Kapitel 18

– Freitag –

Nachdem der Platz im Herzen unserer Stadt am Abend zuvor geradezu unheimlich leer gewesen war, schienen sämtliche Einwohner von Horseshoe Bay beschlossen zu haben, dies durch ihre Anwesenheit heute wieder wettzumachen. Ich hatte das Rathaus in meinem ganzen Leben noch nie so überfüllt gesehen wie bei Chief McGinnis’ Notfallversammlung. Alle waren in höchster Alarmbereitschaft und schienen wegen der Vermisstenfälle ernsthaft besorgt zu sein. Es war eine Erleichterung, zu wissen, dass bei dieser Sache offensichtlich die ganze Stadt an einem Strang zog, auch wenn es schöner gewesen wäre, dieses Gemeinschaftsgefühl unter anderen Umständen zu erleben. Es erhöhte zumindest unsere Chancen, Daisy und Melanie schon bald zu finden. Und vielleicht konnte ja irgendjemand hier neue, wenn auch noch so nichtig erscheinende Informationen zum Fluch des Namenstags beitragen.

Im Prinzip hatte sich die komplette Stadt in die Aula gequetscht. Meine Eltern und ich saßen in der ersten Reihe – Mom zu meiner Rechten, Dad links von mir. Jeder von ihnen umklammerte so fest eine meiner Hände, dass ich befürchtete, sie würden mir schon bald die Blutzufuhr abschnüren. Moms Augen waren rot unterlaufen, Dads Kiefer merklich angespannt. Beide machten sich schreckliche Sorgen um Daisy. Auch Lena war hier, mit ihren Eltern, irgendwo im Gewimmel. Auch wenn ich sie nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie ebenso aufgewühlt war. Genau wie Parker.

Im Raum war es heiß, die Luft stickig. Auf der Bühne stand ein langer Tisch, an dem der Chief, Rektorin Wagner und die Bürgermeisterin saßen. Beide Frauen waren ungefähr im selben Alter und strahlten dieselbe strenge Autorität aus. Auch Daisys Eltern saßen dort oben. Die Augen ihrer Mutter waren rot umrandet und glänzten vor Tränen, die jede Sekunde über ihre Wangen zu strömen drohten. Ihr Vater wirkte ernst, stoisch, aber ich vermutete, dass es auch ihm nur mit Mühe gelang, die Fassung zu wahren. Ihre bloße Anwesenheit verlieh dieser Versammlung eine noch düsterere Atmosphäre: ihre schwarzen Wollklamotten, ihre verzweifelten Mienen, die erdrückende Last ihrer Bedeutung für Horseshoe Bay …

Und die Tatsache, dass ihre Tochter verschwunden war.

Aber sie waren nicht die Einzigen anderen Personen auf der Bühne. Ein weiterer Mann und eine Frau saßen ganz am Ende des Tisches, beide kreidebleich und furchtbar ausgezehrt. Melanies Eltern. Stechende Schuldgefühle meldeten sich in mir. Daisys Entführung wog für mich persönlich natürlich besonders schwer, aber das bedeutete nicht, dass diese beiden nicht denselben Kummer durchlebten.

Wir müssen die Mädchen finden.

Ich muss die Mädchen finden.

Die Dringlichkeit traf mich wie ein Schlag, bohrte sich wie ein stechender Schmerz in mein Herz.

Chief McGinnis griff nach dem Mikrofon, das vor ihm auf dem Tisch stand. Er tippte darauf, um sich zu vergewissern, dass es an war. »Hallo«, begann er, begleitet von lautem statischem Rauschen. Alle im Raum zuckten zusammen und rutschten auf ihren Sitzen hin und her.

»Vielen Dank, dass Sie heute Abend alle hierhergekommen sind«, fuhr er fort. »Ich weiß, dass Sie aufgrund der jüngsten Ereignisse und der bevorstehenden Namenstagsfeierlichkeiten sehr besorgt sind.«

»Sagen Sie die Feierlichkeiten ab!«, brüllte jemand aus dem hinteren Teil des Raumes dazwischen und erntete dafür Buhrufe und andere Proteste. Es ließ sich nur schwer sagen, ob die Leute gegen den Namenstag protestierten oder gegen den Vorschlag, ihn abzusagen. Auch wenn niemand offen zugeben wollte, dass es einen Fluch gab, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand die Nachricht rundheraus ignorieren wollte, die nach Daisys Verschwinden aufgetaucht war.

