VI. Hoch, hoch, hoch

Das Erwachsensein bringt die schädliche Illusion mit sich, alles zu kontrollieren, ja beruht vielleicht auf ihr. Ich will sagen, gerade dieses Trugbild, das eigene Leben im Griff zu haben, gibt uns das Gefühl, erwachsen zu sein, denn das Erwachsenenalter verbinden wir mit Unabhängigkeit, mit dem uneingeschränkten Recht, zu entscheiden, was als Nächstes mit uns geschehen wird. Früher oder später stellt sich die Ernüchterung ein, unweigerlich, diese Verabredung verpasst sie niemals. Wenn sie eintrifft, empfangen wir sie nicht allzu überrascht, denn wer lange genug lebt, kann nicht erstaunt sein, dass seine Lebensgeschichte von fernen Ereignissen gelenkt wurde, vom Willen anderer, und dass die eigenen Entscheidungen daran wenig oder gar keinen Anteil hatten. Diese übergeordneten Entwicklungen, die auf unser Leben treffen – mal, um ihm den nötigen Schub zu geben, mal, um unsere herrlichsten Pläne zu zertrümmern –, verlaufen meist im Verborgenen wie unterirdische Ströme, wie winzige Verschiebungen tektonischer Platten, und wenn es am Ende zum Erdbeben kommt, führen wir Wörter im Mund, die wir zu unserer Beruhigung erlernt haben: Unfall, Zufall, manchmal Schicksal. Auch im gegenwärtigen Moment ist eine Kette von Umständen am Werk, von sträflichen Fehlern oder glücklichen Entscheidungen, deren Folgen mich hinter der nächsten Ecke erwarten, und selbst wenn ich das weiß, selbst wenn ich die unangenehme Gewissheit habe, dass dies oder jenes geschehen und mich betreffen wird, kann ich ihm doch nicht zuvorkommen. Nur seine Auswirkungen kann ich bekämpfen, mehr nicht: den Schaden begrenzen, vom Vorteilhaften profitieren. Das wissen wir sehr wohl, und doch empfindet man Grauen, wenn uns jemand diese Kette zeigt, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, und es verstört einen, wenn uns ein anderer die Augen darüber öffnet, wie wenig Kontrolle wir über das Erlebte hatten, wenn überhaupt.

Genau das geschah mit mir am zweiten Nachmittag in Las Acacias, ein Grundstück, das einst den Namen Villa Elena getragen hatte, der eines schönen Tages nicht mehr passend gewesen war und dringend hatte geändert werden müssen. Genau das geschah mit mir in jener Nacht zum Sonntag, in der Maya und ich über die Unterlagen in der Korbtruhe redeten, über jeden Brief, jedes Foto, jedes Telegramm, jede Rechnung. Das Gespräch zeigte mir, was die Dokumente nicht preisgaben, organisierte den Inhalt der Dokumente, gab ihm Ordnung und Bedeutung, füllte Lücken, wenn auch nicht alle, mit den Geschichten aus, die Maya in den Jahren ihres Zusammenlebens von ihrer Mutter erzählt worden waren. Natürlich ebenso mit den Geschichten, die ihre Mutter erfunden hatte.

»Erfunden?«, fragte ich.

»Aber ja«, sagte Maya. »Angefangen mit Papa. Sie hat ihn von vorn bis hinten erfunden, er war ihre Erfindung. Ein Roman, verstehen Sie? Ein Roman aus Fleisch und Blut, Mamas Roman. Sie hat es natürlich meinetwegen getan oder für mich.«

»Sie kannten also die Wahrheit nicht«, sagte ich. »Elaine hatte sie Ihnen nicht erzählt.«

»Bestimmt hielt sie es für besser so. Vielleicht hatte sie recht, Antonio. Ich habe keine Kinder und kann mir nicht vorstellen, wie das ist. Ich weiß nicht, was man unter bestimmten Umständen für sie zu tun imstande ist. Dazu reicht meine Fantasie nicht. Haben Sie Kinder, Antonio?«

Das fragte mich Maya. Es war Sonntagmorgen, der Tag, den die Christen Ostern nennen und den sie zum Gedenken an die Auferstehung Jesu feiern, der zwei Tage zuvor gekreuzigt worden war (ungefähr zur gleichen Zeit, als meine erste Unterhaltung mit Ricardo Laverdes Tochter begann) und der alsbald den Lebenden erscheinen sollte: seiner Mutter, den Aposteln und ein paar Frauen, sorgfältig nach ihren Verdiensten ausgewählt. »Haben Sie Kinder, Antonio?« Wir hatten zeitig gefrühstückt: viel Kaffee, viel frischen Orangensaft, viele Scheiben Papaya, Ananas und Sapotille, und ein Maisfladen mit heißer Füllung, an dem ich mir den Mund verbrannte und eine Blase bekam, die sich immer wieder meldete, wenn meine Zunge gegen die Zähne stieß. Es war noch nicht schwül, die Welt ein Ort, der nach Vegetation roch, feucht und bunt, und im Gespräch am Terrassentisch, umgeben von Hängefarn, ein paar Meter entfernt von einem Baumstamm, an dem Bromelien wuchsen, fühlte ich mich wohl und spürte, dass dieser Ostersonntag mir guttat. »Haben Sie Kinder, Antonio?« Ich dachte an Aura und Leticia oder dachte vielmehr an Aura, die mit Leticia zur nächsten Kirche ging und ihr die Kerze zeigte, die das Licht Christi symbolisierte. Bestimmt nutzte sie meine Abwesenheit dazu, denn trotz mehrerer Versuche hatte ich niemals den Glauben wiedererlangen können, den ich als Kind gehabt hatte, schon gar nicht die Hingabe, mit der man in meiner Familie an diesen Tagen die Riten befolgte, von der Asche auf der Stirn am ersten Tag der Fastenzeit bis zur Himmelfahrt (die ich mir wie die Tafel in einem Lexikon vorstellte, ein Bild voller Engel, das ich später nie wieder gesehen habe). Deshalb wollte ich nicht, dass meine Tochter in einer Tradition aufwuchs, die mir fremd war. Wo magst du sein, Aura?, dachte ich. Wo mag meine Familie sein? Ich blickte auf, ließ mich von der Helligkeit des Himmels blenden, spürte einen Stich in den Augen. Maya sah mich an, wartete, hatte die Frage nicht vergessen.

»Nein«, gab ich zur Antwort, »ich habe keine. Es muss merkwürdig sein, Kinder zu haben. Auch meine Fantasie reicht dazu nicht.«

Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Vielleicht, weil es bereits zu spät war, von dieser Familie zu reden, die mich in Bogotá erwartete, derlei erwähnt man am Anfang einer Bekanntschaft, bei der Vorstellung, wenn man dem anderen ein paar Brocken Information zukommen lässt, um ihm die Illusion der Vertrautheit zu geben. Man stellt sich vor: Genau das meint wohl dieser Ausdruck, nicht bloß, den eigenen Namen zu nennen und den des anderen zu hören, die Hand zu reichen, eine oder beide Wangen zu küssen oder eine Verbeugung zu machen, sondern diese ersten Minuten, in denen belanglose Informationen, Allgemeines ohne Bedeutung dem Gegenüber das Gefühl geben, dass er uns kennt, dass wir keine Fremden mehr sind. Man führt seine Nationalität an, seinen Beruf, womit man sein Geld verdient, denn der Broterwerb ist aufschlussreich, definiert und strukturiert uns, man führt seine Familie an. Dieser Moment war für Maya und mich jedoch vorbei, und zwei Tage nach meiner Ankunft in Las Acacias von Frau und Tochter anzufangen hätte unnötigen Argwohn erweckt, lange Erklärungen oder schwachsinnige Rechtfertigungen erfordert oder ganz einfach seltsam gewirkt, und am Ende war es nicht von Belang: Maya würde bloß ihr Vertrauen verlieren und ich das Terrain, das ich bis jetzt gewonnen hatte, sie würde nicht weitererzählen, und Ricardo Laverdes Vergangenheit würde wieder Vergangenheit werden, wieder im Gedächtnis anderer untertauchen. Das konnte ich nicht zulassen.

Aber vielleicht gab es noch einen anderen Grund.

Denn Aura und Leticia von Las Acacias fernzuhalten, fern von Maya Fritts, ihrer Geschichte, ihren Unterlagen, also fern von der Wahrheit über Ricardo Laverde, bedeutete, ihre Unberührtheit zu schützen oder die Kontaminierung zu verhindern, die mich an einem Abend 1996 befallen hatte, deren Ursachen ich erst jetzt zu begreifen, deren ungeahnte Schubkraft sich erst jetzt zu zeigen begann, wie am Himmel ein Objekt auftaucht, das zur Erde fällt. Mein kontaminiertes Leben betraf nur mich, meine Familie war noch in Sicherheit, in Sicherheit vor der Pest in meinem Land, vor all dem Leid seiner jüngsten Geschichte, in Sicherheit vor all dem, was mich verfolgt hatte wie so viele meiner Generation (und auch anderer, ja, aber vor allem meiner, der Generation, die mit diesen Flugzeugen auf die Welt kam, mit den Flügen voller Reisetaschen, Reisetaschen voller Marihuana, der Generation, die mit dem War on Drugs auf die Welt gekommen war und mit dessen Folgen lebte). Diese Welt, die in Maya Fritts’ Worten und Unterlagen wieder zum Leben erwacht war, konnte hier bleiben, dachte ich, in Las Acacias, in La Dorada, im Flusstal des Magdalena, vier Fahrtstunden von Bogotá entfernt, weit weg von der Wohnung, in der meine Frau und meine Tochter mich erwarteten, vielleicht beunruhigt, ja, vielleicht mit besorgter Miene, doch unberührt und unverseucht, frei von unserer eigentümlichen kolumbianischen Geschichte, und ich wäre kein guter Vater, kein guter Mann, wenn ich diese Geschichte zu ihnen schleppen, ihnen Zugang zu ihr gestatten würde, jegliche Art von Zugang zu Las Acacias, zu Maya Fritts’ Leben, zu Ricardo Laverde. Aura hatte das seltsame Glück gehabt, die schwierigen Jahre außer Landes verbracht zu haben, in Santo Domingo, Mexiko-Stadt und Santiago de Chile aufgewachsen zu sein. War es nicht meine Pflicht, dieses Glück zu bewahren, darüber zu wachen, dass nichts diese Gnade verdarb, die ihr das wechselvolle Leben ihrer Eltern gewährt hatte? Ich würde sie beschützen, dachte ich, sie und mein Mädchen, ich beschützte sie gerade. Das war das Richtige, dachte ich, und ich tat es mit wahrer Überzeugung, mit fast religiösem Eifer.

