Kapitel 5

Als ich klein war, hatten wir eine Katze – eine fette, gestreifte Katze, die ich Sprinkles taufte und die mir gerne kleine Geschenke ihrer halb verzehrten Beute hinterließ: Sie legte Spatzenköpfe oder zerquetschte Backenhörnchen mit aufgerissenen Brustkörben vor die Haustür, glänzende Blutstropfen an ihren Schnurrhaaren. Es konnte schließlich auch nicht schlimmer sein als das.

Oder?

Ich holte tief Luft. »Es war ein Vogel«, sagte ich und durchquerte den Raum, um das Fenster zu öffnen und hinauszuschauen. »Ich bin mir ganz …«

Ich schluckte.

Einen Moment lang konnte ich den Rest des Satzes einfach nicht finden. Ich bin mir ganz sicher. Denn der Blick aus dem Fenster bestätigte mit entsetzlicher, grauenvoller Klarheit, wessen ich mir so sicher gewesen war.

»War es ein Vogel, Nancy?« Daisys Stimme zitterte nervös. »Es muss ein Vogel gewesen sein, oder? Er hat sogar einen Sprung in der Scheibe hinterlassen.«

Ich blickte zu der Stelle hinauf, auf die sie zeigte, und blinzelte einige Male. Ich konnte gar nicht wirklich glauben, was ich sah. Denn die Fensterscheibe hatte einen Sprung – einen ziemlich ansehnlichen Riss, der sich in einem bedrohlichen Netz aus Zweigen und Adern von der Einschlagstelle ausbreitete.

»War es ein Vogel?«, echote Lena und stellte sich auf Zehenspitzen hinter mich. »Ich habe noch nie gesehen, dass ein Vogel ein Fenster so sehr beschädigt hätte. Was war es – ein Falke?«

Es sollte ein Witz sein. Aber tatsächlich lag sie damit gar nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt, so unwahrscheinlich es auch erschien.

»Dicht dran«, antwortete ich finster.

Ich schob das Fenster so weit wie möglich auf, schwang die Beine über die Kante und hüpfte ins überwucherte Gras nach draußen. Ich kniete mich auf den Boden, um besser sehen zu können, und unwillkürlich blitzte das Opfer von Sprinkles’ vielleicht gewalttätigstem Beutezug wieder in meinem Kopf auf: ein Kaninchen, klein und grau, ein Auge herausgerissen, die blutige Höhle voller krabbelnder Insekten.

Das hier war etwas weniger blutig als das Kaninchen damals. Immerhin etwas.

Manchmal zählten eben die kleinen Dinge.

»Was ist es?« Es war Parker. Seine Stimme klang ruhiger als die meiner Freundinnen. Er stand am Fenster und reckte den Hals, um besser sehen zu können.

Mein Blick blieb an etwas hängen – winzig und leicht zu übersehen, aber ich verfüge, wie bereits erwähnt, über eine hervorragende Beobachtungsgabe. Ich pflückte das fragliche Etwas schnell von dem toten Vogel und begutachtete es, passte jedoch auf, den Kadaver dabei nicht zu berühren. Ich erhob mich wieder und sah, dass die anderen alle vor dem Fenster standen, erwartungsvoll und nervös, eine lange Reihe leise zitternder Schultern und besorgter Mienen.

»Ich glaube, es ist ein Rabe«, erklärte ich ihnen. Der düsterere American-Gothic-Cousin des Falken. Und in dieser Gegend nicht besonders häufig anzutreffen.

»Was?« Parker hüpfte aus dem Fenster, um den Vogel selbst in Augenschein zu nehmen. »Heilige Scheiße.«

Ich weiß. Meine Kenntnisse in Ornithologie wiesen zwar schmerzliche Lücken auf, aber ich konnte zumindest mit Sicherheit sagen, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich überhaupt schon mal einen Raben außerhalb eines Edgar-Allan-Poe-Gedichts oder der Halloween-Abteilung im Deko-Laden gesehen hatte.

Einen Moment lang starrten wir alle den Vogel an. So grotesk der Anblick auch war, es fiel mir schwer, die Augen davon abzuwenden.

