28
Eine Woche später
D er Hauptfriedhof befand sich unmittelbar hinter dem Bahngelände, nur durch eine große Straße und den Parkplatz einiger Einkaufsmärkte von den Schienen getrennt. Auf der anderen Seite stand die Kapelle, ein länglicher weißer Bau mit rotbraun gestrichenen gotischen Spitzbogenfenstern, schwarzem Dach und Turm. Es gab ein paar wuchtige Steindenkmäler, Kriegsgräber aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber auch befremdlich modern wirkende Steinsäulen, neben denen Blumen abgelegt worden waren.
Viel von alldem sehen konnte Sabine nicht. Mit ihren knapp eins sechzig wurde sie vom Gros der Anwesenden deutlich überragt. Ralph neben ihr hatte da weniger Mühe. Dafür schien er sich in seinem schwarzen Anzug ausgesprochen unwohl zu fühlen. Immer wieder fuhr er sich mit den Fingern unter den Hemdkragen, um sich ein wenig Luft zu verschaffen. Sicher hätte er gern auf den geschlossenen obersten Knopf und die stramm sitzende Krawatte verzichtet. Doch zu einem solchen Anlass hatte man keine große Wahl.
Sie selbst hatte das schwarze Kostüm angezogen, das eigens für solche Zwecke in ihrem Schrank hing. Es sah gut aus und war teuer gewesen, trotzdem wünschte sie, sie hätte es ausgetauscht. Das letzte Mal hatte sie es auf der Beerdigung ihrer Mutter getragen. Die Erinnerung an Hedwig schien noch darin zu hängen. Nicht jene an die schönen Stunden, sondern an das grausame Ende. Sie hatte die Auseinandersetzung damit immer vor sich hergeschoben. Jetzt kam die Trauer mit einem Schwall in ihr hoch, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie schluchzte heftig und konnte gar nicht wieder aufhören. Ralph sah sie ein wenig befremdet an, ehe er ihr ein Taschentuch reichte. Sabine schnäuzte sich und hatte das Gefühl, weggeschwemmt zu werden. Angersbach legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie ein wenig unbeholfen.
»Ist ja gut«, murmelte er. »Ich wusste gar nicht, dass dir Schulte so viel bedeutet hat.«
»Es ist nicht wegen Schulte«, presste sie hervor. Zu allem Überfluss bekam sie nun auch noch einen Schluckauf.
In Angersbachs Augen traten Verständnis und Mitgefühl. »Du denkst an deine Mutter.«
Sabine nickte. Ein neuer Tränenschwall schoss ihr in die Augen. Ralph drückte sie fester.
Von der eigentlichen Zeremonie bekam sie kaum etwas mit, weil sie so aufgelöst war. Sie konnte auch wenig sehen. Ihre Augen schwammen, und die Menschen um sie herum standen so dicht gedrängt, dass sie nur dann und wann einen Blick auf das Geschehen erhaschte. Sämtliche Beamten der umliegenden Polizeistationen waren gekommen, von Bad Vilbel bis Butzbach, Lich und Büdingen, darunter natürlich auch Mirco Weitzel, Levin Queckbörner, Petra Wielandt und Cordula Scherer. Die Schutzpolizisten trugen ihre Gardeuniformen und hatten Haltung angenommen. Das Landespolizeiorchester hatte eine Gruppe von Musikern aus Mainz geschickt, die einen Trauermarsch spielten. Auch Ralphs Chef vom Polizeipräsidium Mittelhessen, Sabines oberster Vorgesetzter im LKA Wiesbaden, der Chef des Frankfurter Polizeipräsidiums und die Frankfurter Staatsanwältin Dr. Johanna Freier waren gekommen, ebenso mehrere Vertreter des Bad Vilbeler Stadtmarketings, angeführt von Kirsten Gerlach. Es war ein würdiges Begräbnis, das man Kriminaloberrat Horst Schulte bereitete.
Sabine dachte an ihre erste Begegnung mit ihm zurück. Schulte war ein großer Befürworter des Experiments Mordkommission in Bad Vilbel gewesen und hatte es gegen den Wunsch des Dienststellenleiters Konrad Möbs durchgesetzt, obwohl Möbs sein Freund war. Er hatte ihnen den Rücken gestärkt und sie immer wieder daran erinnert, dass sie Möbs nicht zu ernst nehmen sollten. In beruflichen Dingen hatte Schulte keine hohe Meinung von Möbs gehabt.
