Kapitel 9

Das Rathaus von Horseshoe Bay. Wie so vieles in unserer Stadt schien das Gebäude direkt einem Norman-Rockwell-Gemälde entsprungen zu sein: verblasste, von der Sonne gebleichte Ziegelsteine, ein von griechischen Säulen flankierter Eingang und ein auffälliger Erkerturm, der hoch vor dem wolkenlosen blauen Himmel aufragte. Die salzige Luft hatte die Schindeln zu einem verwitterten grauen Farbton geschliffen, der in deutlichem Kontrast zum Hintergrund der Küstenlandschaft stand.

Außerdem war es möglicherweise meine letzte Hoffnung, doch noch irgendetwas über die Geschichte des Namenstagsfluchs herauszufinden.

Nicht, dass ich mich bei dieser Mission zu sehr unter Druck setzen will oder so.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr: 16:13 Uhr. Von meiner Bekannten wusste ich, dass das Rathaus an Werktagen zwar offiziell um 16:30 Uhr schloss, das Archiv jedoch von einem missmutigen siebzigjährigen Gameshow-Fan verwaltet wurde, der jeden Tag ohne Ausnahme punkt Viertel vor vier nach Hause eilte, um Der Preis ist heiß im Fernsehen nicht zu verpassen. Und auch wenn ich mich fragte, warum er sich so sehr gegen das Zeitalter des Streamings sträubte, musste ich zugeben, dass seine altmodischen Gepflogenheiten für meine Ermittlungen äußerst hilfreich waren.

Ich konnte das Rathaus auf keinen Fall durch den Haupteingang betreten – die Frau an der Anmeldung kannte meine Eltern und hätte mich sofort erkannt. Ich tat zwar nichts Unerlaubtes, aber ich konnte auch keine Fragen oder Störungen von irgendwelchen Autoritätspersonen gebrauchen. Zum Glück wurde der Seiteneingang nicht überwacht. Die Menschen in einer Kleinstadt konnten häufig ebenso charmanter- wie törichterweise viel zu vertrauensselig sein, aber in diesem Fall würde ich mich ausnahmsweise nicht darüber beschweren. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet mir, dass mich niemand beobachtete. Aber warum hätte mich auch irgendjemand beobachten sollen? Schließlich hatte niemand eine Ahnung, dass ich den Fluch untersuchte. Trotzdem: Sei immer dankbar für die kleinen Dinge im Leben, wie es so schön heißt. Ich drückte die Türklinke.

Abgeschlossen.

Okay, klitzekleines Problem. Aber nur ein klitzekleines. Schließlich knackte ich schon Schlösser, seit ich sieben war. Ich nahm den passenden Dietrich aus dem Set, das ich immer in meiner Tasche hatte, und nach ein paar schnellen Drehungen ließ sich die Klinke herunterdrücken. Ich war drin.

Ein weiterer Vorteil, wenn man in einer kleinen Stadt lebte: Unser Rathaus war ebenfalls relativ klein. Das Archiv befand sich im Keller, direkt um die Ecke, den Flur entlang und dann eine Treppe hinunter. Ich konnte Schritte aus dem vorderen Teil des Gebäudes hören. Offensichtlich waren nicht alle im Rathaus von Uraltgameshows im Fernsehen besessen, was in gewisser Weise eine Erleichterung war, auf rein soziologischer Ebene. Trotzdem gelangte ich unbemerkt in den Raum.

Und dann rutschte mir das Herz in die Hose.

Denn auch wenn Horseshoe Bay eine kleine Stadt war, wirkte seine Geschichte – in Kisten verpackt und übereinandergestapelt, Reihe an Reihe, Regal an Regal – absolut endlos. Die Stapel, die mit ZEITUNGEN überschrieben waren, nahmen eine komplette Wand ein und waren höher als ich. Viel höher.

Wenigstens sind sie beschriftet.

Was Silberstreifen anging, war es ein ziemlich blasser.

Die Kisten waren alphabetisch sortiert: Beacon Bangor, the; Boston Chronicle, the; Daily Montpelier, the … Die mit Horseshoe Bay Tribune, the beschrifteten Kisten ragten in einem eigenen Turm vor der Wand auf, wobei sich die ältesten Ausgaben ganz unten befanden. Ich musste den Zeitraum irgendwie eingrenzen. Aber von wann stammte dieser einzige Online-Treffer? Plötzlich war mein Kopf vollkommen leer. Ich zog mein Handy heraus.

Kein Empfang. Natürlich. Hier unten, in den Eingeweiden des Rathauses, konnte ich noch nicht einmal den fehlerhaften Link zu Hilfe nehmen.