»Nicht wahr?«, sagte Maya. »Das gehört zu den Dingen, die man nicht vermitteln kann, das sagt jeder. Nun gut. Jedenfalls hat sie es für mich getan. Sie hat Papa erfunden, von vorn bis hinten.«

»Zum Beispiel?«

»Nun gut«, sagte Maya, »zum Beispiel seinen Tod.«

Und während mir das weiße Licht des Magdalena-Tals ins Gesicht schien, erfuhr ich von dem Tag, an dem Elaine oder Elena Fritts ihrer Tochter erklärt hatte, was mit ihrem Vater geschehen war. Im letzten Jahr hatten Vater und Tochter viel über den Tod gesprochen. Eines Nachmittags hatte Maya zufällig die Schlachtung eines Zebus miterlebt und sofort angefangen, Fragen zu stellen. Ricardo hatte die Sache mit vier Wörtern abgehakt: »Seine Zeit war abgelaufen.« Für jeden lief irgendwann die Zeit ab, erklärte er, für die Tiere, die Menschen, für alle. Für die Gürteltiere?, fragte Maya. Ja, sagte Ricardo, auch für die Gürteltiere. Für Großvater Julio?, fragte Maya. Ja, auch für Großvater Julio, sagte Ricardo. Als dann an einem Nachmittag Ende 1976 die Fragen des Mädchens nach dem Vater unerträglich wurden, nahm Elena Fritts Maya auf den Schoß und sagte: »Papas Zeit ist abgelaufen.«

»Ich weiß nicht, warum sie diesen Moment dafür gewählt hatte, ob sie es müde war, auf etwas zu hoffen, ich weiß es nicht«, sagte Maya. »Vielleicht hatte sie eine Nachricht aus den Vereinigten Staaten erhalten. Von den Anwälten oder von Papa.«

»Das weiß man nicht?«

»Es gibt keine Briefe aus dieser Zeit, meine Mutter hat sie alle verbrannt. Ich erzähle Ihnen, was ich mir vorstelle: Sie erhielt eine Nachricht. Von Papa. Von den Anwälten. Und sie war der Ansicht, dass sie ihr Leben veränderte oder dass nun ihr Leben mit Papa zu Ende war und ein neues begann.«

Sie erklärte ihr, Ricardo sei am Himmel verschwunden. Das passiere den Piloten bisweilen, zwar selten, doch es könne geschehen. Der Himmel sei groß und das Meer ebenso, ein Flugzeug dagegen winzig, und die winzigsten seien die, die Papa flog, die Welt sei voll von solchen Flugzeugen, von winzigen weißen Flugzeugen, die abhoben, eine Weile über dem Land dahinglitten, dann aufs Meer hinausflogen, manchmal weit, weit weg von allem, ganz allein, wo niemand ihnen sagen konnte, wie man das Land wieder erreichte. Manchmal geschah etwas, und sie kamen vom Weg ab. Die Piloten verloren die Orientierung und kamen vom Weg ab, vergaßen, wo vorn und hinten war, fingen verwirrt an, im Kreis zu fliegen, wussten nicht mehr, wo links und rechts war, bis das Flugzeug keinen Sprit mehr hatte und ins Meer fiel, vom Himmel fiel wie ein Mädchen, das in einen Swimmingpool springt. Lautlos und unauffällig ging es unter, ging unter, ohne dass es jemand sah, denn dort draußen gab es kein Leben. Und auf dem Meeresgrund lief den Piloten die Zeit ab. »Warum schwimmen sie nicht ans Licht?«, fragte Maya. Und Elena Fritts: »Weil das Meer sehr tief ist.« Und Maya: »Da ist Papa?« Und Elena Fritts: »Ja, da ist Papa. Auf dem Meeresgrund. Sein Flugzeug fiel vom Himmel, Papa schlief ein, und seine Zeit lief ab.«

Maya Fritts stellte diese Version der Ereignisse niemals in Frage. Das war das letzte Weihnachten, das sie in der Villa Elena verbrachten, das letzte Mal, dass Elaine einen gelblichen Busch schneiden lassen musste, um ihn mit zerbrechlichen bunten Kugeln zu schmücken, die das Mädchen faszinierten, mit Rentieren, Schlitten und falschen Zuckerstangen, unter deren Gewicht sich die Zweige bogen. Im Januar 1977 geschahen mehrere Dinge: Elaine erhielt einen Brief von ihren Großeltern, die erzählten, dass es zum ersten Mal in der Geschichte in Miami geschneit hatte; Präsident Jimmy Carter begnadigte die Verweigerer des Vietnamkriegs; und Mike Barbieri – den Elaine insgeheim immer für einen dieser Verweigerer gehalten hatte – tauchte tot mit einem Nackenschuss im Fluss La Miel auf, der nackte Körper bäuchlings ans Ufer geworfen, während die Strömung mit dem langen Haar, dem nassen Bart spielte, rot vom Blut. Die Bauern, die ihn fanden, gingen sogar erst zu Elaine, bevor sie die Behörden benachrichtigten. Sie war die andere Yankee in der Gegend. Elaine musste beim Ermittlungsverfahren aussagen, in einem Amtsgericht mit weit offenen Fenstern und Ventilatoren, die die Akten durcheinanderwirbelten, musste sagen, ja, sie kenne ihn, und nein, sie wisse nicht, wer ihn getötet haben könnte. Am nächsten Tag packte sie alles, was hineinging, in den Nissan, ihre Kleider und die des Mädchens, die Koffer voller Geld, das Gürteltier mit dem Namen eines ermordeten Yankee, und fuhr nach Bogotá.

»Zwölf Jahre, Antonio«, sagte Maya Fritts. »Zwölf Jahre lebte ich mit meiner Mutter, wir beide allein, fast untergetaucht. Sie hatte mir nicht nur Papa weggenommen, auch meine Großeltern. Wir haben sie nicht wieder besucht. Nur zweimal kamen sie zu uns, und immer endete es mit Streit, ich begriff nicht, worüber. Aber andere Leute kamen. Es war eine winzige Wohnung, im Viertel La Perseverancia. Viele Leute besuchten uns, das Haus war immer voller Yankees, Leute vom Peace Corps, von der Botschaft. Ob Mama mit ihnen über die Drogen sprach und was mit ihnen geschah? Ich weiß nicht, das hätte ich nicht mitbekommen. Gut möglich, dass sie vom Kokain sprachen. Oder von den Freiwilligen, die den Bauern beigebracht hatten, wie man Kokapaste herstellt, so wie vorher die Methoden, wie man am besten Marihuana anbaut. Aber damals war es noch nicht das große Geschäft gewesen. Doch wie hätte ich das mitbekommen sollen? Ein Kind merkt so etwas nicht.«

»Und niemand hat nach Ricardo gefragt? Keiner der Besucher hat ihn erwähnt?«

»Nein, keiner. Unglaublich, nicht wahr? Mama hatte eine Welt errichtet, in der Ricardo Laverde nicht existierte, das erfordert beachtliches Talent. Wo es schon so schwierig ist, eine klitzekleine Lüge durchzuhalten, da hatte sie eine so gewaltige in die Welt gesetzt, eine wahre Pyramide. Ich stelle mir vor, wie sie allen Besuchern Anweisungen gab: In diesem Haus wird nicht von den Toten gesprochen. Welchen Toten? Na, von den Toten. Den Toten, die tot sind.«

Damals tötete sie das Gürteltier. Maya erinnerte sich nicht, dass sie die Abwesenheit des Vaters besonders verstört hätte, erinnerte sich nicht an Unwillen, Aggressivität oder Rachegelüste, aber eines Tages (sie war ungefähr acht) packte sie das Gürteltier und trug es in die Waschküche. »Es war eine dieser Waschküchen, wie es sie in den alten Wohnungen gab, Sie wissen schon, unbequem und winzig, mit einem steinernen Waschbecken, Wäscheleinen und einem Fenster. Erinnern Sie sich an diese Waschbecken? Vorne scheuerte man die Wäsche, hinten war eine Art Brunnen mit kaltem Wasser, ein großer Brunnen für ein kleines Kind. Ich rückte einen Küchenschemel heran, beugte mich übers Wasser und hielt Mike mit beiden Händen hinein und ließ ihn nicht los, beide Hände auf dem Panzer, damit er sich nicht rührte. Man hatte mir gesagt, dass Gürteltiere lange Zeit unter Wasser verbringen können. Ich wollte wissen, wie lange. Das Gürteltier begann, sich zu winden, aber ich drückte es fest auf den Boden des Brunnens, mit meinem ganzen Gewicht, ein Gürteltier ist kräftig, aber so kräftig nicht, ich war inzwischen ein Mädchen von einer gewissen Größe. Ich wollte sehen, wie lange es unter Wasser aushielt, das war alles, zumindest dachte ich das. Ich erinnere mich noch gut an seinen rauen Körper, die Hände schmerzten mir vor Anstrengung, schmerzten mir auch nachher noch, als hielte ich einen kratzigen Stamm fest, damit die Strömung ihn nicht fortreißt. Und wie sich das Tier wand, das weiß ich noch genau. Bis es sich nicht mehr rührte. Die Hausangestellte entdeckte es später. Sie hätten den Schrei hören sollen, den sie ausstieß. Ich wurde bestraft, Mama gab mir eine tüchtige Ohrfeige, riss mir dabei die Lippe mit ihrem Ring auf. Dann fragte sie, warum ich es getan hätte, und ich sagte: Um zu wissen, wie viele Minuten es durchhält. Mama entgegnete: Warum hattest du dann keine Uhr dabei? Darauf wusste ich keine Antwort. Und diese Frage steht noch immer im Raum, Antonio, meldet sich ab und an wieder zu Wort, immer in den schlimmen Momenten, wenn etwas im Leben gerade schiefläuft. Dann taucht diese Frage auf, und niemals weiß ich eine Antwort darauf.«

Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Na ja, was hat schon ein Gürteltier in einer Wohnung in La Perseverancia zu suchen? So ein Unsinn, die ganze Wohnung stank nach Kot.«

»Und Sie haben nie Verdacht geschöpft?«, fragte ich.