Es war ein Rabe, ganz eindeutig: riesig, mit tintenschwarzen Federn, die wie ein Ölfilm in der Nachmittagssonne glänzten. Und er war mit solcher Wucht gegen das Fenster geknallt, dass er die Scheibe zerschmettert hatte – und dabei hatte er sich … nun, dabei hatte er sich beinahe selbst geköpft. Sein Kopf war so entsetzlich verdreht, dass er praktisch nur noch an ein paar blutigen Sehnen hing, während ein glasiges Auge starr ins Leere blickte.

Außerdem trug der Vogel – oder hatte es zumindest getan, bevor er halb geköpft worden war – ein Halsband. Braun. Relativ dünn und allem Anschein nach aus Leder. Aber auch das war noch nicht das Eigenartigste an dieser ganzen Situation.

Parker schaute mich an. »Was war das eben?«

Ich schaute ihn an. »Was meinst du?«

»Du … du hast gerade was rausgezogen. Aus dem Vogel.«

»Ich …« Ich verstummte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mich zum letzten Mal jemand bei etwas ertappt hatte, das eigentlich niemand bemerken sollte. Dass Parker gesehen hatte, wie ich den Zettel an mich nahm, war beinahe so, als sei er in der Turnhalle in die Umkleidekabine geplatzt, während ich mich gerade umzog – ich fühlte mich völlig entblößt.

»Es ist …« Ich brach den Satz ab, vollkommen verunsichert. Das war das Eigenartigste an dieser ganzen Szene. So bizarr, dass ich wirklich keine Ahnung hatte, wie ich es ausdrücken sollte – und das hatte nichts damit zu tun, dass mich der superheiße Neue an der Schule, im metaphorischen Sinne, total nackt gemacht hatte. »Ähm. Na ja, es ist ein Zettel.« Ich nickte bekräftigend, als ich die verwirrten Gesichter der anderen sah. »Der Rabe hatte einen Zettel im Schnabel.«

»Oookay. Und, was steht drauf?«, rief Daisy und lehnte den Oberkörper so weit aus dem Fenster, wie sie konnte.

Zögerlich faltete ich das quadratische Papier auseinander. Ein paar Tropfen Blut hatten eine der Ecken befleckt. Ich gab mein Bestes, sie nicht zu berühren.

»Hütet euch vor dem Fluch des Namenstags«, las ich vor, meine Stimme so gelassen wie möglich. Wenn es mir gelang, ruhig zu bleiben, wirkte das Ganze vielleicht zwanzig Prozent weniger unheimlich.

Es ist zumindest eine Theorie.

Ich wollte den Rest der Nachricht nicht lesen, so als befürchtete ich, ich könnte den Worten, indem ich sie laut aussprach, eine Macht verleihen, auf die ich nicht vorbereitet war. Außerdem wusste ich, welche Reaktion ich von den anderen erwarten konnte.

Aber selbst wenn ich die Nachricht nicht vorlas, hörte sie dadurch nicht auf, zu existieren. Sie war real, in meinen Händen, und sie konnte uns unmöglich nur zufällig erreicht haben.

Ich hustete und räusperte mich. »Der Namenstag muss abgesagt werden.«

»Aber das ist doch nur ein Scherz, oder?« Eine halbe Stunde und eine schier endlose Diskussion später klammerte sich Daisy nach wie vor an den letzten Funken Hoffnung.

Wir waren noch immer im Masthead-Klassenzimmer – auch diejenigen von uns, die aus dem Fenster geklettert waren, befanden sich wieder sicher im Raum – und hatten die Tische in einem Kreis aufgestellt, der uns ein durchaus notwendiges Gefühl der Sicherheit gab. Außerdem hatte ich die Tür des Klassenzimmers abgeschlossen. Die Nachricht – unheimlich, blutbefleckt und mit zittrigen Buchstaben handgeschrieben – lag vor mir auf dem Tisch. Die Worte brüllten mich förmlich an, laut und anklagend.

