Kapitel 13

Wollen Sie mir damit sagen, dass es in Wahrheit zwei Vorfälle im Zusammenhang mit der Aufführung und diesem sogenannten Fluch gab?«, fragte Rektorin Wagner. Sie klang gleichermaßen besorgt, fassungslos und wütend. Es war durchaus eine Leistung, so viele verschiedene Emotionen in einer einzigen Frage unterzubringen – selbst in einer so schwerwiegenden Frage wie dieser.

Ich verstehe Sie so gut, Rektorin Wagner.

Auch in mir wetteiferten mindestens genauso viele große Gefühle um die Spitzenposition. Mir war nicht entgangen, dass es schon ein ziemlich großer Zufall war, dass ich Glynnis’ Geschichte erst am Abend zuvor gehört hatte und Melanie ausgerechnet heute verschwunden war.

Das Büro der Rektorin war kein besonders verheißungsvoller Ort. Selbst unter den besten Umständen fand man sich hier nur sehr ungern wieder – und die aktuellen Umstände konnte man eindeutig nicht als die »besten« bezeichnen. Oder auch nur als »ganz gut«. Und trotzdem saß ich hier, in einen der steifen, unbequemen Bürostühle gequetscht, die in einem weiten Halbkreis vor ihrem Schreibtisch angeordnet waren. Flankiert wurde ich von Theo, Daisy und Lena auf der einen Seite und von meinem Vater, meiner Mutter und Chief McGinnis auf der anderen. Meine Freunde sahen alle mehr oder weniger besorgt aus, wohingegen uns die Erwachsenen im Raum durch die Bank wütend anfunkelten. Mit anderen Worten: Die Emotionen lagen blank. Melanies Eltern waren ebenfalls verständigt worden und befanden sich momentan auf dem Polizeirevier.

»Ich wusste bereits über Miss Dewitts Spind Bescheid«, sagte Rektorin Wagner. »Aber nun gibt es diese neue … Entwicklung.« Sie verzog bei dem Wort die Lippen. Beinahe sah es aus wie ein unfreiwilliges höhnisches Grinsen.

»Das ist ein ziemliches harmloses Wort dafür«, bemerkte mein Vater. Ich war mit diesem Tonfall nur allzu vertraut: geduldig, gelassen, zurückgenommen. Wer ihn nicht so gut kannte wie ich, konnte beinahe meinen, er sei freundlich.

Aber das war er nicht. Ich erkannte es an der Art und Weise, wie sein Blick ununterbrochen durch den Raum huschte und kurz an sämtlichen Oberflächen hängen blieb, bevor er weiterwanderte. Er nahm alles genau in sich auf, konzentriert und abschätzend. Rektorin Wagner wollte einen Anwalt an ihrer Seite? Nun, hier war er: Carson Drew, in seinem besten, bis zum Anschlag aufgedrehten Juristenmodus.

Rektorin Wagner räusperte sich. »Ihre Reaktion ist absolut verständlich, Mr Drew«, begann sie. »Und ich habe bereits ausführlich mit Melanies Eltern gesprochen. Ich würde das Ganze jedoch nur ungern als etwas Unheilvolleres bezeichnen, es sei denn, mir bleibt keine andere Wahl mehr. Im Augenblick würden wir nur gerne hören, über welche zusätzlichen Informationen Ihre Tochter und ihre Freunde verfügen.« Sie blickte von meinem Vater wieder zu mir, ihre Miene undurchdringlich.

Schon klar. Aber Dad hat recht: Es war trotzdem eine seltsam gleichgültige Formulierung.

Andererseits war Rektorin Wagner noch nie ganz vorne mit dabei gewesen, wenn es um die feinen zwischenmenschlichen Untertöne ging. Vielleicht lag es daran, dass sie sich einfach schon zu viele Jahre lang um überreagierende Eltern und Schüler kümmern musste, deren charakterliche Bandbreite vermutlich von anstrengenden Neurotikern bis hin zu total durchgeknallten Individuen reichte. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass dies irgendwann seinen Tribut forderte.

»Gut«, fuhr sie fort, und ihre Stimme durchschnitt die Spannung im Raum wie Glas, »Melanie wurde im Laufe des Tages als vermisst gemeldet, und Sie drei«, sie blickte Daisy, Lena und mich an, »musstet feststellen, dass das Redaktionsbüro der Schülerzeitung einem Akt von Vandalismus zum Opfer gefallen ist.«

»Außerdem«, warf Chief McGinnis ein, »wurde Daisys Spind gestern Morgen ebenso mutwillig beschädigt, ist das korrekt?«

Daisy nickte stumm. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl nach vorne, um ihr tröstend das Knie zu drücken.