»Was für einen?«

»Dass Ricardo noch am Leben, dass er im Gefängnis war.«

»Nein, niemals. Später erfuhr ich, dass ich kein Einzelfall war, dass meine Geschichte nichts Außergewöhnliches an sich hatte. Damals gab es haufenweise Leute, die in die Vereinigten Staaten gingen und dort blieben, ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Die dort nicht mit Fracht eintrafen wie mein Vater, die gab es zwar auch, sondern einfache Passagiere einer Verkehrsmaschine, einer Avianca- oder American-Maschine. Irgendetwas mussten die Familien, die in Kolumbien warteten, den Kindern ja erzählen, oder? Also wurde der Vater getötet, im wahrsten Sinn des Wortes. Der Mann, der in einem Gefängnis in den Vereinigten Staaten saß, starb ganz plötzlich, und niemand wusste, wo er sich tatsächlich befand. Das war das Einfachste, einfacher als mit der Schande umzugehen, mit der Erniedrigung, einen Drogenkurier in der Familie zu haben. Hunderte von solchen Fällen gab es. Hunderte von falschen Waisen, ich war nur eine unter vielen. Das ist das Gute an Kolumbien, hier ist man nie allein mit seinem Schicksal. Verdammt, wie heiß es bereits ist, unglaublich. Ist Ihnen nicht heiß, Antonio, da sie doch aus der kalten Gegend kommen?«

»Ein bisschen, ja. Aber ich halte es aus.«

»Man spürt, wie sich jede einzelne Pore öffnet. Ich liebe den Morgen hier, die frühen Stunden. Aber dann wird es unerträglich. So sehr man sich daran gewöhnen mag.«

»Sie müssten es bereits gewohnt sein.«

»Ja, das stimmt. Vielleicht beklage ich mich einfach nur gern.«

»Wie kommt es, dass Sie hier leben?«, fragte ich. »Ich meine, nach all der Zeit.«

»Ach«, sagte Maya. »Das ist eine lange Geschichte.«

Maya war gerade elf geworden, als eine Klassenkameradin ihr zum ersten Mal von der Hacienda Nápoles erzählte. Von dem über dreitausend Hektar großen Landsitz, den Pablo Escobar Ende der Siebziger gekauft hatte, um sein Privatparadies darauf zu errichten, ein Paradies, das zugleich ein Imperium sein sollte: ein Xanadu der heißen Landstriche, ohne Skulpturen und mit bewaffneten Schlägern anstelle des Schilds No Trespassing. Die Hacienda erstreckte sich über zwei Bezirke, ein Fluss teilte sie in der Mitte. Nichts davon erzählte die Klassenkameradin Maya, denn 1982 war der Name Pablo Escobar Elfjährigen natürlich kein Begriff, noch wussten Elfjährige, wie dieser gewaltige Landsitz aussah, wussten nichts von der Oldtimersammlung in Spezialgaragen, die stetig wachsen sollte, nichts von den Landebahnen fürs Geschäft (wo Flugzeuge starteten und landeten, wie Ricardo Laverde sie geflogen hatte), und schon gar nicht hatten sie Citizen Kane gesehen. Nein, die Elfjährigen wussten nichts von all dem. Doch sie wussten vom Zoo. Binnen Monaten wurde der Zoo zu einer Legende im ganzen Land, und von diesem Zoo erzählte die Klassenkameradin Maya eines Tages im Jahr 1982. Sie sprach von den Giraffen, den Elefanten, den Nashörnern, den gewaltigen Vögeln in allen Farben; sie sprach von einem Känguru, das einen Fußball trat. Für Maya war das eine überwältigende Offenbarung, aus der ein übermächtiger Wunsch wurde, und sie war so vernünftig, bis Weihnachten zu warten, um sich als Geschenk einen Besuch auf der Hacienda Nápoles zu wünschen. Die Antwort ihrer Mutter war kategorisch: »Nicht im Traum wirst du diesen Ort besuchen.«

»Aber alle in meiner Klasse waren da«, sagte Maya.

»Du nicht«, sagte Elena Fritts. »Und dass du mir nie wieder davon anfängst.«

»Also bin ich heimlich hingefahren«, sagte Maya. »Was hätte ich tun sollen? Eine Freundin lud mich ein, und ich habe zugesagt. Mama dachte, dass ich das Wochenende in Villa de Leyva verbringe.«

»Das kann nicht sein«, sagte ich. »Auch Sie sind heimlich zur Hacienda Nápoles gefahren? Wie viele von uns mögen das getan haben?«

»Das heißt …«

»Ja, ich auch«, sagte ich, »mir hatten sie es ebenfalls verboten, und ich habe auch eine Lüge erzählt, habe mir das Verbotene angesehen. Ein echtes Tabu, die Hacienda Nápoles.«

»Wann waren Sie da?«

Ich rechnete im Kopf nach, kramte Erinnerungen hervor, und das Ergebnis jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken. »Ich war zwölf. Ich bin ein Jahr älter als Sie. Wir waren zur gleichen Zeit da, Maya.«

»Sie waren im Dezember da?«

»Ja.«

»Dezember 1982?«

»Ja.«

»Wir waren zur gleichen Zeit da«, wiederholte sie. »Unglaublich, ist das nicht unglaublich?«

»Stimmt, aber ich bin mir nicht sicher, dass …«

»Wir waren am selben Tag dort, Antonio«, sagte Maya. »Ich jedenfalls bin mir sicher.«

»Es könnte genauso gut ein anderer Tag gewesen sein.«

»Nein, erzählen Sie mir nichts. Es war vor Weihnachten, ja?«

»Genau. Aber …«

»In den Ferien, nicht wahr?«

»Stimmt.«

»Es muss an einem Wochenende gewesen sein, sonst hätten uns die Erwachsenen nicht hinfahren können, die Leute arbeiten. Und wie viele Wochenenden gab es in den Weihnachtsferien? Sagen wir, drei. War es ein Samstag oder ein Sonntag? Ein Samstag, denn in Bogotá fuhren die Leute immer samstags in den Zoo, die Erwachsenen halsen sich ungern so eine Fahrt auf, wenn sie am nächsten Tag ins Büro müssen.«

»Bleiben immer noch drei Tage«, sagte ich, »drei mögliche Samstage. Nichts garantiert, dass wir denselben gewählt haben.«

»Ich weiß, dass es so war.«

»Warum?«

»Darum. Basta. Soll ich weitererzählen?« Aber Maya wartete meine Antwort nicht ab. »Gut«, sagte sie, »ich besuchte also den Zoo, kam nach Hause zurück und fragte gleich beim Eintreten meine Mutter, wo genau unser Haus in La Dorada lag. Ich glaube, unterwegs war mir die Landschaft vertraut vorgekommen, ich hatte einen Berg oder eine Kurve erkannt oder den Weg, der von der Hauptstraße zur Villa Elena führt, denn die Strecke zur Hacienda Nápoles geht daran vorbei. Etwas musste ich wiedererkannt haben, und sobald ich zu Hause war, stellte ich meiner Mutter unablässig Fragen. Noch nie hatte ich darüber geredet, seit wir fortgegangen waren, Mama war erschüttert. Die Jahre vergingen, und ich hörte mit dem Fragen nicht auf, sagte, ich wolle zurück, wann wir zurückkehren würden. Das Haus bei La Dorada wurde für mich zu einer Art Gelobtem Land, verstehen Sie? Nach und nach bereitete ich die Rückkehr vor. Das alles hatte mit dem Besuch im Zoo der Hacienda Nápoles begonnen. Und jetzt erzählen Sie mir, dass wir uns dort vielleicht begegnet sind, im Zoo. Ohne zu wissen, dass Sie und ich es waren, ohne zu wissen, dass wir uns später treffen würden.«

Da ging etwas in ihrem Blick vor, ihre grünen Augen weiteten sich ein wenig, die schmalen Brauen wölbten sich, als hätte man sie neu gezeichnet, und um ihren Mund, ihrem Mund mit den blutroten Lippen, bildete sich ein unbekannter Ausdruck. Ich hätte es nicht beweisen können und eine Bemerkung darüber wäre unklug oder unsinnig gewesen, doch in dem Moment dachte ich: Das ist der Ausdruck eines kleinen Mädchens. So sahst du als Mädchen aus. Dann hörte ich sie sagen: »Waren Sie später noch mal da? Ich nicht, nie mehr. Soviel ich weiß, fällt dort alles in sich zusammen. Aber wir können trotzdem hinfahren, uns anschauen, wie es aussieht und woran wir uns erinnern. Was halten Sie davon?«

Kurz darauf fuhren wir Richtung Medellín, zur heißesten Tageszeit, rollten über das Asphaltband wie Ricardo Laverde und Elena Fritts vor neunundzwanzig Jahren, sogar im selben elfenbeinfarbenen Nissan wie sie damals. In einem Land, in dem man noch überall Modelle aus den sechziger Jahren sehen kann – hier und da einen Renault 4, einen Fiat, einen Chevrolet-Laster, die sogar noch fünfzehn Jahre älter sein können –, war das Fortleben des Jeeps weder wundersam noch außergewöhnlich, auf den Straßen gab es Hunderte wie ihn. Aber das war nicht irgendein Jeep, wie jeder begreifen wird, sondern das erste große Geschenk, das Ricardo Laverde seiner Frau mit dem Geld seiner Flüge gemacht hatte, dem Marihuana-Geld. Vor neunundzwanzig Jahren waren die beiden durch das Flusstal des Magdalena gefahren, wie wir jetzt, hatten sich auf dieser Sitzbank geküsst, hatten darüber geredet, Kinder zu bekommen. Jetzt saßen ihre Tochter und ich auf demselben Platz, spürten vielleicht die gleiche feuchte Hitze, die gleiche Erleichterung, wenn beim Beschleunigen die Luft im Wagen zirkulierte, obwohl wir uns dann nur noch laut rufend verständigen konnten. Entweder schreien oder bei geschlossenem Fenster vor Hitze umkommen. Wir wählten das Erste. »Dass es diesen Jeep noch gibt«, sagte ich mit der forcierten Stimme eines Schauspielers in einem zu großen Theater.