»Es muss ein Scherz sein«, sagte Lena, hob am Ende des Satzes jedoch die Stimme, so als sei es eher eine Frage. Sie klang selbst alles andere als überzeugt. »Der Fluch des Namenstags? Was soll das überhaupt sein?«

Diese Frage stellte ich mir schon, seit wir die Nachricht, die der Rabe im Schnabel gehabt hatte, geöffnet hatten. Horseshoe Bay war meine Stadt und ich kannte sie besser als meine Westentasche. Ich kannte jede ihrer Legenden, jedes Schauermärchen, jede Geistergeschichte.

Oder zumindest dachte ich das.

Die Vorstellung, dass es einen Fluch gab, von dem ich noch nie etwas gehört hatte? Beunruhigte mich vielleicht noch mehr als der Fluch an sich. Einen Fluch konnte ich widerlegen. Eine böse Überraschung?

Nun … über eine böse Überraschung kam ich weniger leicht hinweg.

»Wie lässt man scherzhaft einen unheimlichen Raben mit einer Nachricht im Schnabel gegen das Fenster eines Klassenzimmers fliegen?«, fragte Melanie mit quietschender Stimme. »Ich meine, wer weiß überhaupt, wie so was geht? Das Ganze stammt doch direkt aus irgendeinem Schauerroman.« Ich wusste ja, dass sie eine Dramaqueen war – dank ihrer Bühnenerfahrung sogar im wahrsten Sinne des Wortes –, aber ihre Reaktion auf den Vogel war trotzdem ziemlich extrem. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und ihre Stimme klang ein paar Oktaven höher als die aller anderen im Raum, seit der Vogel aufgetaucht war.

Eine ausgezeichnete Frage. Was mir außerdem durch den Kopf ging: Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass sich seit diesem Zwischenfall irgendetwas in der hintersten Ecke meines Frontallappens regte? Ein Déjà-vu oder irgendetwas Ähnliches nagte mit lästiger Hartnäckigkeit an mir, wie wenn einen etwas genau an der Stelle zwischen den Schulterblättern juckte, an der man sich nicht selbst kratzen konnte. Aber was nagte da? Raben gehörten nicht zu den Tieren, über die ich viel nachgedacht hatte – zumindest nicht seit der achten Klasse, als im Englischunterricht Gedichte auf dem Lehrplan gestanden hatten.

»Das Ganze ist ziemlich Game of Thrones-mäßig«, fand Parker. Von allen Anwesenden schien er sich durch das Erscheinen dieses potenziellen bösen Omens in Vogelgestalt am wenigstens aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was dies womöglich zu bedeuten hatte.

Er sollte geschockt sein. Mein Gehirn hing bei diesem Gedanken fest. Er sollte geschockt sein, weil diese Sache total schockierend war, selbst für mich. Und ich habe schon so einiges gesehen. Alle anderen waren beinahe zu Tode erschrocken. Selbst wenn man die Tatsache außer Acht ließ, dass ein gegen das Fenster geknallter verstümmelter Rabe der Stoff war, aus dem mittelalterliche Albträume waren, konnte man doch nicht leugnen, dass er allem Anschein nach eine Warnung übermittelt hatte. Und diese Warnung, die er im besten Stil einer griechischen Tragödie überbracht hatte, war beunruhigend. Gelinde ausgedrückt.

Man könnte sogar so weit gehen, zu behaupten, es seien die ersten eindeutigen Anzeichen eines mysteriösen Rätsels.

Aber das wollte ich nicht behaupten, jedenfalls nicht laut. Zumindest noch nicht.

Nicht alle würden diese Tatsache als gute Neuigkeit betrachten, ganz im Gegensatz zu mir. Nicht alle liebten Rätsel. Und Daisy wäre allein schon bei der Vorstellung am Boden zerstört, irgendetwas könnte ihren perfekten Stadt-Namenstag ruinieren, ihr perfektes Jahr.

»Es wäre zumindest ein … sehr seltsamer Scherz«, fand Seth. »Im Sinne von: nicht lustig. Und wie hat dieser Vogel uns überhaupt gefunden?«

»Vielleicht war er ja gar nicht für uns bestimmt«, überlegte Daisy. Sie wirkte immer noch ziemlich zittrig, genau wie wir alle.