»Wir verstehen sehr gut, warum einige unter Ihnen so emotional reagieren«, warf Bürgermeisterin Johnson ein. Ihre Stimme klang ausgeglichen, beinahe erhaben, so als sei es ihr irgendwie gelungen, die emotionalen Reaktionen der Anwesenden in sich aufzunehmen und sie auf ein gelasseneres Niveau abzukühlen.

»Unsere Kinder sind in Gefahr! Wer weiß schon, wer als Nächstes zur Zielscheibe wird!« Der Zwischenruf stammte von einer kleinen, unscheinbar wirkenden Frau ein paar Reihen hinter mir. Ich erkannte sie von verschiedenen Schulveranstaltungen wieder: die Schatzmeisterin des Elternbeirats. Ihre Tochter war eine ebenso unscheinbare Neuntklässlerin, die mit irgendeinem Projekt über Osmose und Solarenergie den Wissenschaftswettbewerb gewonnen hatte.

Auf der Bühne wurde Daisys Mutter leichenblass. Ihr Vater knallte hingegen eine Faust auf den Tisch, donnernder als jeder Richterhammer. »Unsere Tochter ist verschwunden!«, bellte er.

»Genau wie unsere!« Es war Melanies Mutter, ihre Stimme von Tränen erstickt. »Schon komisch, dass erst eine Versammlung im Rathaus anberaumt wurde, nachdem die Tochter einer Gründerfamilie verschwunden ist!«

Die Buhrufe wurden noch lauter, bauschten sich zu einem Crescendo auf. Von irgendwo hinter mir flog ein zusammengeknülltes Blatt Papier – die Tagesordnung der heutigen Versammlung? – über meinen Kopf hinweg. Mom drückte meine Hand noch ein wenig fester. Ich kuschelte mich an sie, dankbar, dass sie hier war.

Die Bürgermeisterin stand von ihrem Stuhl auf, ihre Miene nun entschieden angespannter. Sie hob eine Hand, um die Menge zu beruhigen. »Bitte«, sagte sie, »wir verstehen, warum Sie so aufgebracht sind. Ich versichere Ihnen, dass wir ebenso aufgewühlt sind und ebenso entschlossen, Ihre Kinder sicher wieder nach Hause zu bringen.« Sie blickte von Melanies Eltern zu Daisys. »Beide Kinder.«

»Die Bürgermeisterin hat mich gebeten, Ihnen im Einzelnen darzulegen, was wir im Augenblick wissen«, übernahm Chief McGinnis wieder. »Wir haben es mit verschiedenen Ereignissen zu tun«, erklärte er. Im Allgemeinen brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe – auch wenn er manchmal ein wenig mürrisch sein konnte –, aber es war offensichtlich, dass er angesichts der Meute hysterischer Eltern äußerst behutsam vorgehen wollte. »Erstens: Ein Vogel mit einer Warnung im Schnabel ist in der Highschool gegen das Fenster eines Klassenzimmers geflogen. Die anwesenden Schüler taten diesen Zwischenfall anfangs jedoch als Streich ab.« Irgendwie, trotz des Durcheinanders und der riesigen Menschenmenge, fiel sein Blick dabei auf mich und brannte sich förmlich in meine Haut, wie ein Sonnenstrahl, der eine Ameise unter einem Vergrößerungsglas versengte. »Daher wurden wir zunächst auch nicht darüber informiert.«

Empörtes Raunen hallte von den Wänden der Aula wider. Ich spürte ein Stechen der Scham in meinem Bauch.

»Zweitens: Daisy Dewitts Spind wurde zur Zielscheibe eines Akts von Vandalismus, ebenso wie die Masthead-Redaktion. Die Täterin, ebenfalls eine Schülerin der Keene High, wurde kurz darauf überführt. Die Aktion war tatsächlich nur als Streich gedacht. Sie war wütend, weil sie bei der Namenstagsaufführung keine Rolle bekommen hatte.«

Nun mischte sich Gelächter unter das ernste Gemurmel. Caroline tat mir leid, wo immer sie auch war, irgendwo hier in der Aula. Auch wenn McGinnis sie nicht namentlich genannt hatte, war sie in diesem Raum alles andere als anonym. Sie musste sich im Augenblick ziemlich gedemütigt vorkommen.