»Wie finden Sie das«, sagte Maya. Dann hob sie die Hand und deutete zum Himmel. »Da, Militärflugzeuge.«

Mich erreichte zwar das Brummen der Flugzeuge, die über unsere Köpfe hinwegflogen, aber als ich mich hinauslehnte und nach ihnen suchte, sah ich nur einen Schwarm Rabengeier am Himmel kreisen. »Ich versuche, nicht an Papa zu denken, wenn ich sie sehe«, sagte Maya, »aber es gelingt mir nicht.« Noch ein Verband flog vorüber, diesmal sah ich sie: graue Schatten, die quer über den Himmel zogen, ihr Düsenantrieb, der die Luft aufwühlte. »Das war das Erbe, das er antreten wollte«, sagte Maya. »Der Enkel eines Helden.« Die Straße war plötzlich voller blutjunger Männer in Uniform, mit Gewehren, die ihnen quer über der Brust hingen wie schlafende Tiere. Bevor wir die Magdalena-Brücke überquerten, drosselten wir das Tempo gewaltig, schlichen so nah an den Soldaten vorbei, dass unser Seitenspiegel fast die Gewehrläufe streifte. Es waren noch halbe Kinder, schwitzende, erschrockene Jungs, denen ihre Aufgabe, die Bewachung des Militärstützpunkts, offensichtlich eine Nummer zu groß geraten war, ganz wie ihre Helme, ihre Uniformen und die steifen Lederstiefel, zu hoch geschlossen für diese grausamen Tropen. Als wir am Zaun der Basis vorbeifuhren, einer Einfriedung, mit einer grünen Plane bedeckt und gekrönt von einem Labyrinth aus Stacheldraht, sah ich ein grünes Schild mit weißen Lettern: Fotografieren verboten, und ein anderes, weiß mit schwarzen Lettern: Menschenrechte, die Verantwortung aller. Jenseits des Zauns konnte man eine gepflasterte Straße erkennen, auf der Militärlaster verkehrten, weiter hinten, ausgestellt wie eine Reliquie im Museum, balancierte eine Canadair-Sabre-Maschine auf einem Sockel. In meiner Erinnerung ist das Bild dieses Flugzeugs, für das Ricardo Laverde so geschwärmt hatte, mit Mayas Frage verbunden: »Wo waren Sie, als Lara Bonilla erschossen wurde?«

Das ist typisch für meine Generation: Wir fragen einander, wie unser Leben im Augenblick dieser Anschläge aussah, die sich fast alle in den achtziger Jahren ereigneten und es definierten oder in andere Bahnen lenkten, ohne dass wir überhaupt merkten, was da mit uns geschah. Dadurch, scheint mir, wollen wir uns vergewissern, dass wir nicht alleine sind, wollen es erträglicher machen, dass wir während dieses Jahrzehnts erwachsen wurden, wollen das Gefühl der Verwundbarkeit dämpfen, das uns seitdem begleitet. Diese Art Gespräch fängt gewöhnlich mit Lara Bonilla an, dem Justizminister. Er war der erste öffentliche Feind des Drogenhandels gewesen, der mächtigste unter dessen legalen Gegnern. Die Methode der Motorradkiller, bei der ein junger Mann ans Auto seines Opfers heranfährt und eine Mini-Uzi auf ihn entleert, ohne auch nur das Tempo zu drosseln, fand bei ihm zum ersten Mal Anwendung. »Ich war in meinem Zimmer und habe Chemiehausaufgaben gemacht«, sagte ich. »Und Sie?«

»Ich war krank«, sagte Maya. »Blinddarmentzündung, stellen Sie sich vor, frisch operiert.«

»So etwas bekommen auch Kinder?«

»Schrecklich, aber wahr. Ich erinnere mich an den Aufruhr in der Klinik, Krankenschwestern liefen hin und her, wie in einem Kriegsfilm. Man hatte Lara Bonilla umgebracht, und alle Welt wusste, wer es gewesen war, doch niemand hatte geahnt, dass so etwas passieren konnte.«

»Es war etwas ganz Neues«, sagte ich. »Ich weiß noch, mein Vater war im Esszimmer, hatte den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Tisch, aß nichts, sagte nichts. Es war etwas ganz Neues.«

»Ja, als wir an dem Tag ins Bett gingen, waren wir nicht mehr dieselben«, sagte Maya. »Ein anderes Land, nicht wahr? Zumindest habe ich es so in Erinnerung. Mama hatte Angst, ich sah es ihr an, dass sie Angst hatte. Natürlich wusste sie weit mehr als ich.« Maya schwieg einen Moment. »Und bei Galán?«

»Das war nachts. Ein Freitag mitten im Jahr. Da war ich … na ja, ich war mit einer Freundin zusammen.«

»Ach, wie nett«, sagte Maya mit einem schiefen Lächeln. »Sie vergnügen sich, während das Land zusammenbricht. Waren Sie in Bogotá?«

»Ja.«

»War es Ihre Freundin?«

»Nein. Oder sie sollte es werden. Zumindest glaubte ich das.«

»Huch, eine unglückliche Liebe.« Maya lachte.

»Wenigstens verbrachten wir die Nacht zusammen. Wenn auch gezwungenermaßen.«

»Die Liebenden bei Ausgangssperre«, sagte Maya. »Guter Titel, finden Sie nicht?«

Ich sah sie gern so, diese unvermittelte Fröhlichkeit, sah gern die zart angedeuteten Fältchen, die sich um ihre Augen bildeten, wenn sie lächelte. Vor uns tauchte ein großer Laster mit Milchtanks auf, gewaltige Metallzylinder wie Bomben vor der Explosion, auf denen rittlings drei junge Männer mit nacktem Oberkörper saßen. Unser Anblick entriss ihnen ein unerklärliches Lachen. Sie winkten Maya zu, schickten ihr Luftküsse zu, sie schaltete herunter und wechselte die Spur, um zu überholen. Im Vorbeifahren gab sie den Luftkuss zurück. Sie tat es auf eine spöttische, spielerische Art, doch etwas an ihren Lippen, die sich theatralisch schlossen, etwas in dieser Filmstargeste verlieh dem Augenblick eine unerwartete Sinnlichkeit, zumindest mir kam es so vor. Auf meiner Straßenseite, in einem Sumpf inmitten von Gestrüpp, badeten zwei Wasserbüffel, ihr nasses Fell glitzerte in der Sonne, das Stirnhaar klebte ihnen im Gesicht. »Und am Tag der Avianca-Maschine?«, fragte ich da.

»Ah, die berühmte Maschine«, sagte Maya. »Da ging wirklich alles den Bach runter.«

Nach dem Tod des Präsidentschaftskandidaten Galán wurde das, was er sich politisch auf die Fahnen geschrieben hatte, darunter der Kampf gegen den Drogenhandel, von einem blutjungen Politiker aus der Provinz fortgeführt: César Gaviria. Bei dem Versuch, Gaviria von der Bildfläche verschwinden zu lassen, hatte Escobar eine Bombe in ein Passagierflugzeug schmuggeln lassen, das die Route Bogotá-Cali flog – oder geflogen wäre. Gaviria war nicht einmal an Bord. Die Bombe explodierte kurz nach dem Start, und die Flugzeugtrümmer gingen samt den Passagieren – drei davon hatte offenbar nicht die Bombe getötet, sondern der Aufprall – auf Soacha nieder, den Ort, in dem Galán auf der Holztribüne niedergeschossen worden war. Aber ich glaube nicht, dass dieser Zufall von Bedeutung ist.

»Da wussten wir«, sagte Maya, »dass der Krieg auch gegen uns geführt wurde. Oder wussten es nun mit Sicherheit. Ohne jeden Zweifel. Es gab ja viele Bomben an öffentlichen Plätzen, aber die waren für uns wie Unglücksfälle, ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich ging. Gut, Unglücksfall ist vielleicht nicht das richtige Wort. Etwas, was denen zustößt, die Pech haben. Das mit dem Flugzeug war anders. Im Grunde war es das Gleiche, doch irgendwie kam es mir anders vor und nicht nur mir, es war, als hätten sich die Spielregeln geändert. Ich hatte in dem Jahr mit dem Studium begonnen. Agronomie, das wollte ich studieren, vermutlich war mir damals schon klar, dass ich zurück zum Landgut bei La Dorada wollte. Jedenfalls fing ich zu studieren an. Und ich brauchte ein ganzes Jahr, bis es mir bewusst wurde.«

»Was denn?«

»Das mit der Angst. Oder sagen wir, dieses komische Gefühl im Magen, hin und wieder Übelkeit, Reizbarkeit, das sind nicht nur typische Symptome einer Erstgebärenden, sondern auch die der puren Angst. Natürlich hatte auch Mama Angst, vielleicht sogar mehr als ich. Dann ging es weiter mit den Attentaten, den Bomben. Die vor dem DAS mit ihren hundert Toten. Die im Einkaufszentrum X mit ihren fünfzehn. Die im Einkaufszentrum Y mit was weiß ich wie vielen. Eine Art Ausnahmezustand, oder? Man weiß nicht, wann es einen selbst erwischt. Macht sich Sorgen, wenn jemand, der kommen sollte, nicht kommt. Weiß, wo die nächste Telefonzelle ist, damit man Bescheid geben kann, dass es einem gutgeht. Wenn keine Telefonzelle in der Nähe ist, weiß man, dass man in jedem Haus anrufen kann, nur an der Tür klingeln muss. Man lebt in der ständigen Annahme, dass uns die anderen weggestorben sind oder wir sie beruhigen müssen, damit sie nicht glauben, wir könnten unter den Toten sein. Immer trafen wir uns irgendwo privat, erinnern Sie sich? Wir mieden die öffentlichen Plätze. Gingen zu Freunden, zu Freunden von Freunden, zu entfernten Bekannten, jede Wohnung war besser als ein öffentlicher Platz. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Vielleicht haben wir es bei uns zu Hause anders erlebt. Wir waren zwei Frauen, was soll ich sagen. Vielleicht war es für Sie anders.«

»Es war genau so«, sagte ich.