Bloß gut, dass ich neulich mit dem Handy ein Foto von den Suchergebnissen auf dem Bildschirm gemacht hatte.

Sagen wir einfach, ich hatte auf die harte Tour gelernt, wie wichtig es war, stets auf Nummer sicher zu gehen.

Ich öffnete meine Galerie. Das Foto war eines der Ersten im Album. Der Beitrag »Segen oder Fluch?« war offensichtlich auf der Meinungsseite der Zeitung erschienen, und auch wenn der Name des Autors nicht aufgeführt war, war zumindest das Jahr angegeben: 1971. Bingo.

Oder … so gut wie Bingo. 1971 umfasste »nur« drei Kisten. Großartig. Das würde ungefähr … ewig dauern. Für Mathe hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.

Aber Moment. In dem verschollenen Artikel ging es um den Namenstag, klar, was wiederum bedeutete, dass er zu dieser Jahreszeit erschienen sein musste. Das grenzte den Zeitraum noch entschieden weiter ein.

Erleichtert zog ich die Kiste heraus, die ich brauchte, und musste niesen, als ich dabei eine Staubwolke aufwirbelte. Ich blätterte so vorsichtig wie möglich durch die hauchdünnen Seiten. Mir war bewusst, dass die Zeitungen nach all den Jahren sehr empfindlich waren.

Zwanzig Minuten später hatte ich es. Wer brauchte schon Mathematik? Hin und wieder brauchte man einfach nur ein bisschen Glück. Auf der Titelseite einer Ausgabe der Tribune von 1971 entdeckte ich einen Anreißer: »Langjähriger Einwohner sieht Silberstreifen bei sogenanntem Namenstagsfluch«, und darunter den Hinweis »mehr auf S. 13«.

Ich blätterte hastig weiter und versuchte, den neugierigen Eifer zu dämpfen, der in mir aufstieg.

Ganz ruhig bleiben, Drew.

Es war vernünftig, mich von meiner Begeisterung nicht hinreißen zu lassen, denn als ich die entsprechende Seite aufschlug …

Fehlte der Artikel.

»Glück« konnte ich also wieder streichen.

Allerdings war nicht die komplette Seite herausgerissen. Wer immer auf dieser Welt auch absichtlich oder versehentlich versuchte, meine Ermittlungen zu sabotieren, war offensichtlich der Ansicht, dass das übertrieben gewesen wäre. Nein, es fehlte nur die untere Hälfte, so sauber herausgetrennt, dass man beinahe hätte meinen können, es müsste so sein – wenn dieser »man« nicht zufällig ich gewesen wäre und bis eben noch verzweifelt, aber voller Energie versucht hätte, den fraglichen Artikel zu finden.

Ich blinzelte verwirrt und weigerte mich, meinen eigenen Augen zu trauen. Ich warf noch einmal einen Blick auf die Titelseite: mehr auf S. 13. Dann blickte ich auf die obere rechte Ecke der Seite: 13.

Der Artikel fehlte definitiv. Und das war höchstwahrscheinlich kein Zufall.

Aber … vielleicht war er ja doch nicht so sauber entfernt worden.

Ein Detektiv der alten Schule hätte zur Lupe gegriffen – man denke an Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Aber das hier war das einundzwanzigste Jahrhundert. Ich zog mein Smartphone heraus.

Der Schnitt ging entlang der Falz. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als sei alles herausgeschnitten worden, das mir irgendwie hätte von Nutzen sein können.

Glücklicherweise war ich klug genug, mich nicht auf den ersten Anschein zu verlassen.

Ich klickte auf meine Kamera, ließ die Finger über die glatte Glasoberfläche des Handybildschirms gleiten und zoomte heran. Langsam nahmen die Formen, die zunächst nach nicht viel mehr als wahllosen Schnörkeln ausgesehen hatten, immer mehr Gestalt an und enthüllten wie die verzerrten Reflexionen von Buchstaben in einem Spiegelkabinett ihr Bedeutung. Es dauerte einen Moment, bis mein Gehirn alle Einzelteile zu einem Ganzen zusammengesetzt hatte.

S-T-R-A-T-H-M-O-R-E.

Es war kein offensichtliches Wort, nichts, das ich – oder irgendjemand sonst – hätte erraten können. Aber das war in Ordnung. Weil ich das hier schon ziemlich lange machte. Es war kein offensichtliches Wort – es war ein Nachname.

Der Nachname der Person, die den Artikel geschrieben hatte.