Meine Eltern schossen mir beinahe synchron einen Blick zu, so als hätten sie es zu Hause oder auf dem Weg hierher im Auto geübt. Wie konntest du uns das nicht erzählen?

Ich bin ein Teenager. Ich sollte doch wenigstens ein paar Geheimnisse haben, oder?

»Wenn ich Sie fragen darf, Frau Rektorin«, ging McGinnis dazwischen, und seine Stimme hatte einen herablassenden, beinahe bedrohlichen Unterton. »Woher wissen Sie eigentlich mit solcher Sicherheit, dass die kleine Forest verschwunden ist?« McGinnis war leicht reizbar und von Natur aus misstrauisch, was – im Allgemeinen – natürlich zu den wünschenswerten Eigenschaften eines Polizisten gehörte.

Im Allgemeinen. Was wiederum bedeutete, dass dies hin und wieder eher in der Theorie als in der Praxis zutraf. Auch ich war schon mehr als einmal mit seiner eher stachligen Seite in Berührung gekommen, während verschiedenen meiner Ermittlungen. Auch wenn er es natürlich immer gut meinte und einfach nur versuchte, seine Pflicht zu erfüllen, kam es mir manchmal so vor, als würden er und ich ständig gegeneinanderarbeiten. Ich zog es allerdings vor, zu glauben, dass dies vollkommen unbeabsichtigt und nur auf eine leicht paranoide Interpretation meinerseits zurückzuführen war.

»Sie wollte sich mit mir treffen«, antwortete Theo und lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorne. »Im Büro der Theater-AG. Aber sie ist nicht aufgetaucht.«

»Und was hast du im Theaterbüro gemacht?«, fragte ich instinktiv. Es war der letzte Ort, an dem ich ihn je zu finden erwartet hätte.

Rektorin Wagner seufzte und hob eine Hand. »Miss Drew, wenn Sie es mir vielleicht erlauben würden, diese Unterhaltung zu leiten?«

Ich schenkte ihr meinen besten beschämten Blick. »Natürlich.«

»Danke.« Sie blickte Theo an. »Also: Was haben Sie im Büro der Theater-AG gemacht?«

Hm. Ich schätze, es muss wohl die leichte Abweichung bei der Betonung sein, die den Unterschied ausmacht.

Theos Wangen erröteten. »Ich wollte mich mit Melanie treffen. Um sie zu interviewen.«

»Um sie zu interviewen?«, platzte ich heraus. Ich konnte einfach nicht anders.

»Miss Drew«, ermahnte mich Rektorin Wagner, diesmal nachdrücklicher. »Was habe ich gerade gesagt?«

»Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte ich. »Es ist nur …« Ich drehte den Kopf und starrte Theo ungläubig an. »Um sie zu interviewen? Am Montag hast du noch vehement deine Ansicht verteidigt, wie lächerlich es ist, dass der Masthead überhaupt über den Namenstag berichtet

Er zuckte abwehrend mit den Achseln. »Ja, schon. Aber, du weißt schon … Melanie und ich waren Freunde. Sind Freunde.« Er errötete noch mehr. »Sie ist ja nicht von uns gegangen oder so. Ich meine, nicht für immer, jedenfalls. ›Vermisst‹ ist natürlich nicht gleichbedeutend mit ›von uns gegangen‹.«

»Das will ich doch hoffen«, warf Rektorin Wagner energisch ein.

»Wir werden sie schon wiederfinden«, sagte Chief McGinnis zuversichtlich. »Gut, sie wollte sich also mit Theo treffen, ist aber anscheinend nie im Theaterbüro aufgetaucht, was Theo bemerkte, als er selbst dort eintraf, um sie zu interviewen.«

»Zu interviewen …« Selbst Lena fiel es offensichtlich schwer, das zu glauben. Sie sah Rektorin Wagner an, hob abwehrend die Hände – tut mir so leid! – und setzte eine hilflose Miene auf. Rektorin Wagner schüttelte nur den Kopf, als könnte sie unsere andauernde Unverfrorenheit einfach nicht fassen.