»Er hatte eine Nachricht dabei«, erwiderte Melanie. »Irgendjemand hat ihn gezielt über das große blaue Firmament geschickt – direkt ins Fenster der Masthead-Redaktion. Wenn er nicht für uns bestimmt war, für wen dann?«

Daisy zuckte mit den Schultern, aber ich kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie ein wenig zu angestrengt versuchte, lässig zu wirken. »Wenn es ein Scherz war, wie Lena gesagt hat, dann hätte es doch keine Rolle gespielt, gegen welches Fenster er knallt oder wer ihn findet, richtig? Dann sollte er … ich weiß auch nicht, nur ein paar Kids an der Keene High ein bisschen Angst einjagen oder sie vor dem großen Namenstag aus der Bahn werfen.«

Ich schaute Lena an. »Glaubst du wirklich, dass nicht mehr dahintersteckt?«

Sie runzelte die Stirn und dachte darüber nach. »Ich glaube … Keine Ahnung. Aber allein die Tatsache, dass darin von irgendeinem wahllosen ›Fluch‹ die Rede ist … Das hat doch weder Hand noch Fuß. Ergo: nur ein Scherz.«

»Vielleicht«, räumte ich ein. »Aber wenn dem so ist, dann ist es ein ziemlich aufwendiger Scherz, findest du nicht auch? Ein Vogel mit einer Nachricht im Schnabel? Ein Rabe? Davon sieht man hier normalerweise nicht besonders viele.«

Nur …

Nur dass dieses nagende Gefühl noch immer in mir kribbelte, direkt unter der Oberfläche, und mir sagte, dass es vielleicht doch etwas gab, wenn auch eine noch so winzige Kleinigkeit, die ich übersehen hatte.

Ich kann nicht lügen: Die Vorstellung war ziemlich beängstigend, sicher. Aber sie war auch aufregend.

Ein übersehener Hinweis ist im Prinzip nichts anderes als der Prolog zu einem mysteriösen Rätsel. Was bedeutete, dass ich der Sache auf jeden Fall nachgehen würde, auch wenn es sich dabei wirklich nur um einen Scherz handelte.

»Willst du damit sagen, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass irgendjemand so viel Mühe in einen einzigen Scherz steckt?«, fragte Melanie. »Hast du das letzte Homecoming vergessen, als die Footballmannschaft das Auto der Rektorin auf dem Footballfeld an einem der Torpfosten aufgehängt hat?«

»Okay«, stimmte ich ihr zu. »Aber das war ein lustiger Highschool-Streich. Das hier ist … widerlich, und es zielt ganz offensichtlich darauf ab, jemandem Angst einzujagen. Möglicherweise sogar ganz gezielt uns. Der vermeintliche Scherzkeks müsste also nicht nur unglaublich motiviert sein, um eine solche Aktion durchzuziehen, er oder sie müsste auch ein leidenschaftlicher Gegner des Namenstags sein, um uns überhaupt so schreckliche Angst einjagen zu wollen – oder der Person, für die dieser sogenannte Scherz tatsächlich bestimmt war.« Ich blickte mich um. »Fällt irgendeinem von euch jemand ein, der zynisch genug wäre, so etwas zu tun?«

Einer nach dem anderen drehten wir uns zu Theo um. Als ihm bewusst wurde, dass ihn alle anstarrten, kroch die Zornesröte an seinem Hals empor. »Gott, nein!«, protestierte er. »Ich meine, ja, ich finde den Namenstag total lahm. Aber ich schwöre euch, dass das nicht mein Stil ist.« Er lächelte ironisch. »Ehrlich, ich fühle mich geschmeichelt, dass ihr dabei an mich gedacht habt. Aber ich kann euch versprechen, dass ich viel zu faul bin, um einen derartigen Aufwand zu betreiben. Bei irgendetwas

»Okay«, erwiderte ich, »aber das hast du jetzt gesagt, nicht ich.« Er wich meinem Blick nicht aus – er wirkte definitiv aufrichtig. Ich dachte darüber nach, was ich über ihn wusste. Theos Kommentare erschienen oft auf der Titelseite und waren immer auf den Punkt, aber er tippte niemals eine einzige Silbe über die angegebene Wortanzahl hinaus. Man konnte ihn nicht unbedingt als arbeitsam bezeichnen. Deshalb sagte er höchstwahrscheinlich wirklich die Wahrheit. Aber wenn nicht Theo, wer dann?