»Aber dann, kurz nach dem Zwischenfall mit dem Spind, wurde Melanie Forest als vermisst gemeldet. Ebenso wie zuletzt auch Daisy Dewitt. Im Rucksack ihrer Freundin wurde eine warnende Botschaft entdeckt, und später fanden wir eine Nachricht mit exakt demselben Wortlaut auch in Daisys Geldbeutel, der sich in ihrem Spind befand.«

Eine weitere Warnung? Ich setzte mich auf meinem Stuhl auf. Hinter dem Chief wurden nebeneinander zwei Bilder an die Wand projiziert: Eins zeigte die Nachricht, die Lena gefunden hatte, das andere die aus Daisys Geldbeutel – ein Modell von Kate Spade, rot und mit einem Fleck auf dem Leder, den Daisy nicht mehr weggekriegt hatte, ganz gleich, mit wie vielen teuren Fleckentfernern sie es auch probiert hatte. Ein Kaffeebecher mit kaputtem Deckel hatte hier seine Spuren hinterlassen. Der Geldbeutel lag neben einer Asservatentüte flach auf einem Tisch und daneben exakt die gleiche Nachricht wie die aus Lenas Rucksack.

Mir schnürte sich die Kehle zu und mein Kopf fühlte sich auf einmal ganz heiß an. Ich hatte nicht gewusst, dass der Chief Daisys Spind durchsucht hatte, obwohl das natürlich Sinn ergab. Und was immer ich heute Abend auch hier zu sehen erwartet hatte, es war ganz sicher nicht das hier. Ich hatte Daisys Geldbeutel mindestens einmal täglich gesehen, in den letzten … fünf Jahren? Mindestens. Wenn nicht sogar länger. Unter diesen Umständen wurde ich bei dem Anblick jedoch von einem eiskalten Schauer geschüttelt.

Mom musste meine Gedanken gelesen haben – darin war sie ziemlich gut –, denn sie strich mir beruhigend über den Rücken.

»Und schließlich«, endete der Chief, »kurz bevor uns Daisys Verschwinden gemeldet wurde, erhielten meine Beamten einen Hinweis auf einen weiteren Akt von Vandalismus im Zusammenhang mit dem Namenstag, in diesem Fall draußen auf dem Festplatz.« Ich spürte seinen Blick wieder auf mir, diesmal wirkte er jedoch teilnahmsloser.

»Was ist mit dem Mädchen? Mit der Schülerin?«, rief jemand hinter mir dazwischen. »Der, die hinter den anderen Aktionen steckte?«

»Wir konnten die betreffende Person als Verdächtige in den Fällen der vermissten Mädchen ausschließen, ebenso für den Zwischenfall mit dem Vogel und die Sache auf dem Festplatz«, antwortete McGinnis.

Ich hätte dafür getötet, zu wissen, wie definitiv er Caroline tatsächlich »ausschließen« konnte, aber ich glaubte auch nicht, dass er uns anlog. Ich war mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Caroline wirklich nichts mit dem Verschwinden der beiden zu tun hatte. Außerdem hatte sie mir die Wahrheit darüber gesagt, dass sie mir gefolgt war … und über ein paar andere Dinge.

Aber auch wenn wir uns in dieser Hinsicht absolut sicher waren, mussten wir immer noch zwei vermisste Schülerinnen finden.

»Leider haben wir nicht sehr viele Spuren, was Melanie Forests Verschwinden betrifft«, fuhr McGinnis fort, und Mrs Forests Gesicht nahm einen kränklichen Olivton an. »Auch wenn wir die Möglichkeit einer Verbindung nicht ausschließen, lässt die Tatsache, dass Daisys Entführer …«

Beim Wort »Entführer« schwankte Mrs Dewitt auf ihrem Stuhl. Daisys Vater legte einen kräftigen Arm um sie und richtete sie wieder auf.

»… eine Nachricht mit einer Drohung hinterlassen hat, eher vermuten, dass keine Verbindung besteht.«

Melanies Mutter stieß ein kehliges Heulen aus und ihr Mann führte sie hastig von der Bühne.