»Sie fand die Idee lustig und meinte, es könnte mir vielleicht sogar helfen, das Ganze mit einem offeneren Blick zu betrachten. Und sie … äh, na ja … sie dachte, es könnte nicht schaden, wenn sie dadurch ein bisschen Publicity für ihre eigene Rolle bei der Aufführung bekäme.«

»Aber dir wurde doch überhaupt kein Artikel zugeteilt«, sagte ich und versuchte immer noch, das Ganze zu verarbeiten. Das hier war im wahrsten Sinne des Wortes das Letzte, was ich von Theo erwartet hätte.

»Was soll ich sagen? Ich stecke eben voller Überraschungen.«

»Also, was haben wir für Hinweise? Was denken wir, wo sie sein könnte?«, fragte ich automatisch.

»Miss Drew.« Diesmal war es McGinnis, der meinen Namen verärgert in die Länge zog. »Haben Sie etwa vor, sich in meine Ermittlungen einzumischen?«

»Nein! Natürlich nicht. Ich will nur helfen.«

Soll heißen: ja, ehrlich gesagt. Ich hatte definitiv vor, mich in seine Ermittlungen einzumischen. Aber: Speck, Mäuse …

»Jetzt wollen Sie uns helfen«, erwiderte er. »Aber als Sie uns hätten erzählen können, was passiert war, und uns so vielleicht dabei hätten helfen können, Melanie zu beschützen, haben Sie es vorgezogen, den Mund zu halten.«

»So war das nicht«, verteidigte ich mich. »Na ja, ich meine, irgendwie schon. Aber Sie müssen mir glauben: Ich habe das nur getan – wir alle haben das nur getan –, weil wir ehrlich dachten, die Sache mit dem Raben sei nur ein schlechter Scherz.« Aber ich hatte das gar nicht wirklich gedacht. Ich hatte nur niemandem davon erzählt, um dem Wunsch meiner Freundin nachzukommen. Und das bedauerte ich, noch viel mehr, als ich jemals hätte vorhersehen können.

»Es war meine Idee, es niemandem zu erzählen«, gestand Daisy mit zitternder Stimme. »Ich hab das Ganze als albernen Streich abgetan. Oder es zumindest versucht. Ich meine, ein Namenstagsfluch? Es klang so … lächerlich.«

»Und Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte doch etwas Gefährlicheres dahinterstecken, nachdem Ihr Spind verunstaltet worden war?«, fragte Rektorin Wagner.

»Doch, schon«, antwortete Daisy leise. »Ich wollte nur nicht darüber nachdenken.«

»Verdrängung«, warf Theo ein, »kann sehr mächtig sein.«

»Wie schön für Sie, dass Sie in der glücklichen Situation waren, diese Entscheidung treffen zu können«, entgegnete die Rektorin mit seidiger Stimme, trotz der Schärfe ihrer Worte. »Unglücklicherweise ist es Melanie womöglich nicht vergönnt, ihr Schicksal auf dieselbe Weise zu lenken.«

Autsch. Halten Sie sich bloß nicht zurück, Frau Rektorin. Aber sie hatte natürlich recht. Meine geheime Ermittlung in Sachen Namenstagsfluch hatte vielleicht wirklich entscheidend dazu beigetragen, dass Melanie verschwunden war. Womöglich wäre sie sonst noch bei uns.

Es war ein Fehler, dachte ich, Daisy diesen Gefallen zu tun, wenn auch nur für ein oder zwei Tage. Ich würde es mir niemals verzeihen, falls Melanie wirklich etwas Ernstes zugestoßen war. Was, wenn sie verletzt war – oder noch Schlimmeres?

So darfst du nicht denken, ermahnte ich mich selbst.

Eins schwor ich mir: In Zukunft würde ich mich nicht mehr zurückhalten. Und ich würde meinem Bauchgefühl unbeirrt folgen, ganz gleich, wohin es mich führte.

»Sie werden doch auch Caroline Mark unter die Lupe nehmen, oder?«, fragte Theo plötzlich. »Und sie befragen?«

»Nach allem, was Sie mir erzählt haben, muss ich gestehen, dass sie auf der Liste meiner Verdächtigen ziemlich weit oben steht. Sie scheint jedenfalls eindeutig zu den Schülern zu gehören, die ein echtes Motiv haben durchblicken lassen.« Chief McGinnis klang ernst.