Hier waren die Fakten:

Zum einen gab es nicht den Hauch einer Online-Spur. Dann der fehlende Artikel im offiziellen Archiv des Rathauses. Irgendjemand dort draußen wollte wirklich nicht, dass irgendwer diesen Artikel las. Und ich würde herausfinden, warum. Diese zerschnittene Zeile war zwar nichts weiter als ein Nachname, aber sie war immerhin eine kleine Spur. Und auch wenn ich nicht wusste, ob sie zu mehr führen würde als meine erste Internetsuche, hatte ich jetzt wenigstens einen winzigen Hinweis.

Und ich hatte schon Fälle mit schlechteren Vorzeichen gelöst. Viel schlechteren.

Ich rollte die alte, unvollständige Zeitung wieder zu einer dünnen Rolle auf und behandelte das altersschwache Papier dabei ebenso behutsam wie zuvor. Dann steckte ich die Zeitung in meine Umhängetasche, stellte die Kisten, die ich durchsucht hatte, wieder ins Regal, ging auf demselben Weg zurück, auf dem ich gekommen war, und trat aus dem Gebäude in den verblassenden Sonnenschein des frühen Abends.

Ich war so sehr damit beschäftigt, die Augen nach irgendwelchen Erwachsenen offen zu halten, die mich vielleicht im Auge behielten, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, auch auf Leute in meinem Alter zu achten.

»Caroline!« Ich rannte im wahrsten Sinne des Wortes direkt in sie hinein und prallte so schwungvoll mit ihr zusammen, dass wir beide rückwärtstaumelten. Auch sie hatte ihre Schultasche dabei und wirkte durch unseren Zusammenstoß ziemlich aus dem Konzept gebracht.

»Was zur Hölle?«, fluchte sie und schien wirklich verärgert zu sein. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen. »Ich weiß ja, dass du und deine Freundinnen denkt, die Welt würde sich nur um euch drehen, aber du könntest trotzdem zumindest versuchen, nicht direkt durch andere Leute durchzugehen, wenn’s dir nichts ausmacht!«

»Tut mir leid. Ich war … abgelenkt. Und ich denke nicht, dass sich die ganze Welt nur um mich dreht.« Sie bedachte mich mit einem Blick, der mir sagte, dass mein Protest vollkommen sinnlos war.

»Was machst du überhaupt hier?«, wagte ich trotzdem einen Vorstoß. Vor dem Rathaus, meinte ich, das schließlich nicht unbedingt als typischer Highschool-Treff bekannt war. Mir war jedoch auch klar, dass sie offensichtlich der Ansicht war, dass es mich exakt null anging, warum sie an einem x-beliebigen Dienstagabend auf einer öffentlichen Straße spazieren ging.

Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Oder, um genauer zu sein: als würde ich meine Nase in Dinge stecken, die mich exakt null angingen. »Ich geh die Main Street runter, genau wie du.«

Ich hob die Hände in einer Hey, ich will keinen Ärger-Geste. »Alles klar. Schon gut.«

Sie rollte mit den Augen: nach wie vor ein wenig wässrig. Ich nahm an, dass sie immer noch nicht darüber hinweg war, dass sie keine Rolle bei der Namenstagsaufführung bekommen hatte. Auch wenn sie sich, im Licht der jüngsten Ereignisse betrachtet, deswegen eigentlich hätte glücklich schätzen sollen.

Apropos … Carolines Name war der erste auf unserer Liste gewesen, als wir die erste Nachricht entdeckt hatten. Oder zumindest der zweite Name, nachdem Theo es geschafft hatte, uns davon zu überzeugen, dass er viel zu faul war, um etwas so Aufwendiges wie diesen kleinen Scherz durchzuziehen. Ich hatte jedoch noch nicht die Chance bekommen, sie deswegen zu verhören … äh, sie danach zu fragen, meine ich.

Sie sah mich immer noch böse an. »Wenn du mich irgendwas fragen willst, Nancy, dann tu dir keinen Zwang an.«

Okay. Sie kommt direkt zur Sache. Es gefiel mir. Es machte das Ganze viel einfacher. »Na ja … wenn du mich so nett bittest.«

Sie seufzte schwer.