Spontan fiel mir nur noch eine weitere Person ein, die auf den Namenstag – oder zumindest auf gewisse Aspekte der Feierlichkeiten – offenbar genauso schlecht zu sprechen war wie er.

»Caroline Mark«, überlegte ich laut. »Sie ist letzte Woche auf dem Schulhof total ausgeflippt, weil sie keine Rolle bei der Aufführung gekriegt hat. Ich meine, sie ist so richtig durchgedreht. Ihr habt es ja selbst gesehen.« Ich schaute zu Daisy und Lena, die beide bestätigend nickten. »Wie stehen die Chancen, dass sie Zugang zu einer Schar Vögel hat?«

»Sie war es todsicher«, warf Daisy aufgeregt ein. »Sie muss es gewesen sein. Wie du schon gesagt hast: Sie war stinksauer, und dieser Scherz bedurfte einer Menge Wut. Und außerdem – wer könnte es denn sonst gewesen sein?«

Gute Frage. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich schon bereit war, einen Schlussstrich unter die Liste unserer möglichen Täter zu ziehen. Aber Daisy hatte recht: Uns fehlte es an offensichtlichen Verdächtigen.

»Sie hatte zumindest ein Motiv«, stimmte ich ihr zu. »Eifersucht ist schließlich ein Klassiker.« Ich hatte allerdings meine Zweifel, was die Mittel und die Gelegenheit anging. Aber Daisy hatte sich längst in die Sache hineingesteigert.

»Ganz genau!«, rief sie begeistert aus. »Sie muss es gewesen sein! Was bedeutet, dass wir nicht das Geringste zu befürchten haben.«

»Von der Vogelgrippe mal abgesehen«, flachste Parker.

Daisy winkte abfällig. »Mir ist klar, dass du nur Witze machst«, sagte sie, »aber vertrau mir: Nancy hat diesen Vogel nicht angefasst, als sie sich die Nachricht geschnappt hat. Dafür ist sie viel zu vorsichtig.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wo sie recht hat.« Ich hatte schließlich eine Menge Erfahrung damit, wie man sich an einem potenziellen Tatort korrekt verhielt.

»Und davon abgesehen ist Caroline Mark nur eine jämmerliche, mies gelaunte Möchtegerndiva, die sich offensichtlich erst auf einen nicht minder jämmerlichen – und widerlichen – Rachefeldzug begeben musste, um darüber hinwegzukommen, dass sie es nicht auf die Besetzungsliste der Aufführung geschafft hat.«

»Eine jämmerliche, mies gelaunte Möchtegerndiva, die Vögel in den sicheren Tod schickt, um unheimliche Drohbotschaften zu übermitteln«, ergänzte Seth. »Ich finde, wir sollten etwas unternehmen. Wir können diese Sache nicht einfach ignorieren.«

»Was unternehmen?«, fragte Melanie. »Sie zur Rede stellen? Es Rektorin Wagner erzählen?«

Er zuckte die Achseln. »So was in der Art, oder?« Er sah mich an. »Ich kann doch unmöglich der Einzige sein, der so denkt.«

Ich holte tief Luft und dachte darüber nach, wie ich darauf antworten sollte. Meine Erfahrung zeigte, dass ich in Fällen wie diesem bessere Chancen hatte, etwas herauszufinden, wenn ich allein vorging, anstatt die sogenannten zuständigen Stellen zu informieren. Aber diese Nachricht … Selbst wenn es nur ein Scherz gewesen war, war es total krank. Verstörend.

»Aber noch nicht!«, platzte Daisy heraus. Als sie Seths ungläubigen Blick sah, fügte sie flehend hinzu: »Ich … ich verstehe ja, was du meinst. Und ja, es ist total seltsam und, okay, vielleicht sollten wir es wirklich jemandem erzählen, irgendwann …«

»Dais…«, begann ich, aber sie schnitt mir das Wort ab.