Moment mal, nein! »Aber …«, protestierte ich. »Sie mag vielleicht ein Motiv haben, aber sie hat auch ein Alibi. Sie hat mir erzählt, dass sie bei Mr Stephenson war, und er hat es mir bestätigt, als ich mit ihm gesprochen habe.«

»Ich bin Ihnen für Ihr eifriges Engagement durchaus dankbar, Miss Drew«, erwiderte der Chief, sah dabei jedoch eindeutig undankbar aus. »Aber dennoch glaube ich, dass ich Caroline einen kleinen Besuch abstatten und mich mit ihr unterhalten werde. Natürlich nur, falls Sie nichts dagegen haben, dass ich meine Ermittlungen auf meine Weise führe.«

»Natürlich nicht, Sir«, erwiderte ich und spürte, wie mein Gesicht zu glühen begann. Allerdings hatte ich sehr wohl etwas dagegen, wenn er seine Ermittlungen vermasselte. »Es ist nur, na ja … selbst wenn Sie das Alibi durch Stephenson außer Acht lassen …«

»Sie sind die Erste, die es erfährt, falls ich mich dazu entschließen sollte«, unterbrach McGinnis mich. »Ich hoffe, das ist in Ordnung?«

»Kein Grund, sarkastisch zu werden«, ging mein Vater dazwischen und hob eine Hand.

»Selbst wenn Sie dies täten«, fuhr ich so ungerührt fort, wie ich konnte, »ist es doch völlig undenkbar, dass Caroline Mark Melanie … na ja … gekidnappt haben könnte. Ich meine, sie ist Highschool-Schülerin

»Nun, das ist ein interessantes Argument, Miss Drew. Vor allem von einer Highschool-Schülerin, die im Augenblick darauf besteht, dass ich sie in ihrer Eigenschaft als Privatdetektivin ernst nehme. Oder finden Sie nicht auch?«, fragte er ein wenig hämisch.

Ich presste die Lippen ganz fest zusammen, wandte den Blick ab und weigerte mich, ihm die Genugtuung einer Antwort zu geben. Trotzdem konnte ich spüren, wie meine Mutter mir einen mitfühlenden Blick zuwarf.

»Und falls es noch irgendwelche anderen Hinweise gibt«, sprach McGinnis weiter, »Hinweise, die Sie mit mir teilen wollen, meine ich, dann kann ich Ihnen versichern, dass wir ihnen genauso nachgehen werden.«

»Ich werde Ihnen nichts mehr verschweigen«, erwiderte ich ernst. Ich schämte mich immer noch dafür, dass ich möglicherweise dazu beigetragen hatte, dass Melanie etwas passiert war. Trotzdem nahm ich es McGinnis übel, dass er offensichtlich versuchte, in offenen Wunden zu bohren und dafür zu sorgen, dass ich mich deswegen so mies wie möglich fühlte. Und mir schreckliche Sorgen machte.

»Es freut uns, das zu hören«, sagte Rektorin Wagner, so förmlich und steif wie eh und je.

»Können wir Ihnen denn irgendwie helfen?«, fragte mein Vater. Er wirkte angespannt, so als würde er am liebsten von seinem Stuhl aufspringen. Aber es war nicht wegen dieses Falls, das wusste ich. Er war einfach kein besonders großer Fan von Rektorin Wagner und ihrer, äh, strengen Persönlichkeit, wie er es gerne ausdrückte.

Meine Mutter legte beruhigend eine Hand auf sein Knie. »Carson steht Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung, falls Sie noch weitere Fragen haben sollten.« Von den beiden war schon immer sie diejenige gewesen, die es schaffte, die Wogen bei so gut wie jeder zwischenmenschlichen Interaktion zu glätten, ganz gleich, wie unangenehm sie auch war.

Und diese hier droht, gleich ziemlich unangenehm zu werden.

»Selbstverständlich«, sagte er. »Und ich kann Ihnen versichern, dass die Schule nicht für Melanies Verschwinden haftbar gemacht werden kann.«

»Nun, das hängt ganz davon ab, was unsere Ermittlungen zutage fördern«, ergänzte McGinnis.

Mein Vater neigte den Kopf zur Seite und dachte widerwillig darüber nach. »Sicher. Ausnahmen bestätigen natürlich immer die Regel.«

»Und«, warf Lena mit funkelnden Augen ein, »natürlich ist es die Frage der Haftbarkeit, die uns alle im Moment am meisten beschäftigt, da ein Mädchen spurlos vom Schulgelände verschwunden ist.«

»Sie können wieder von Ihrem Rednerpult zurücktreten, Miss Barrow«, sagte Rektorin Wagner. »Wir machen uns genauso große Sorgen um Miss Forest wie Sie.«

»Ja, das klingt mir auch ganz danach«, erwiderte Lena ein wenig bissig. Ich räusperte mich wenig dezent, um ihr vorzuschlagen, vielleicht einen oder zwei Gänge runterzuschalten, und sie verschränkte daraufhin tatsächlich mit einem Schnauben die Arme vor der Brust.