Sie drehte sich zu mir. »Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Dann verstehen Sie mich«, sagte Maya.

Da sagte ich Worte, deren Tragweite ich nicht zu ermessen vermochte: »Ich verstehe Sie vollkommen.«

Die Landschaft um uns herum wiederholte sich endlos, die grüne Grassteppe, die Berge im Hintergrund, grau wie auf einem Bild von Ariza. Mein Arm ruhte auf der breiten Rückenlehne, die bei diesen Modellen durchgehend ist, so dass ich mich wie auf einer Spritztour frisch Verliebter fühlte. Wenn der Wind drehte oder der Nissan schwankte, streifte Mayas Haar meine Hand, die Haut meiner Hand, eine Berührung, die mir gefiel und die ich von da an suchte. Wir verließen die gerade Landstraße der Rinderfarmen mit ihren überdachten Tränken und den Heeren von Kühen, ausgestreckt neben den Akazienstämmen. Wir überquerten den Fluss Negrito, einen Strom mit trübem Wasser und dreckigen Ufern, in dem Schaumwölkchen funkelten, die Überreste des angeschwemmten Unrats unzähliger Dörfer, die ihren Abfall in dasselbe Wasser entleerten, in dem sie ihre Wäsche wuschen. Als der Nissan bei der Mautstation anhielt, stieg beim plötzlichen Ausbleiben des Fahrtwinds die Temperatur im Innern, und ich spürte, wie ich unter den Achseln, doch ebenso auf der Nase und unter den Augen zu schwitzen begann. Als wir wieder anfuhren und uns einer weiteren Magdalena-Brücke näherten, fing Maya an, von ihrer Mutter zu erzählen, davon, was mit ihrer Mutter Ende 1989 geschehen war. Ich blickte auf den Fluss hinter dem gelben Brückengeländer, auf die kleinen Sandinseln, die bald, wenn die Regenzeit anbrach, vom braunen Wasser überschwemmt werden würden, während mir Maya von dem Nachmittag erzählte, an dem sie von der Universität nach Hause kam und Elena Fritts im Badezimmer vorfand, so betrunken, dass sie die Augen kaum mehr öffnen konnte und sich an die Kloschüssel klammerte, als wollte sie verhindern, dass sie fortflog. »Meine Kleine«, sagte sie zu Maya, »meine Kleine ist gekommen. Meine Kleine ist schon groß. Meine Kleine ist ein großes Mädchen.« Maya half ihr so gut wie möglich auf die Beine, brachte sie ins Bett und blieb bei ihr, sah sie schlafen, befühlte ihr ab und an die Stirn. Um zwei Uhr morgens machte sie ihr einen Kräutertee, stellte ihr eine Flasche Wasser auf den Nachttisch und brachte ihr zwei Aspirin, damit das Kopfweh wegging, und am frühen Morgen hörte sie die Mutter sagen, sie könne nicht mehr, sie habe es versucht und könne nicht mehr, Maya sei eine erwachsene Frau und müsse ihre eigenen Entscheidungen treffen, wie sie die ihren. Und sechs Tage später stieg sie in ein Flugzeug und kehrte nach Hause zurück, nach Jacksonville, Florida, Vereinigte Staaten, ins selbe Haus, aus dem sie vor zwanzig Jahren ausgezogen war, mit einem einzigen Gedanken im Kopf: Freiwillige des Peace Corps in Kolumbien zu werden. Eine bereichernde Erfahrung zu machen, ihre Spur zu hinterlassen, ihr Scherflein beizutragen. Dinge dieser Art.

»Sie hatten ihr das Land vertauscht«, sagte Maya. »Sie war an einen Ort gekommen, den sie zwanzig Jahre später nicht wiedererkannte. Es gibt einen Brief, der mich immer fasziniert hat, er ist von Ende 69, einer der ersten. Da sagt meine Mutter, Bogotá sei eine langweilige Stadt. Sie wisse nicht, ob sie lange an einem Ort leben könne, an dem nie etwas passiert.«

»An dem nie etwas passiert.«

»Ja«, sagte Maya. »An dem nie etwas passiert.«

»Jacksonville«, sagte ich. »Wo liegt das?«

»Oberhalb von Miami, recht weit oberhalb. Das weiß ich, weil ich es auf der Landkarte gesucht habe, nicht, weil ich dort gewesen wäre. Ich kenne die Vereinigten Staaten nicht.«

»Warum wollten Sie nicht mit ihr gehen?«

»Ich weiß nicht, ich war achtzehn«, sagte Maya. »In dem Alter ist das Leben neu, man hat es gerade erst entdeckt. Ich wollte mich nicht von meinen Freunden trennen, fing gerade eine Beziehung an … Merkwürdig, denn als Mama fort war, merkte ich sofort, dass Bogotá nichts für mich war. Eins kam zum anderen, wie es im Film heißt, und hier bin ich nun, Antonio, achtundzwanzig, unverheiratet und allzeit bereit, körperlich noch gut in Schuss, und lebe mit meinen Bienen. Hier bin ich. Komme um vor Hitze und fahre einen Unbekannten zum Zoo eines toten Mafioso.«

»Einen Unbekannten«, wiederholte ich.

Maya zuckte mit den Schultern und reihte ein paar Worthülsen aneinander: »Na ja, das nicht, aber was soll’s.«

Als wir die Hacienda Nápoles erreichten, hatte sich der Himmel zugezogen, und es wurde unangenehm schwül. Bald würde es regnen. Der Name des Landsitzes erschien in abgeblätterten Lettern über dem überdimensionalen weißen Portal – ein Sattelschlepper hätte hindurchgepasst –, und auf dem Querbalken balancierte ein kleines Sportflugzeug, blauweiß wie das Tor. Es war die Piper, mit der Escobar in seinen Anfangsjahren geflogen war und der er, wie er stets betont hatte, seinen Reichtum verdankte. Unter diesem Flugzeug hindurchzufahren, sein Kennzeichen unter den Tragflächen zu lesen, war wie das Vordringen in eine zeitlose Welt. Und doch war die Zeit präsent. Um genauer zu sein: Sie hatte gewütet. Seit Escobar 1993 auf einem Dach in Medellín erschossen worden war, hatte der Landsitz einen schwindelerregenden Niedergang erlebt, und genau das sahen Maya und ich, als der Nissan den gepflasterten Weg entlangfuhr, vorbei an Feldern mit Zitronenbäumen. Keine Rinder weideten auf den Wiesen, was unter anderem erklärte, dass das Gras so hoch stand. Das Unkraut verschlang die Holzpfosten. Ich musterte die Pfosten gerade, da sah ich die Dinosaurier.

Die hatten mir bei meinem ersten, so fernen Besuch am meisten gefallen. Escobar hatte sie für die Kinder aufstellen lassen, einen Tyrannosaurus und einen Brontosaurus in Lebensgröße, ein Mammut von gutmütigem Aussehen (grau und bärtig wie ein müder Großvater) und sogar einen Pterodactylus, der über dem Teich schwebte, in den Klauen eine anachronistische Schlange. Jetzt hingen ihre Leiber in Fetzen, und es lag etwas Tieftrauriges, fast Obszönes im Anblick der Gerüste aus Zement und Eisen, die nun zum Vorschein kamen. Der Teich war eine leblose Lache geworden, zumindest wirkte er vom Weg aus so. Wir ließen den Nissan auf einem verwahrlosten, lehmigen Vorplatz stehen, vor einem Drahtzaun, der früher womöglich unter Strom gestanden hatte, und ich spazierte mit Maya durch das Gelände, das wir vor Jahren im Auto besichtigt hatten, als Kinder, fast schon Jugendliche, die aber noch nicht genau begriffen, was der Eigentümer von alldem eigentlich tat und warum die Eltern ihnen ein so unschuldiges Vergnügen verboten. »Damals konnte man hier nicht herumlaufen, erinnern Sie sich? Man blieb im Auto.«

»Es war verboten«, sagte ich.

»Ja. Wie seltsam das ist.«

»Was?«

»Alles sieht kleiner aus.«

Sie hatte recht. Bei einem Armeesoldaten erkundigten wir uns nach den Tieren, wir wollten sie sehen, und Maya steckte ihm ganz offen einen Zehntausend-Peso-Schein zu, als Anreiz für seine Bereitwilligkeit. So gelangten wir, träge begleitet oder eskortiert von einem bartlosen Jungen mit Kappe und Tarnanzug, die linke Hand aufs Gewehr gestützt, zu den Käfigen, in denen die Tiere schliefen. Die schwüle Luft füllte sich mit fauligen Dünsten, eine Mischung aus Kot und Essensresten. Wir sahen einen Geparden hinten im Käfig ausgestreckt. Sahen einen Schimpansen, der sich den Kopf kratzte, und einen anderen, der ziellos im Kreis herumlief. Sahen einen leeren Käfig, die Tür offen, eine Aluminiumschüssel ans Gitter gelehnt.