Damals hatten sie nicht geahnt, wie weit die Freundschaft zwischen den beiden Männern zurückreichte und welch tiefe Gräben es zugleich zwischen ihnen gab. Nachdem sie seine Geschichte kannte, konnte sie besser verstehen, warum Möbs so ein Zyniker geworden war. Und Schulte hatte wohl auch deshalb oft Nachsicht mit Möbs geübt, weil ihm die alte Geschichte nachhing. Das Minenfeld, über das Möbs in den Westen geflohen war, hatten die beiden Männer ihr Leben lang im Herzen getragen. Schulte war nur souveräner damit umgegangen. Aber er hatte ja auch nicht so viel verloren wie Möbs.
In der vergangenen Woche hatten sie den gesamten Fall gründlich aufgearbeitet, gemeinsam mit den Staatsanwälten aus Frankfurt und Gießen. Es waren ja mehrere Ermittlungen, die Morde an Roth und Schulte und der versuchte Mord an Möbs, der Bestechungsskandal im Zusammenhang mit dem Bad Vilbeler Markt, die Drohbriefe, die Sachbeschädigungen und die gestohlenen Handys. Es hatte eine ganze Reihe von Festnahmen gegeben. Markus Fuller und Lothar Trautwein würden sich wegen Bestechung verantworten müssen, ebenso der Hydra-Betreiber Peschke und einige andere Schausteller, die ihre Fahrgeschäfte trotz maroder Gerüste auf dem Jahrmarkt aufgebaut hatten. Die Mitfahrer des Kettenkarussells kamen wegen der Diebstähle und der Sachbeschädigung vor Gericht, der Inhaber des Unternehmens, Justus Franke, wegen Hehlerei. Und Johannes Lohmann alias Rico Krawitz wartete in der Untersuchungshaft auf sein Verfahren wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes.
Mittlerweile waren alle Berichte geschrieben, alle Beweise sortiert, alle nötigen Akten vorbereitet. Nun galt es nur noch, die Toten zu betrauern.
Vier Männer mit schwarzen Zylindern trugen den gleichfalls schwarzen Sarg den Weg entlang zum ausgehobenen Grab und senkten ihn hinab. Die Abordnung des Landespolizeiorchesters spielte zum letzten Geleit. Der Pfarrer sprach ein paar salbungsvolle Worte, ließ mit einer kleinen Schaufel Sand auf den Sarg rieseln.
»Asche zu Asche. Staub zu Staub.«
Dann traten alle nacheinander an das Grab und nahmen Abschied.
Ralph und Sabine warteten, bis sich der Friedhof geleert hatte. Erst als bereits fast alle zur Gaststätte aufgebrochen waren, in der der Leichenschmaus stattfinden sollte, gab sich Kaufmann einen Ruck.
Es war gut, dass sie endlich um ihre Mutter geweint hatte, aber dieser Moment gehörte Kriminaloberrat Horst Schulte. Sie dachte an ihn, wie er hinter seinem Schreibtisch gesessen hatte, mit wachem Blick, den buschigen Augenbrauen und der spitzen, leicht gekrümmten Nase wie ein Habicht, der auf Beute lauerte, aber auch mit Wärme in den Augen. Er war ein guter Polizist gewesen und ein guter Mensch.
Sabine warf die Rose, die sie mitgebracht hatte, in die Grube. Dann drehte sie sich zu Ralph um. »Lass uns gehen.«
Mirco, Levin, Petra und Cordula warteten vor dem Friedhofstor auf sie. Ralph fluchte innerlich. Er hatte doch noch mit Sabine sprechen wollen. Auch wenn sie gesagt hatte, dass man übers Küssen nicht redete. Aber irgendwie mussten sie die Sache klären.
Andererseits war jetzt tatsächlich nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Das Problem war nur, dass ihm die Zeit davonlief. Nach der Trauerfeier würden sich ihre Wege trennen. Sie würden sich nicht mehr jeden Tag sehen. Er spürte schon jetzt die Leere, die ihr Fehlen verursachen würde.
»Wir dachten, wir gehen zusammen rüber«, verkündete Weitzel und bot Kaufmann den Arm. Sie hängte sich bei ihm ein, und die beiden überquerten die Straße. Scherer blickte ihn auffordernd an, und Angersbach ließ zu, dass sie sich bei ihm unterschob. Wohl fühlte er sich damit nicht. Er hoffte, dass Sabine sich nicht umdrehen und die falschen Schlüsse ziehen würde.
Sie tat es nicht, sondern schlenderte an Mircos Seite bis zum Hotel Restaurant Goldnes Fass und betrat mit ihm die Gaststätte.
Drinnen war es brechend voll. Ralph wurde hin und her geschoben, sprach mit ein paar Leuten und verlor Sabine und die anderen rasch aus den Augen. Er nahm sich ein paar Schnittchen vom Buffet, ohne zu registrieren, was er da aß. Die Frankfurter Staatsanwältin kam zu ihm und gratulierte zur erfolgreichen Arbeit, sein Gießener Chef tat gleich darauf dasselbe.