»Aber wenn ich der Polizei in der Zwischenzeit irgendwie von Nutzen sein kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen, Chief«, fügte mein Vater hinzu. »Darauf wollte ich eigentlich hinaus.«

Lena stieß erneut ein leises Schnauben aus und schlang die Arme noch fester um sich, aber immerhin gelang es ihr diesmal, den Mund zu halten.

»Und wenn ich das anmerken darf«, sagte meine Mutter mit weiten Augen und offener Miene. »Ich nehme mir gerne etwas Zeit, um mich mit dem Schulpsychologen zu treffen und ihm ein paar Tipps in Sachen Krisenberatung zu geben. Ich bin natürlich auch gerne bereit, selbst eine Sprechstunde für die Schüler hier im Haus einzurichten. Oder einen Vortrag zu diesem Thema zu halten. Was immer in Ihren Augen das Beste wäre. Ich bin mir sicher, dass die Schüler einige Fragen haben und diese Neuigkeit erst einmal verarbeiten müssen.«

Ich schaute meine Mutter an, überflutet von Liebe. Wo ich nur Rätsel sah, die es zu lösen galt, sah sie Menschen, denen geholfen werden musste. Sie war einfach unglaublich.

»Danke, Mrs Drew«, erwiderte Rektorin Wagner und schenkte meiner Mutter ihr erstes aufrichtiges Lächeln seit Beginn dieser Unterhaltung. Meine Mutter hatte diese Wirkung häufig auf Menschen. Es schien zu den Eigenschaften zu gehören, die eine Generation übersprungen hatten. »Ich bespreche die Sache mit unserem Schulpsychologen. Einer von uns wird sich dann bei Ihnen melden.«

»Großartig«, sagte der Chief und erhob sich. »Wenn wir hier fertig sind, will ich versuchen, Caroline Mark zu erwischen. Weiß vielleicht irgendjemand, wo sie sich im Augenblick aufhält?«

»Sie können sich an meine Sekretärin draußen wenden. Sie verwaltet sämtliche Stundenpläne und Schülerakten«, antwortete Rektorin Wagner.

»Sie hat eine Freistunde«, fügte Theo hinzu. »Aber, äh, sie ist nicht in der Schule. Glaube ich jedenfalls. Sie hat erwähnt, dass sie ihr Auto in die Werkstatt bringen will. Wir können auf dem Parkplatz nachsehen, ob sie noch hier ist.«

»Was stimmt denn nicht mit ihrem Auto?«, wollte Chief McGinnis wissen, und mir ging genau dieselbe Frage durch den Kopf.

Theo zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht so genau. Sie hat es vorhin im Klassenzimmer nur kurz erwähnt, das ist alles. Irgendwas ist wohl mit den Scheinwerfern. Oder nur mit einem der Scheinwerfer?«

Mir blieb die Luft im Halse stecken. Scheinwerfer.

Zwei Scheinwerfer – einer flackernd, kurz erlöschend.

Ich, allein auf der Straße, auf der Rückfahrt von Stone Ridge.

Bleiche, von Dreck überzogene Knöchel in meinem Rückspiegel, mit dicker Schnur gefesselt.

Ich hatte an jenem Abend das Gefühl gehabt, dass mich jemand beobachtete. Und dann diese Nachricht auf meiner Windschutzscheibe – im einen Moment noch dort, im nächsten verschwunden. Hatte ich sie mir nur eingebildet? Oder wollte mir tatsächlich jemand Angst einjagen?

Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Vertrau auf dein Bauchgefühl, hörte ich das Echo meiner inneren Stimme.

Aber diesmal sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich diese Sache für mich behalten sollte, nur noch für eine Weile. Ja, Melanie war verschwunden. Und ja, es ließ sich nicht ignorieren, was möglicherweise auf dem Spiel stand. Aber ich glaubte einfach nicht, dass Caroline Mark eine Entführung geplant und in die Tat umgesetzt hatte – genauso wenig, wie ich glaubte, dass ich den Geist eines erhängten Mannes in meinem Rückspiegel gesehen hatte.