»Ich habe mich gefragt, ob du dich am Montagnachmittag irgendwo auf dem Schulgelände aufgehalten hast … ungefähr zu der Zeit, als die Masthead-Redaktionssitzung stattfand?«

Sie hob eine Augenbraue. »Und ich nehme an, du hast dich auch gefragt, ob ich heute irgendetwas mit Daisys Spind zu tun hatte. Mit dieser Vandalismus-›Fluch‹-Geschichte?«

Okay, du hast mich durchschaut. Ich musste zugeben, dass ich überrascht war, dass sie meine Fragen vorhergesehen hatte. Als ich sie nur neugierig anschaute, fügte sie hinzu: »Lena hat sich mit mir ›unterhalten‹. Heute, nach der Schule.« Mir entging nicht, dass sie das Wort »unterhalten« besonders betonte. Ich bezweifelte, dass es sich nur um eine freundliche Plauderei gehandelt hatte.

Oh. »Okay«, sagte ich. »Das wusste ich nicht.«

»Oh, bitte.« Sie schnaubte verächtlich.

Ich konnte ihr nur schwer einen Vorwurf daraus machen, dass sie mir nicht glaubte. »Ich schwöre es«, versicherte ich ihr und versuchte, meiner Stimme so viel Aufrichtigkeit wie möglich zu verleihen. »Ich hatte keine Ahnung. Obwohl es durchaus Sinn ergibt, jetzt, da du es erwähnst.« Sosehr überhaupt etwas an dieser ganzen Sache Sinn ergab, natürlich.

»Nicht, dass es dich irgendetwas anginge«, fuhr sie mit funkelnden Augen fort, »aber ich sage dir das Gleiche, was ich schon Lena erzählt habe: Rein zufällig war ich am Montagnachmittag in der Schule. Ich hab in der Bibliothek an einem Aufsatz gearbeitet. Und am Dienstag war ich mit einem Lehrer zusammen.«

»Okay.« Ich wartete. Ich hatte das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte und sie kurz davor war, es mir zu verraten – wenn auch äußerst widerwillig.

»Ich war bei Mr Stephenson.« Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und forderte mich förmlich heraus, nachzubohren.

Sie klang dabei so selbstbewusst, als sei unsere Unterhaltung mit dieser Aussage unwiderruflich beendet. Ich wünschte, ich könnte ihr da zustimmen. Einerseits musste sich die betreffende Person nicht zwingend in der Nähe des Redaktionszimmers aufgehalten haben, um den Raben loszuschicken … aber andererseits war es auch ein ziemlich gewagter Schachzug, den Namen eines Lehrers so nonchalant ins Spiel zu bringen, wie Caroline es getan hatte. Denn als Alibi ließ sich ihre Behauptung mit Leichtigkeit verifizieren oder widerlegen. Ganz davon zu schweigen, dass sie mit keinem Wort einen Raben erwähnt hatte, was der Schuldige möglicherweise getan hätte, um zu widerlegen, dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, oder sich explizit von dieser bizarren Aktion zu distanzieren.

»Du kannst ihn ja fragen, wenn du willst.« Caroline schaute mich immer noch an und wartete, wie ich annahm, auf eine dramatischere Reaktion.

Ich versuchte, lässig zu wirken, obwohl ich natürlich – natürlich – genau das tun würde, sobald ich die Gelegenheit hatte, ihn danach zu fragen. »Okay«, erwiderte ich. »Aber du weißt schon, selbst wenn er dein Alibi für Dienstag bestätigt …«

»Oh, jetzt brauche ich also schon ein Alibi, das ich mir bestätigen lassen muss?«, fragte sie mit erhobener Stimme.

Jetzt seufzte ich. »Was willst du denn von mir hören, Caroline? Es ist etwas ziemlich Seltsames passiert. Und du weißt darüber offensichtlich bereits Bescheid, weil Lena dich darauf angesprochen hat. Auch wenn es so klingt, als sei sie dabei nicht besonders nett zu dir gewesen. Aber was immer sie auch zu dir gesagt hat, es hat zumindest so viel Eindruck bei dir hinterlassen, dass du angenommen hast, ich hätte auch noch ein paar Fragen an dich.«

»Hat es.« Ihre Stimme klang angespannt. »Und hier bist du auch schon und quetschst mich aus. Rein zufällig.«

»›Vorhersagbar‹ gehört definitiv nicht zu den schlimmsten Attributen, mit denen man mich in der Vergangenheit bedacht hat. Okay, Caroline, du sagst, dass du am Dienstag bei Mr Stephenson warst. Ich bin geneigt, dir das zu glauben. Was Alibis betrifft, gehört es, wie schon gesagt, auf jeden Fall in die Kategorie ›leicht zu bestätigen‹ – oder zu widerlegen. Für den Vorfall während der Redaktionssitzung hat es jedoch keine Bedeutung. Wie du ja weißt, hat heute jemand Daisys Spind beschmiert. Aber selbst wenn du mit dieser Sache nichts zu tun hattest, könntest du trotzdem für den Masthead-Zwischenfall verantwortlich sein.«

»Und wie soll ich das angestellt haben? Oder hast du vor, ohnehin die gesamte Schülerschaft zu verhören?«, fragte sie.