Aber wir sahen nicht das Känguru, das einen Fußball trat, nicht den berühmten Papageien, der die Aufstellung der Nationalmannschaft hersagen konnte, nicht die Emus, nicht die Löwen und Elefanten, die Escobar einem Wanderzirkus abgekauft hatte, nicht die Zwergpferde, nicht die Nashörner, nicht den fantastischen rosafarbenen Delfin, von dem Maya nach ihrem ersten Besuch eine ganze Woche lang geträumt hatte. Wo waren die Tiere, die wir in der Kindheit gesehen hatten? Ich weiß nicht, warum uns die eigene Enttäuschung überraschte, denn der Niedergang der Hacienda Nápoles war allgemein bekannt und in den Jahren nach Escobars Tod in den kolumbianischen Medien mehrfach dokumentiert worden, eine Art Zeitlupenfilm über Aufstieg und Fall des Mafiaimperiums. Aber vielleicht überraschte uns gar nicht unsere Enttäuschung, sondern die Art, in der wir sie gemeinsam erlebten, diese unerwartete, ja unmotivierte Solidarität, die uns vereinte. Beide waren wir zur selben Zeit an diesem Ort gewesen, für uns beide hatte er dasselbe symbolisiert. Wohl deswegen spürte ich bei Mayas Frage, ob man bis zu Escobars Haus gelangen könne, dass sie mir das Wort aus dem Mund nahm, und nun war ich es, der einen zerknitterten, schmutzigen Geldschein hervorzog, um den jungen Soldaten zu bestechen.

»Nein, nein. Da kann man nicht rein«, sagte er.

»Warum nicht?«, fragte Maya.

»Darum«, sagte er. »Aber sie können außen herumgehen und in die Fenster schauen.«

Das taten wir. Wir gingen um das Haus herum und sahen uns die baufälligen Wände an, die trüben oder zerbrochenen Scheiben, das zersplitterte Holz der Balken und Säulen, die gesprungenen Kacheln der Badezimmer mit Außenfenster. Wir sahen die Billardtische, die in den sechs Jahren seltsamerweise niemand mitgenommen hatte. In diesen Räumen, dunkel und verdreckt von der Zeit, glänzte das leuchtende Grün des Tuchs wie ein Edelstein. Wir sahen den Swimmingpool ohne Wasser, doch voll von Laub, Rinde und Zweigen, die der Wind hineingeweht hatte. Sahen die Garage, in der die Oldtimer-Sammlung vor sich hin rostete, sahen den zerkratzten Lack, die zerbrochenen Scheinwerfer, die eingesunkenen Karosserien, die zerfallenen Polster, verhedderten Sprungfedern, und wir riefen uns in Erinnerung, dass der Legende nach eines dieser Gefährte, ein Pontiac, Al Capone gehört hatte und ein anderes, ebenfalls der Legende nach, Bonnie und Clyde. Dann sahen wir einen Wagen, der kein Luxusauto war, ein schlichtes, billiges Modell, dessen Wert jedoch außer Frage stand: der berühmte Renault 4, in dem der junge Pablo Escobar, lange bevor das Kokain sich in die Quelle seines Reichtums verwandelt hatte, seine ersten lokalen Rennen bestritt. Copa Renault 4 nannte sich diese Amateurtrophäe, und da war in der kolumbianischen Presse, lange vor den Flugzeugen, den Bomben und den Debatten über seine Auslieferung, zum ersten Mal der Name Escobar erschienen, als Rennfahrer bei diesem Pokal, ein junger Mann aus der Provinz in einem Land, das damals selbst nur eine kleine Provinz in der Welt war, ein junger Drogenhändler, der noch nicht wegen des beginnenden Schmuggels in die Nachrichten kam. Da schlummerte dieser Wagen vor sich hin, kaputt, verschlungen von Zeit und Verwahrlosung, der weiße Lack blätterte ab, die Karosserie hatte Risse, ein totes Tier, in dessen Haut sich Würmer eingenistet hatten.

Das Seltsamste an dem Nachmittag war jedoch, dass wir alles schweigend ansahen. Oft blickten wir einander an, ließen aber kaum mehr als einen Ausruf oder eine Floskel hören, vielleicht weil alles, was wir sahen, verschiedene Erinnerungen, verschiedene Ängste in uns heraufbeschwor und wir es für unklug oder leichtfertig hielten, uns in die Vergangenheit des anderen einzumischen. Und doch lag da die gemeinsame Vergangenheit vor uns, unsichtbar, wie der Rost, den man noch nicht sah, der aber bereits die Autotüren vor uns zerfraß, die Felgen, das Schutzblech, die Armaturenbretter, die Lenkräder. Was sich auf dem Landsitz abgespielt hatte, interessierte uns dagegen kaum. Die hier abgeschlossenen Geschäfte, die ausgelöschten Leben, die rauschenden Feste, die geplanten Gewalttaten, all das war für uns nur Hintergrund, Kulisse. Wortlos waren wir uns einig, dass wir genug gesehen hatten, und machten uns zum Nissan auf. Ich weiß noch genau, Maya nahm mich beim Arm, hakte sich bei mir ein, wie es die Frauen früher taten, und in dieser unzeitgemäßen Geste lag eine Vertrautheit, mit der ich nicht gerechnet hatte und die nichts heraufbeschwor.

Dann begann es zu regnen.

Zuerst fielen nur vereinzelt dicke Tropfen, doch in Sekundenschnelle war der Himmel grauer als ein Eselsschwanz, und ein Regenguss durchnässte unsere Hemden, bevor wir uns hätten unterstellen können. »Mist, das war’s wohl mit dem Ausflug«, sagte Maya. Als wir den Nissan erreichten, waren wir völlig durchweicht. Da wir gerannt waren (die Schultern hochgezogen, die Augen mit dem Arm beschirmt), waren unsere Hosen vorne durchtränkt und hinten fast trocken, als wären sie dort aus einem anderen Stoff. Die Jeepscheiben beschlugen sofort von unserem Atem, und Maya musste eine Schachtel Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach holen und die Windschutzscheibe abwischen, damit wir beim Losfahren nicht am nächsten Pfosten landeten. Sie stellte die Lüftung an, ein schwarzes Gitter mitten auf dem Armaturenbrett, und vorsichtig fuhren wir los. Aber nach nicht einmal hundert Metern bremste Maya scharf, kurbelte das Fenster so schnell herunter, wie es nur ging, und ich konnte vom Beifahrersitz aus sehen, was sie sah: Ungefähr dreißig Schritt entfernt, zwischen Nissan und Teich, betrachtete uns feierlich ein Nilpferd.

»So eine Hübsche«, sagte Maya.

»Was heißt hübsch«, sagte ich. »Es gibt kein hässlicheres Tier.«

Aber Maya achtete nicht auf mich. »Sie ist bestimmt noch nicht ausgewachsen«, fuhr sie fort. »Sie ist noch klein, ein Junges. Ob sie sich verirrt hat?«

»Woher wollen Sie wissen, dass es ein Weibchen ist?«

Maya war ausgestiegen, obwohl es noch immer goss und sie ein Holzzaun von dem Gelände trennte, auf dem sich das Tier befand. Seine Haut war von einem dunklen schillernden Grau, zumindest wirkte sie im spärlichen Licht dieses Nachmittags so. Die Tropfen prallten von ihr ab wie von einer Glasscheibe. Das Nilpferd, ob männlich oder weiblich, jung oder erwachsen, blieb gelassen. Es betrachtete uns oder betrachtete Maya, die am Holzzaun lehnte und es ihrerseits betrachtete. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, ein, zwei Minuten, was unter solchen Umständen eine kleine Ewigkeit ist. Mayas Haar triefte, und ihre ganze Kleidung hatte sich verfärbt. Da setzte das Nilpferd zu einer schwerfälligen Bewegung an, ein Schiff auf dem Meer, das den Kurs ändert, ich sah es jetzt im Profil und war erstaunt, wie lang das Tier war. Dann sah ich nichts mehr von ihm oder bloß den mächtigen Hintern, und mir war, als liefen Ströme von Wasser die glatte, glänzende Haut hinunter. Es entfernte sich durch das hohe Gras, die Beine im Unkraut verborgen, so dass es sich nicht fortzubewegen schien, sondern einfach kleiner wurde. Als es den Teich erreichte und ins Wasser tauchte, kehrte Maya zum Jeep zurück.

»Ich frage mich, wie lange die Tiere durchhalten«, sagte sie. »Niemand füttert sie, niemand pflegt sie. Die haben bestimmt ein Vermögen gekostet.«

Eindeutig sprach sie nicht zu mir, sie dachte nur laut. Ich musste an eine ähnliche Bemerkung denken, ähnlich dem Sinn und der Form nach, die ich vor langer Zeit gehört hatte, als die Welt, zumindest die meine, noch eine andere gewesen war, in der ich noch geglaubt hatte, Herr meines Lebens zu sein.