»Deshalb«, sagte die Bürgermeisterin und umklammerte fest ihr eigenes Mikrofon, »möchten wir jeden, der irgendwelche Informationen zu den beiden vermissten Mädchen hat, bitten, sich bei der Polizei zu melden. Und bitte, unterstützen Sie die Dewitts und die Forests in dieser schrecklichen Zeit nach Kräften.«

»Beten Sie für uns«, sagte Daisys Vater schlicht in sein Mikrofon, und seine Stimme dröhnte in einem weichen Bariton über die Menge.

»Hoffen und beten? Ist das wirklich das Beste, was wir tun können?«

Diesmal erkannte ich die Stimme sofort. Es war Theo, natürlich, ganz offensichtlich entsetzt darüber, dass die Stadt auch nur eine Sekunde zögerte und nicht schon längst den Stecker für den kompletten Namenstag gezogen hatte.

»Mr MacCabe«, knurrte McGinnis. »Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?«

Theo stand von seinem Platz am Gang auf, ging zum Rand der Bühne und stellte sich so hin, dass er den Chief und alle anderen dort oben ebenso sehen konnte wie die Zuschauermenge.

»Ihr könnt mich gerne als verrückt bezeichnen, Leute«, begann er, sein üblicher höhnischer Tonfall ein oder zwei Oktaven höher als gewöhnlich, »aber wie wäre es, wenn wir … oh, ich weiß auch nicht … den Namenstag absagen?« Er warf die Hände in die Luft. »Irgendjemand da draußen will jedenfalls eindeutig, dass wir das tun! Und es kann ganz sicher nicht schaden, dieser Bitte nachzukommen!«

Ein paar weitere zusammengeknüllte Flyer flogen in Theos Richtung, und er wich ihnen unbeholfen aus.

»Wir können sie nicht gewinnen lassen!«, rief jemand.

Doch, das können wir, wenn das Leben unserer Freundin auf dem Spiel steht.

»Ganz im Gegenteil: Das können wir sehr wohl«, widersprach Theo und sprach aus, was ich dachte. »Und außerdem ›verlieren‹ wir nicht, wenn wir dadurch unsere Mitschülerinnen wiederbekommen.« Er ließ den Blick flehend über die Menge wandern. »Bitte, sagt mir, dass ich nicht der Einzige in diesem Raum bin, der findet, dass das Wohlergehen zweier Menschen wichtiger ist als ein dämliches Stadtfest

Ich zuckte zusammen. Er hätte es nicht als »dämlich« bezeichnen sollen. Das würde hier sicher nicht gut ankommen.

»Ich stimme ihm zu«, meldete sich eine neue Stimme, und eine weitere schlaksige Gestalt gesellte sich zu Theo an den Bühnenrand. Parker. Sein Blick fand mich in der Menge und hielt mich fest. »Geschichte, Traditionen … all das ist definitiv wichtig.« Seine Stimme blieb an dem Wort hängen, so als sei er in Wahrheit der Ansicht, dass die persönliche Geschichte von einigen in dieser Stadt vielleicht, nur vielleicht, nicht ganz so wichtig war, wie sie glaubten.

Oder vielleicht interpretierst du auch nur zu viel hinein.

»Aber es könnte wahrscheinlich trotzdem nicht schaden, wenn wir in diesem Fall Vorsicht walten lassen«, fügte er hinzu und wandte die Augen dabei keine Sekunde von meinem Gesicht ab. »Es steht schließlich das Leben von echten Menschen auf dem Spiel.«

Okay. Ein Punkt für Parker.

Doch nein. Ich kam wieder zu mir und schüttelte energisch den Kopf. Verstand er es denn wirklich nicht? Die Tatsache, dass Daisys Leben auf dem Spiel stand, bedeutete schließlich erst recht, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Dass ich mir keinen Moment des Zögerns leisten konnte. Ich mochte Parker wirklich sehr, aber wenn ich mich zwischen ihm und einer Ermittlung entscheiden musste, wusste ich genau, welche Wahl ich treffen würde.

»Glauben Sie mir, wir haben die Situation bereits ausführlich hier oben auf der Bühne diskutiert«, erwiderte Rektorin Wagner. »Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es am besten ist, darüber abstimmen zu lassen. Schließlich geht es hier um Ihre Stadt. Und um Ihre Töchter.«

Am Bühnenrand gab Daisys Mutter ein leises Wimmern von sich.