»Irgendwann«, wiederholte sie. »Aber müssen wir das wirklich jetzt sofort tun? Hört mir wenigstens erst mal zu«, bat sie, als sie sah, dass Seth den Mund aufmachte, um etwas zu erwidern. »Wenn wir es Rektorin Wagner erzählen, könnte die Aufführung möglicherweise abgesagt werden. Man kann schließlich nie wissen. Das hier ist eine kleine Stadt. Und hier wohnen ein paar ziemlich abergläubische Leute. Und auch wenn der eine oder andere«, sie schoss Theo einen bösen Blick zu, »das Ganze für nichts weiter als einen albernen kleinen Brauch hält, freue ich mich im wahrsten Sinne des Wortes schon mein ganzes Leben auf meine Aufführung beim Namenstag.« Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: »Bitte, macht mir meine Chance auf diesen Auftritt nicht kaputt, ja?«

Jetzt schaute sie demonstrativ mich an, ihre blauen Augen geweitet. »Ich bitte euch, nichts zu tun, was die Feier gefährden könnte. Für mich?«

Für mich. Mir wurde ganz flau im Magen. Es war so ungefähr das Einzige, was sie sagen konnte, das mich praktisch jedes Mal sofort aus vollem Lauf abbremsen ließ. Manchmal kannte ich Daisy besser, als ich mich selbst kannte. Sie übertrieb nicht, wenn sie behauptete, sie hätte sich schon ihr ganzes verdammtes Leben darauf gefreut, bei dieser Aufführung mitzumachen.

»Vielleicht … könnten wir die Sache wirklich noch für uns behalten«, bot ich ihr schließlich an. »Für den Moment. Und erst mal abwarten.« Mit strengem Tonfall ergänzte ich: »Aber falls noch irgendetwas anderes passiert …«

Daisy unterbrach mich erneut. »Falls noch irgendetwas anderes passiert, natürlich«, sprudelte es förmlich aus ihr heraus, und ihre Erleichterung durchströmte in beinahe greifbaren Wellen den Raum.

»Falls noch irgendetwas anderes passiert, dann muss ich zugeben, dass ich jetzt schon neugierig bin, was es ist«, sagte Theo. »Wenn man mit einem toten Vogel anfängt, hat man die Latte schließlich schon ziemlich hoch gelegt.«

»Stimmt«, sagte Parker. Er warf mir einen flüchtigen, unlesbaren Blick zu. War er mitfühlend? Neugierig? War er der Ansicht, dass es ein Fehler von mir war, zuzustimmen, diesen Zwischenfall fürs Erste unter den Teppich zu kehren? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen.

Und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, wann mir die Meinung irgendeines Typen zum letzten Mal so wichtig gewesen war.

Aber er wird sich noch umgucken. Und Daisy auch.

Denn die Sache war: Alles, was ich versprochen hatte, war, fürs Erste niemandem von dem Raben zu erzählen. Ein Zugeständnis, das mir, wenn ich das große Ganze betrachtete, ziemlich leicht fiel. Ich hatte Daisy nicht explizit zugestimmt, dass Caroline Mark unsere Übeltäterin war. Und ich hatte definitiv nicht behauptet, dass ich diesen nagelneuen städtischen Fluch als harmlose, unbedeutende örtliche Legende abtun würde. Ich persönlich glaubte zwar an nichts, das sich nicht auf harte Fakten gründete, aber ich glaubte durchaus, dass so gut wie alle urbanen Legenden auf einem Körnchen Wahrheit aufbauten.

Und ganz offensichtlich stimmte mir irgendjemand dort draußen zu. Zumindest so weit, dass er einem Vogel diese Nachricht in den Schnabel gesteckt hatte, sei es nun zum Spaß oder nicht. Was wiederum bedeutete, dass ich einiges zu tun hatte.

Aber das Wichtigste zuerst.

Such nach den Einzelheiten dieses sogenannten Namenstagsfluchs. Dort findest du deine Geschichte.

Und wo eine Geschichte war, ließ ein Rätsel oft nicht lange auf sich warten.