Gute Frage.

Gegenfrage: »Daisy ist meine beste Freundin. Musst du mich das wirklich erst fragen? Wenn es sein muss, dann werde ich genau das tun. Aber für den Moment beschränke ich mich auf die Schüler, die ein Motiv hatten, weil sie die Aufführung stoppen wollen.« Nun blickte ich sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Wie du.«

Sie schluckte. Die Frühlingsbrise wehte ihr das Haar aus dem Gesicht. »Hör mal, ich weiß ja, dass ich auf dem Schulhof total ausgerastet bin, als die Besetzungsliste veröffentlicht wurde.«

»Das war mehr als nur ein ›Ausraster‹«, erwiderte ich. »Wenn ich mich recht erinnere, war es ein richtiger Nervenzusammenbruch, der ein Eingreifen von keinem anderen als Mr Stephenson erforderte.«

»Okay, was auch immer. Ich bin total durchgeknallt, aber ich werde mich sicher nicht mit dir darüber streiten, wie wir es bezeichnen wollen. Und ja, ich war enttäuscht, unendlich enttäuscht. Ich hatte wirklich erwartet, dass ich eine Rolle kriege. Die Aufführung ist hier schließlich ein Riesending. Ich meine, was ist denn in diesem verschnarchten Nest sonst schon los?«

»Ich mag dieses verschnarchte Nest rein zufällig«, entgegnete ich, doch noch während ich es aussprach, ging mir auf, dass mir diese Behauptung wohl auch deshalb so leicht fiel, weil mein Bewerbungsformular für einen Studienplatz an der Columbia University im nächsten Jahr nur noch darauf wartete, dass ich es ausfüllte.

Caroline klang ein wenig milder. »Ich doch auch«, gab sie zu. »Ich schätze, mich über Horseshoe Bay und den Namenstag lustig zu machen ist eben meine Art, so zu tun, als sei es keine große Sache für mich, dass ich kein Teil davon sein kann – so wie ich es mir vorgestellt hatte. Das verstehst du doch sicher, oder? Ich meine, ich weiß, dass du … na ja, ›beliebt‹ bist«, sie zeichnete bei dem Wort mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Aber diejenigen unter uns, die es nicht sind? Tja, wir kriegen es wirklich zu spüren.«

Es war schwer, bei ihren offenen Worten kein Mitgefühl für sie zu empfinden. Ich schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. »Falls du versuchst, auf cool zu machen, dann verstehe ich das total. Aber ich würde sagen, die Katze ist inzwischen aus dem Sack. Ich glaube, es wissen alle, wie aufgebracht du deswegen bist. Oder warst.« Ich hielt den Atem an: Würde sie das als Beleidigung empfinden? Ich meinte es als harmlose, neckende Bemerkung, aber wenn Caroline in letzter Zeit eines bewiesen hatte, dann dass sie bei der entsprechenden Provokation total ausrasten konnte.

Einen Moment lang wirkte ihre Miene vollkommen teilnahmslos, und ich hatte schon Angst, ich hätte unsere Unterhaltung wieder mindestens fünfzig Schritte rückwärts getrieben. Doch dann, wie durch ein Wunder, breitete sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. »Touché«, sagte sie und nickte anerkennend. »Aber gefällt mir.«

Unerwartet, aber sehr willkommen.

»Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, dass du mich verdächtigt hast«, fügte sie hinzu. Sie zuckte mit den Schultern und wirkte ziemlich resigniert. »Ehrlich gesagt, ich wäre überrascht gewesen, wenn du es nicht getan hättest. Und, wie schon gesagt, sprich ruhig mit Stephenson. Er kann dir zumindest bestätigen, dass ich am Dienstag bei ihm war. Und was die Masthead-Geschichte angeht? Keine Ahnung. Ich schätze, du wirst dich einfach entscheiden müssen, ob du mir glaubst oder nicht.«

»Ich kann dir nicht versprechen, dass ich nicht noch weitergraben werde«, sagte ich.

»Auch hier: Das überrascht mich nicht«, erwiderte Caroline. »Was soll ich sagen? Dein Ruf eilt dir voraus.«

»Klar«, entgegnete ich. »Aber in einer Stadt wie dieser, bei wem tut er das nicht?«