Die Fahrt war kurvenreich, die Straße für gut fünf Kilometer unbefestigt, bevor ich das Anwesen endlich erreichte. Das Grundstück war mit keinem Navi zu finden. Wenn man nicht wusste, wo es war, wusste man auch nicht, dass es existierte.
Aber ich wusste es.
Auch wenn mein letzter Besuch hier schon sehr lange her war. Auch wenn es der erste und einzige gewesen war – ich wusste es.
Ich hatte nur Melanie aufspüren und mir von ihr bei der Sache mit dem Raben einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben lassen müssen, um diese Erinnerung endlich wieder freizusetzen, die tief in meinem Unterbewusstsein vergraben gewesen war und mich endlos geneckt hatte.
OAKLAND GREEN. Auch das Schild sah man nur, wenn man wusste, dass man danach suchen musste: die Umrisse eines Eichenblatts, in Holz geschnitzt und an einen niedrigen Baumstamm genagelt, der am Rand der Landstraße stand. Hier war man tief in den Wäldern von Maine, weit hinter Stone Ridge oder der Gegend, in der sich die Sommerlager befanden.
Hier lebte Daisys Familie.
Beim ersten Mal war ich in den Sommerferien hier gewesen. Ich war damals noch klein, und meine Eltern hatten meinen Kinderrucksack für mich gepackt und mich hier abgeliefert, damit ich ein langes Wochenende mit Daisy auf dem Wohnsitz ihrer Familie verbringen konnte. Ihre Mutter kam oft auf die Farm, um Vögel zu beobachten, ihr Lieblingshobby. Das Anwesen erstreckte sich über mehrere Gebäude in den unterschiedlichsten Zuständen des Verfalls, wobei viele von ihnen für Daisy und mich verboten waren. Nicht, dass ich besonders erpicht darauf gewesen wäre, mich allzu weit vom Hauptgebäude der Farm zu entfernen. Die Bäume rund um das Grundstück standen besonders dicht, um die Dewitts vom Rest der Welt abzuschirmen, wie mir jedoch erst später klar wurde, und sie wirkten irgendwie bedrohlich.
Selbst als ich noch jünger war, bevor ich meine detektivischen Instinkte geschärft hatte, war mir bewusst gewesen, dass die Dewitts Geheimnisse hatten.
Überall waren Vögel – was auf einer Farm auf dem Land, umgeben von Wald, natürlich nicht ungewöhnlich erschien. Aber wenn Daisy und ich auf den Schaukeln im Garten hinter dem Haus spielten, konnte ich einfach nicht aufhören, immer wieder über meine Schulter zu blicken, angespannt und nervös, und darüber nachzudenken, wo sie sich vielleicht versteckten. Und uns beobachteten.
In jener Nacht, während eines Sommergewitters, war plötzlich ein ganzer Schwarm Raben unruhig geworden. Die wild flatternden, laut krächzenden Vögel hatten mit den Flügeln unerbittlich gegen das Fenster des Zimmers geschlagen, in dem Daisy und ich unsere Schlafsäcke ausgerollt hatten. Während sie tief und fest schlief, hatte ich starr vor Schreck zugesehen, wie das Glas unter ihrem unnachgiebigen Ansturm schepperte und bebte, wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Dabei hatte mir schon als Kind nichts so schnell Angst eingejagt.
Am nächsten Morgen war mir alles wie ein böser Traum vorgekommen. Am Frühstückstisch war Daisy genauso fröhlich und plapperte genauso munter drauflos wie immer, ohne die nächtliche Störung mit einem Wort zu erwähnen. Ich nickte nur und starrte mit verzerrter Miene in meine Schüssel mit labbrigen Cornflakes.
Aber ich habe diese Farm nie wieder besucht.
Aus dem Zusammenhang gerissen wirkte die Erinnerung vielleicht eher harmlos. Ein bizarres Erlebnis mit Natur und Tier war in einer ländlichen Kleinstadt in Maine schließlich nichts Ungewöhnliches. Nicht jeder würde dabei mehr als zehn Jahre später eine Verbindung zu einem Raben mit einer Nachricht im Schnabel ziehen.
Aber ich bin eben nicht jeder.