Mein Bauchgefühl riet mir, Chief McGinnis die Spur verfolgen zu lassen, deren Fährte er bereits aufgenommen hatte. Weil mir dadurch ein wenig mehr Zeit blieb, selbst ein bisschen zu graben. Wenn Caroline Mark nicht die Hauptverdächtige war, wer dann? Und war der flackernde Scheinwerfer – oder die Erinnerung an das Auto, das mich neulich abends verfolgt hatte – nur eine Ausgeburt meiner Fantasie? Oder etwas Schlimmeres?

Allerdings wusste ich noch nicht einmal, was dieses »Schlimmere« in dieser Situation bedeuten könnte. Aber ich wollte auch nicht allzu sehr darüber nachdenken. Die Situation war ohnehin bereits außer Kontrolle geraten. Und ich hatte schon jetzt, bevor ich dieses Büro auch nur verlassen hatte, meinen Schwur gebrochen, Rektorin Wagner und Chief McGinnis gegenüber vollkommen offen zu sein …

Was soll ich sagen? Ich bin nun mal wirklich nicht die Beste darin, Anweisungen zu befolgen.

Meine Eltern und ich verließen gerade das Büro der Rektorin, als Daisys Mutter eintraf.

»Was machst du denn hier?«, fragte Daisy. Ihr Gesicht wurde beim Anblick ihrer Mom kreidebleich.

Daisys Mutter wirkte hager, ausgezehrt. Außerdem war sie kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie trug einen langen Wollrock – für Anfang Frühling viel zu lang; er sah sogar aus, als sei er bei diesen milden Temperaturen richtig unangenehm – und dazu eine schlichte weiße Bluse und einen Schal mit dem leuchtend roten Aufdruck eines Vogels. Mir fiel wieder ein, dass Daisy mal erwähnt hatte, dass Rotkehlchen die Lieblingsvögel ihrer Mutter waren, was wahrscheinlich das einzige persönliche Detail war, das mir über Mrs Dewitt bekannt war.

»Die Rektorin hat mich gebeten, herzukommen. Sie will mit mir über diese … Fluchgeschichte sprechen«, antwortete sie mit leiser Stimme. Daisy warf mir einen Blick zu.

»Mrs Dewitt«, platzte ich heraus. Ich kam mir ziemlich unbeholfen vor, aber ich wollte Daisy unbedingt ein Stück aus der Schusslinie ziehen. »Rektorin Wagner hat alles im Griff. Sie können völlig unbesorgt sein.«

Sie schenkte mir ein knappes, eisiges Lächeln. »So sehr im Griff, dass mir niemand wirklich sagen konnte, was hier eigentlich los ist?«

Touché.

»Ab in den Unterricht, Daisy!«, herrschte ihre Mutter sie finster an. »Wir sehen uns, wenn ich hier fertig bin.«

Daisy warf mir erneut einen Blick zu, aber ich konnte nicht das Geringste für sie tun.

Parker: Hab ich dich gerade aus dem Büro der Rektorin kommen sehen, mit deinen Eltern und Chief McG?

Nancy: rot werd Erwischt.

Parker: Alles in Ordnung?

Nancy: Bei mir? Ja.

Nancy: Bei Melanie Forest eher weniger. Du weißt schon: von der Zeitung.

Parker: Klar, ich kenne Melanie. Und ja, ich hab’s gehört.

Nancy: Tja, solche Nachrichten verbreiten sich schnell.

Parker: Und was wollte der Chief von dir?

Parker: Warte, glaubt er etwa, es gäbe einen Zusammenhang mit Daisys Spind? Und der Sache mit dem Raben?

Nancy: Ist schwer, da nicht von einem Zusammenhang auszugehen. Außerdem wurde das Redaktionsbüro total demoliert.

Parker: Moment mal – davon hatte ich noch nichts gehört.

Nancy: In dem Fall muss ich dann wohl die Überbringerin der schlechten Nachrichten spielen …

Parker: In der Mittagspause auf dem Schulhof? Dann können wir uns richtig unterhalten.

Nancy: Falls wir nicht alle zu einer Krisenversammlung einbestellt werden, sind wir hiermit verabredet.

Parker: Noch so was, das du mir näher erklären kannst.

Parker: Aber von den schlechten Nachrichten mal abgesehen: Ich freu mich.

Nancy: Ich mich auch. Wir sehen uns in der Mittagspause.