»Das hat auch Ricardo gesagt«, erzählte ich Maya. »So habe ich ihn kennengelernt. Er machte eine mitleidige Bemerkung über die Zootiere hier.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Maya. »Er hat sich um alle Tiere gesorgt.«

»Er hat gesagt, sie treffe keinerlei Schuld.«

»Das stimmt«, sagte Maya. »Das ist eine der ganz wenigen echten Erinnerungen, die ich an ihn habe. Papa, der sich um die Pferde kümmert. Papa, der Mamas Hund streichelt. Papa, der mit mir schimpft, weil ich das Gürteltier nicht gefüttert habe. Die einzigen echten Erinnerungen. Die anderen sind alle erfunden, Antonio, falsche Erinnerungen. Das Traurigste, was einem passieren kann: falsche Erinnerungen zu haben.«

Ihre Stimme war nasal, aber das konnte auch am Temperatursturz liegen. Aus ihren Augen kamen Tränen, oder es war der Regen, der ihr über die Wangen lief, die Lippen umrundete. »Maya«, fragte ich da, »warum wurde er umgebracht? Ich weiß, dieses Puzzleteil fehlt, aber was glauben Sie?« Der Nissan war wieder angefahren und legte nun die Kilometer bis zum Eingangsportal zurück, Mayas Hand schloss sich fester um den schwarzen Knauf des Schalthebels, das Wasser rann ihr über Gesicht und Hals. Ich ließ nicht locker: »Warum, Maya?« Ohne mich anzublicken, ohne die Augen von der beschlagenen Scheibe zu lösen, sagte Maya die fünf Wörter, die ich schon aus so vielen Mündern gehört hatte: »Etwas wird er getan haben.« Doch jetzt fand ich sie unangemessen, bei all dem, was Maya wusste. »Ja«, sagte ich, »aber was? Wollen Sie es nicht wissen?« Maya sah mich voll Mitleid an. Ich wollte etwas hinzufügen, doch sie schnitt mir das Wort ab: »Sehen Sie, ich will nicht mehr reden.« Die schwarzen Wischer fegten über die Scheibe und verdrängten das Wasser und die Blätter, die an ihr klebten. »Ich möchte, dass wir eine Weile schweigen, ich bin müde vom vielen Reden. Verstehen Sie, Antonio? Wir haben zu viel geredet. Ich bin es leid, zu reden. Ich möchte ein Weilchen schweigen.«

Schweigend erreichten wir das Portal und fuhren unter der weißblauen Piper hindurch, schweigend bogen wir links ab in Richtung La Dorada. Schweigend passierten wir das Stück Landstraße, auf dem die Bäume beider Seiten sich über der Fahrbahn treffen, kein Licht hindurchlassen und es den Fahrern an Regentagen leichter machen. Schweigend tauchten wir wieder ins Unwetter, schweigend sahen wir das gelbe Geländer der Magdalena-Brücke, schweigend überquerten wir sie. Der Fluss war aufgewühlt vom Regen, war nicht glatt wie die Haut eines Nilpferds, sondern runzelig wie die einer großen schlafenden Echse, und auf einer der kleinen Inseln leckte das Wasser nach einem weißen Boot, das seinen Motor in die Luft reckte. Maya war traurig. Ihre Traurigkeit schwebte im Innern des Nissan wie der Geruch unserer nassen Kleider, und ich hätte ihr etwas sagen können, tat es aber nicht. Ich schwieg: Sie wollte schweigen. In diesem beflissenen Schweigen, nur begleitet vom Trommeln des Regens auf dem Metalldach des Jeeps, passierten wir die Mautstation und wandten uns Richtung Süden, vorbei an den Rinderfarmen. Es waren zwei lange Stunden, in denen der Himmel sich verdunkelte, nicht mehr wegen der dichten Regenwolken, sondern weil uns unterwegs die Nacht überraschte. Als der Nissan die weiße Fassade des Hauses beleuchtete, war es bereits stockfinster. Wir sahen nur noch die Augen des Schäferhunds im Scheinwerferstrahl aufleuchten.

»Niemand ist da«, sagte ich.

»Natürlich nicht«, sagte Maya. »Es ist Sonntag.«

»Danke für den Ausflug.«

Maya entgegnete nichts. Sie ging hinein und legte die nassen Kleider ab, wich den Möbeln aus, ohne das Licht anzuschalten, freiwillig blind. Ich folgte ihr oder ihrem Schatten und merkte, dass sie genau das wollte. Die Welt war schwarz und blau, bestand nicht aus festen Formen, sondern aus Schemen: Einer davon war Maya. In meiner Erinnerung suchte ihre Hand die meine, nicht umgekehrt, und dann sprach Maya diese Worte aus: Ich bin es leid, allein zu schlafen. Ich glaube, sie fügte etwas Einfaches, sehr Verständliches hinzu: In dieser Nacht will ich nicht allein sein. Ich erinnere mich nicht, wie ich bis zu Mayas Bett gelangte, sehe mich aber deutlich darauf sitzen, neben einem Nachtschränkchen mit drei Schubladen. Maya ging um das Bett herum, und ihre gespenstische Silhouette hob sich vor der Wand ab, vor dem Schrankspiegel, und mir war, als betrachtete sie ihr Spiegelbild, und ihr Spiegelbild betrachtete mich. Während ich mir diese Parallelwirklichkeit ansah, diese flüchtige Szene, in der ich abwesend war, legte ich mich aufs Bett und sträubte mich nicht, als Maya zu mir kam und ihre Hände meine Kleider aufknöpften, ihre sommersprossigen Hände bewegten sich wie meine eigenen, ebenso natürlich, ebenso geschickt. Sie küsste mich, und ich schmeckte einen reinen, zugleich müden Atem, den Atem des abgelaufenen Tages, und ich dachte (ein lächerlicher Gedanke und nicht zu beweisen), dass diese Frau seit langem nicht mehr geküsst hatte. Da hörte sie auf, mich zu küssen. Maya berührte mich vergebens, nahm vergebens mein Glied in den Mund, ihre Zunge fuhr lautlos über mich hinweg, ihr resignierter Mund kehrte zu meinem zurück, und erst da merkte ich, dass sie nackt war. Im Dunkel hatten ihre steifen Brustwarzen einen violetten Ton, ein Dunkelviolett, wie es die Taucher auf dem Meeresboden sehen. Waren Sie schon unten im Meer, Maya?, fragte ich oder glaube, sie gefragt zu haben. Tief unten im Meer, tief genug, damit die Farben sich verändern? Sie legte sich neben mich, rücklings, und da kam mir der absurde Gedanke, dass Maya kalt war. Ist Ihnen kalt?, fragte ich. Doch sie antwortete nicht. Soll ich gehen? Auch darauf antwortete sie nicht, aber es war eine müßige Frage, denn Maya wollte nicht allein sein, das hatte sie bereits erklärt. Auch ich wollte jetzt nicht allein sein. Mayas Gesellschaft war plötzlich unentbehrlich für mich, plötzlich war es vordringlich, ihre Traurigkeit zu vertreiben. Ich dachte, dass wir beide allein in diesem Zimmer, diesem Haus waren, doch in geteilter Einsamkeit, jeder in den Tiefen seines Körpers allein mit seinem Schmerz, gelindert vom rätselhaften Einfluss der Nacktheit. Da tat Maya etwas, was bisher nur ein einziger Mensch auf der Welt getan hatte. Ihre Hand legte sich auf meinen Bauch, fand die Narbe und streichelte sie, zeichnete sie mit dem Finger nach, als hätte sie ihn in Temperafarbe getaucht und versuchte nun, auf meiner Haut eine seltsame, symmetrische Zeichnung zu hinterlassen. Ich küsste sie, weniger, um sie zu küssen, als die Augen zu schließen, dann fuhr meine Hand über ihre Brüste, Maya nahm sie, nahm meine Hand in die ihre und führte sie zwischen ihre Beine, und meine Hand in ihrer Hand berührte den glatten, wie gekämmten Flaum, die Innenseite der weichen Schenkel, dann ihr Geschlecht. Meine Finger unter den ihren drangen in sie ein, und ihr Körper spannte sich an, die Beine öffneten sich wie Flügel. Ich bin es leid, allein zu schlafen, hatte diese Frau gesagt, die mich jetzt mit weit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit ihres Zimmers ansah und die Stirn runzelte, als würde sie gerade etwas begreifen.

Maya Fritts schlief in dieser Nacht nicht allein, das hätte ich niemals zugelassen. Ich weiß nicht, von welchem Moment an mir ihr Wohlbefinden so am Herzen lag, weiß nicht, ab wann ich zu bedauern begann, dass kein Zusammenleben möglich war, dass die gemeinsame Vergangenheit nicht zu einer gemeinsamen Zukunft führte. Wir hatten das gleiche Leben gelebt, und doch war es anders, zumindest meines, ein Leben mit Menschen, die jenseits der Kordillere auf mich warteten, vier Stunden von Las Acacias entfernt, zweitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel … Daran dachte ich in der Dunkelheit des Zimmers, auch wenn es nicht ratsam ist, im Dunkeln zu denken. Die Dinge erscheinen im Dunkeln größer, ernster, und die Krankheiten zerstörerischer, das Böse bedrohlicher, die Lieblosigkeit stärker, die Einsamkeit tiefer. Deshalb möchten wir neben jemandem schlafen, und um nichts auf der Welt hätte ich sie deshalb in dieser Nacht allein gelassen. Ich hätte mich ankleiden und auf Strümpfen hinausschleichen können, die Tür anlehnen, wie ein Dieb. Doch ich tat es nicht. Ich sah, wie sie in einen tiefen Schlaf fiel, zweifellos erschöpft von der Fahrt und den Emotionen. Erinnern macht müde, derlei bringt man uns nicht bei, die Erinnerung ist eine anstrengende Tätigkeit, sie verbraucht Energien, zermürbt die Muskeln. So sah ich Maya seitlich liegend schlafen, das Gesicht mir zugewandt, sah, wie sie im Schlaf eine Hand unters Kopfkissen schob, es umarmte oder sich daran festklammerte, und da geschah es wieder: Ich sah sie als kleines Mädchen, hatte keinerlei Zweifel, dass in dieser Gebärde das Mädchen steckte, das sie gewesen war, und ich liebte sie auf eine unbestimmte, absurde Art. Dann schlief ich ebenfalls ein.