Der Chief erhob sich. »Ich bitte um Handzeichen. Wer ist dafür, dass wir den Namenstag wie geplant feiern?« Ich drehte mich auf meinem Sitz. Allein ein flüchtiger Blick sagte mir, dass die Mehrheit überwältigend war. Melanies Mutter entgleisten die Gesichtszüge, und meine Mom schlang ihren Arm noch fester um meine Schultern.

Die Gegenfraktion war vielleicht zahlenmäßig unterlegen, aber ihre Reaktion fiel entschieden vehementer aus. Die Leute machten ihrem Ärger lautstark Luft, und der Chief nickte seinen Leuten zu, die daraufhin mit ausgebreiteten Armen durch die Gänge zogen, um wieder für Ruhe zu sorgen.

Mein Vater tätschelte mir den Rücken. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass mich das überrascht. Aber diese Stadt …«

Mir klappte die Kinnlade herunter. »Und … das war’s?« Meine Augen füllten sich mit heißen Tränen. »Dad, wir können doch jetzt nicht einfach … nicht einfach aufgeben! Es geht hier um Daisy

Er seufzte. »Glaub mir Schatz, das weiß ich. Und ich wünschte wirklich, ich könnte hier und jetzt noch irgendetwas tun.«

»Rede mit ihm!«, flehte ich ihn an, und meine Stimme brach. »Rede mit McGinnis. Auf dich wird er hören.«

Dad schenkte mir ein halbherziges Lächeln. »Ich glaube, du überschätzt meinen Charme und meine Überzeugungskraft, Schatz. Oder du unterschätzt den Einfluss, den seine Wähler auf ihn ausüben. Vergiss nicht, dass der Polizeichef hierzulande gewählt werden muss! Aber so oder so, die Sache ist noch nicht vorbei. Du weißt, dass Daisys Eltern nicht ruhen werden, bis sie sie gefunden haben.«

»Und Melanie«, fügte ich hinzu. »Ich meine, natürlich drehe ich wegen Daisy fast durch, aber Melanie schwebt genauso in Gefahr. Ihre Mom hatte recht. Es ist richtig ekelhaft, dass der Chief erst alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, nachdem eine Dewitt verschwunden ist.«

»Nancy«, sagte mein Vater mit ruhiger Stimme, »ich weiß, dass du sehr aufgewühlt bist und dir Sorgen um deine Freundin machst. Und ich mache dir deswegen sicher keinen Vorwurf. Ich mache mir genauso große Sorgen um sie, ehrlich. Aber ein Grund dafür, dass die Suche erst nach Daisys Verschwinden ausgeweitet wurde, könnte nicht nur ihr Nachname sein, sondern auch die Tatsache, dass nun zwei Mädchen vermisst werden.«

Ich schoss ihm einen Blick zu. »Okay, klar. Geh logisch an die Sache ran.«

Er küsste mich auf die Stirn. »Gehen wir nach Hause. Die Vorbereitungen für den Namenstag werden wie geplant weitergehen …«

»Lächerlich«, schnaubte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Vielleicht«, räumte er ein. »Aber deine Mom und ich bleiben an dem Fall dran. Genau wie der Rest der Stadt. Auch diejenigen, die dafür gestimmt haben, den Namenstag wie geplant zu feiern.«

Verräter. Ich blickte zur Bühne. Theo war immer noch dort. Er wirkte furchtbar aufgebracht, aber nun stand ein Mädchen neben ihm: Anna, Carolines Freundin vom Schulhof. Ich wusste, dass sie mit Melanie, Caroline und Daisy in der Theater-AG war. Was auch immer sie zu ihm sagte – in dem hektischen Getümmel konnte ich ihre Lippen nicht lesen –, es schien ihn einigermaßen zu beruhigen. Nach einer Minute verließ er mit ihr den Saal, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf.

Dad nahm meine Hand und drückte sie. Er fühlte sich warm an, sein Griff tröstlich. »Wir werden sie finden, Nancy«, sagte er. »Versprochen.«

Ich nickte. Mein Vater brach seine Versprechen nie. Es war eine der großartigsten seiner vielen großartigen Eigenschaften.

Aber diesmal musste er sich keine Sorgen machen.

Weil noch jemand anders an dem Fall dranblieb:

Ich.