfurt bist. Wir könnten etwas trinken gehen.«
»Mache ich.«
Die beiden Frauen verabschiedeten sich, und Sabine steckte das Telefon zurück in die Tasche. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, mit Julia zu sprechen. Sie hatten eine ganze Zeit lang zusammengearbeitet, doch das lag viele Jahre zurück. Dann hatte Sabine sich nach Bad Vilbel versetzen lassen, ihrer Mutter zuliebe. Sie hatte Julia gemocht, sie war eine kluge, geradlinige Frau und eine gute Kommissarin. Trotzdem würde sie den Kontakt zu ihr wohl nicht wieder vertiefen. Die Mordkommission in Frankfurt war Vergangenheit, seitdem war eine Menge schiefgegangen. Es würde sie einfach an zu viele Dinge erinnern, die sie lieber vergessen wollte.
Angersbach zuckte und schlug die Augen auf. Er blinzelte, weil er sich offenbar erst orientieren musste.
»Wo sind wir?«
Die Antwort erklang umgehend aus dem Lautsprecher: »Sehr geehrte Fahrgäste, unser nächster Halt ist in wenigen Minuten der Bahnhof Halle. Sie erreichen alle vorgesehenen Anschlusszüge. Wir bedanken uns bei allen, die in Halle aussteigen, für die Reise mit der Deutschen Bahn und wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag. Ladies and gentlemen, in a few minutes  …«
Ralph verdrehte die Augen. Das Englisch des Zugchefs war grauenhaft.
Kaufmann berichtete von ihren Telefonaten mit Petra Wielandt und Julia Durant.
»Also hat er sich ihn geschnappt. Aber wo sind sie hin?«
Sabine sah wieder Lohmann vor sich, mit seinen zerrissenen Jeans und dem schmuddeligen T-Shirt.
»Das Wohnmobil.« Sie griff erneut zum Telefon und rief im Frankfurter Präsidium an. Diesmal sprach sie mit einem Beamten, den sie nicht kannte. Sie bat ihn, Lohmanns Camper zur Fahndung auszuschreiben.
Sie beendete das Gespräch und schaute auf das Display ihres Smartphones. Vierzehn Uhr fünfzehn. Der Zug fuhr ab, pünktlich. Bis Frankfurt waren es noch fast drei Stunden.
»Ich hasse es, hier festzusitzen und nichts tun zu können«, sagte sie.
Ralph zog die langen Beine an, die er unter den Vordersitz gestreckt hatte.
»Dann lass uns im Bordrestaurant einen Kaffee trinken. Hier ist es ohnehin zu eng, egal wie man sich faltet.«
Sabine hatte nichts dagegen, obwohl sie sein Problem nicht teilte. Manchmal hatte es eben auch seine Vorzüge, wenn man klein war.