Angersbach ließ sich am Tresen ein alkoholfreies Bier einschenken und quetschte sich an einen der Tische. Der Zufall beförderte Kaufmann neben ihn, aber sie sprachen nicht miteinander, schoben nur die Häppchen auf ihren Tellern hin und her und ließen sich von den anderen am Tisch in Unterhaltungen verwickeln.
Zuerst waren die Gespräche ernst. Dann wurden auch alkoholhaltige Getränke gereicht, und die Stimmen wurden lauter und entspannter. Anekdoten wurden hervorgekramt, Erinnerungen an Schulte, der so gerne wie aus dem Nichts hinter einem Kollegen aufgetaucht war und ihn mit seiner schnarrenden Stimme zu Tode erschreckt hatte.
Tod . Kurz trat ein peinliches Schweigen ein, bis der nächste Witz – über Schultes buschige Augenbrauen und die spitze, leicht gekrümmte Habichtnase – die Gruppe wieder mitriss.
Als ihr das Lachen zu laut wurde, stand Kaufmann auf. »Hast du etwas dagegen, wenn wir gehen?«
Ihr Wagen stand noch an der Polizeistation Bad Vilbel; sie hatten sich dort getroffen und waren mit dem Lada nach Friedberg gefahren.
»Nein. Das ist mir recht.« Angersbach erhob sich ebenfalls.
Wieder stießen sie vor der Tür auf die Vilbeler Kollegen.
»Ich kann dich auch nach Bad Vilbel mitnehmen«, bot Mirco Weitzel Sabine an. Cordula Scherer klimperte mit den Augen und legte eine Hand auf Ralphs Arm.
»Genau. Bleib doch noch ein bisschen. Wir können später zusammen zurückfahren.«
Kaufmann tat so, als interessiere sie Scherers Offerte nicht im Geringsten, doch Angersbach spürte ihre Anspannung.
»Nein.« Er schüttelte Cordula ab und schob sich neben Sabine.
»Das ist nett«, sagte er zu Mirco. »Aber ich fahre sie. Wir haben noch etwas zu besprechen.«
Petra Wielandt hob vielsagend die Augenbrauen. Weitzel grinste.
Ralph hob die Hand zum Abschied und marschierte in Richtung Bahnhof. Nach ein paar Schritten drehte er sich zu Sabine um. »Kommst du?«
»Ja.« Sie schüttelte den Vilbeler Kollegen die Hand und schloss zu Angersbach auf. Schweigend gingen sie zurück zum Parkplatz und setzten sich in seinen Lada. Ralph startete den Motor und fuhr in Richtung Bad Vilbel.
Er hatte Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Seine ganze Aufmerksamkeit war bei Sabine. Fieberhaft überlegte er, was er sagen könnte, doch sein Kopf war wie leer gefegt. Seine Wangen glühten, die Hände waren schweißnass. Er kam sich vor wie ein Teenager bei seinem ersten Date. Wie, verdammt noch mal, sagte man einer erwachsenen Frau, dass man Gefühle für sie hatte?
Die Sonne versank im Westen hinter den Bäumen und warf ihr letztes, rötliches Licht über die Felder. Die Straßenlaternen gingen an. Angersbach starrte mit verkniffener Miene durch die Windschutzscheibe. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten ihn. Das war früher nicht so gewesen. Er merkte an allen Ecken und Enden, dass er älter wurde. Umso wichtiger war es, Dinge nicht mehr auf die lange Bank zu schieben.
Als sie auf den Hof der Polizeistation fuhren, war es komplett dunkel, und Ralph hatte noch immer keinen Ton gesagt. Er stieg aus und begleitete Sabine zu ihrem Auto.
Jetzt, dachte er.
Sie standen einander gegenüber, und in ihren Augen schien eine Bereitschaft zu liegen. Oder kam ihm das im milchigen Licht der Laterne nur so vor?
Übers Küssen redet man nicht. Man tut es.
Ralph leckte sich die Lippen.
Sabine beugte sich zu ihm vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Adieu.«
Sie öffnete ihren Wagen, stieg ein und startete den Motor. Ein kurzes Winken, ein schnelles Lächeln, dann war sie vom Hof.
Ralph sah den Rücklichtern des Renault Zoe nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren.
»Bravo, Ralph Angersbach«, knurrte er leise. »Das hast du ja prima hingekriegt.«
Nun würde er wieder warten müssen. Bis das Schicksal vielleicht entschied, dass sich ihre Wege erneut kreuzen sollten.