Als ich aufwachte, war es noch dunkel. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Nicht das Licht hatte mich geweckt, nicht der morgendliche Klang der Tropen, sondern ein fernes Stimmengewirr. Ich folgte den Lauten bis zum Wohnzimmer und war nicht überrascht, sie dort anzutreffen, auf dem Sofa sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, während in der kleinen Anlage ein Tonband lief. Ich brauchte nur wenige Sekunden, nur zwei englische Sätze, von Unbekannten gesprochen, um die Aufnahme zu identifizieren, denn im Grunde hatte ich nie aufgehört, ihrem Gespräch zu lauschen, in dem von klimatischen Bedingungen die Rede war, von der Arbeit, der Anzahl von Stunden, die Piloten bis zur obligatorischen Ruhepause fliegen dürfen, ich erinnerte mich daran, als hätte ich es gestern erst gehört. »Also, mal sehen«, sagte der Kapitän, so wie damals bei Consu. »Noch hundertsechsunddreißig Meilen bis zur VOR, zweiunddreißigtausend Fuß müssen wir sinken und dabei die Geschwindigkeit drosseln, also an die Arbeit.« Und der Kopilot: »Bogotá, American neun sechs fünf, Erlaubnis zum Sinken.« Operations antwortete: »Kommen, American neun sechs fünf, hier Cali Ops.« Und der Kopilot: »In Ordnung, Cali. Wir sind in circa fünfundzwanzig Minuten da.« Und ich dachte, was ich schon damals gedacht hatte: Nein, sind sie nicht. Sie werden nicht in fünfundzwanzig Minuten da sein. Tot werden sie sein und mein Leben nicht mehr dasselbe.

Maya sah nicht zu mir, als sie mich kommen hörte, blickte jedoch auf, als hätte sie mich erwartet, auf ihren Wangen bemerkte ich die Spur ihrer Tränen und hatte den absurden Drang, sie vor dem zu beschützen, was am Ende der Aufnahme geschehen würde. Das Gate war Nummer zwei, die Landebahn null eins, die Schweinwerfer des Flugzeugs gingen an, denn in der Gegend gab es Sichtflugverkehr, und ich setzte mich neben Maya auf das Sofa, legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie an mich, und beide versanken wir mit unserem Gewicht im Sofa wie ein altes schlafloses Pärchen, ja, das waren wir, langjährige Eheleute, die nicht mehr schlafen können, sich wie Gespenster im Morgengrauen begegnen und sich beim Wachen Gesellschaft leisten. »Ich mache jetzt die Ansage«, sagte die Stimme, und dann: »Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän. Wir haben mit unserem Anflug begonnen.« Da hörte ich sie schluchzen. »Mama fliegt da mit«, sagte sie. Ich dachte, sie würde nichts mehr hinzufügen, doch sie fuhr fort: »Sie wird umkommen, mich allein lassen. Und ich kann nichts tun, Antonio. Warum musste sie diesen Flug nehmen? Warum keinen Direktflug, warum so viel Pech?« Ich umarmte sie, mehr konnte ich nicht tun, konnte es nicht ungeschehen machen, nicht die Zeit auf dem Tonband anhalten, diese Zeit, die sich auf das bereits Vollzogene zubewegte, auf das Endgültige. »Ich wünsche allen ein frohes Fest und ein gesundes, glückliches 1996«, sagte der Kapitän auf dem Tonband. »Danke, dass Sie mit uns geflogen sind.«

Nach dieser Unwahrheit – das Jahr 1996 wird für Elaine Fritts nicht existieren – machte sich Maya wieder ans Erinnern, widmete sich der ermüdenden Aufgabe der Erinnerung. War es mir zu Gefallen, Maya Fritts, oder hattest du entdeckt, dass ich dir nützlich war, dass niemand sonst dir diese Rückkehr in die Vergangenheit gestatten, dich zu diesen Erinnerungen anregen und sie so hingebungsvoll und gewissenhaft anhören würde wie ich? So erzählte sie mir von dem Dezemberabend, an dem sie nach einem langen Arbeitstag am Bienenstand nach Hause kam, bereit für die Dusche. Milben hatten in den Bienenstöcken gewütet, die ganze Woche über hatte sie versucht, die Schäden zu minimieren, eine Arznei aus Anemonen und Huflattich zubereitet. An den Händen haftete noch immer der strenge Geruch dieser Mixtur, und sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu waschen. »Da klingelte das Telefon«, sagte sie. »Beinahe wäre ich nicht rangegangen. Aber ich dachte mir: Und wenn es wichtig ist? Ich hörte Mamas Stimme, dachte mir sogar, wie gut, kein Grund zur Sorge. Nichts Wichtiges. Mama rief Weihnachten immer an, daran hielten wir auch nach all den Jahren fest. Wir sprachen fünfmal im Jahr: an ihrem Geburtstag, an meinem Geburtstag, an Weihnachten, an Neujahr und an Papas Geburtstag. Der Geburtstag eines Toten, verstehen Sie, den die Lebenden feiern, weil er selbst es nicht mehr kann. Diesmal redeten wir eine ganze Weile, erzählten uns belanglose Dinge, und auf einmal verstummte meine Mutter und sagte, hör zu, wir müssen reden.« Und so, per Ferngespräch, via elektromagnetische Wellen aus Jacksonville, Florida, erfuhr Maya die Wahrheit über ihren Vater. »Er war nicht gestorben, als ich fünf war. Er lebte, war im Gefängnis gewesen und entlassen worden. Er lebte, Antonio. War sogar in Bogotá. Hatte sogar Mama gefunden, wer weiß, wie. Ja er wollte, dass wir uns treffen.« »Schöne Nacht, was?«, sagte der Kapitän in der Aufnahme der Blackbox. Und der Kopilot: »Ja, sieht schön aus hier.« »Dass wir uns treffen, Antonio, ich bitte Sie«, sagte Maya. »Als wäre er gerade mal zwei Stunden zum Einkaufen gegangen.« Und der Kapitän: »Feliz Navidad, Señorita.«

Ich weiß nicht, ob es Studien darüber gibt, wie Menschen auf solche Offenbarungen reagieren, wie jemand die gewaltsame Veränderung seiner Lebensumstände verarbeitet, das Verschwinden der Welt, wie er sie kennt. Man könnte meinen, dass in vielen Fällen eine allmähliche Anpassung erfolgt, die Suche nach einem neuen Platz im ausgefeilten System der Wesen rundherum, eine Neubewertung unserer Beziehungen und dessen, was wir Vergangenheit nennen. Das ist vielleicht das Schwerste, das sich am wenigsten akzeptieren lässt: die Veränderung der Vergangenheit, die wir für unverrückbar hielten. Bei Maya Fritts stand am Anfang die Weigerung, es zu glauben, doch das dauerte nicht lange, in Sekundenschnelle hatte sie sich dem Offensichtlichen ergeben. Darauf folgte eine unterdrückte Wut, vielleicht darüber, wie verwundbar das Leben war und dass es in Nullkommanichts durch einen Anruf aus den Fugen geraten konnte. Man muss nur den Hörer abheben, und schon kommt uns eine neue Realität ins Haus, die wir weder verlangt noch gesucht haben und die uns wie eine Lawine mit sich reißt. Auf die unterdrückte folgte die offene Wut, die Schreie ins Telefon, die Beschimpfungen. Und auf die offene Wut der Hass, die Worte des Hasses: »Ich will niemanden sehen«, sagte Maya ihrer Mutter. »Ich warne dich: Ob er’s glaubt oder nicht, wenn er hier auftaucht, empfange ich ihn mit der Flinte.« Maya sprach mit gebrochener Stimme, damals musste es anders geklungen haben als hier auf dem Sofa, mit diesem stillen, fast ruhigen Weinen. »Wo sind wir?«, fragte der Kopilot des Flugschreibers, und seine Stimme wirkte leicht beunruhigt, nahm vorweg, was kommen würde. »Hier fängt es an«, sagte Maya. Ja, da fing es an. »Ich weiß nicht«, sagte der Kapitän. »Was soll das? Was ist hier los?« Und mit dem ohnmächtigen Schlingerkurs der Boeing 757, mit dem Flatterflug eines verirrten Vogels in dreizehntausend Fuß Höhe durch die Nacht der Anden, begann Elena Fritts’ Tod. Da waren wieder diese Stimmen, die bereits etwas gemerkt haben, jedoch vorgeben, gelassen zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, als es keinerlei Kontrolle mehr gibt und die Gelassenheit ein gewaltiger Schwindel ist. »Also nach links? Soll ich wieder nach links zurück?« »Himmel … nein. Fliegen wir weiter nach …« »Weiter wohin?« »Tuluá.« »Das ist nach rechts.« »Wohin fliegen wir? Dreh nach rechts. Wir fliegen nach Cali. Verdammt, wir haben Mist gebaut, oder?« »Ja.« »Warum haben wir’s bloß vermasselt? Sofort nach rechts, sofort nach rechts.«

»Hier haben sie’s endgültig vermasselt«, sagte oder vielmehr flüsterte Maya. »Und Mama fliegt mit.«

»Aber sie wusste nicht, was sich abspielte«, sagte ich. »Sie wusste nicht, dass die Piloten die Orientierung verloren hatten. Zumindest hatte sie keine Angst.«

Maya dachte nach. »Das stimmt«, sagte sie. »Zumindest hatte sie keine Angst.«

»Woran mag sie gedacht haben?«, sagte ich. »Haben Sie sich das nie gefragt, Maya? Woran Elaine in dem Moment dachte?«

Auf dem Tonband waren nun Angstrufe zu hören. Eine elektronische Stimme gab verzweifelte Warnungen an die Piloten ab: »Terrain, terrain.« »Tausendmal habe ich mich das gefragt«, sagte Maya. »Ich machte ihr klar, dass ich ihn nicht sehen wollte, für mich war mein Vater tot, seit ich fünf war, daran ließ sich nichts ändern. In meinem Leben war das so. Keiner sollte kommen und nach all der Zeit versuchen, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Aber ich war tagelang am Boden zerstört, wurde krank. Ich bekam Fieber, hohes Fieber, und trotzdem ging ich zu den Bienenstöcken, aus lauter Furcht, im Haus zu sein, wenn Papa eintraf. Was dachte ich währenddessen? Vielleicht, dass es einen Versuch wert war. Dass Papa mich geliebt hatte, uns beide geliebt hatte, und dass es einen Versuch wert war. Sie rief wieder an, versuchte Papa zu verteidigen, damals sei alles anders gewesen, der Drogenhandel, all das. Damals seien alle noch unschuldige Kerle gewesen. Das sagte sie. Sie sagte nicht, unschuldig, nein, sondern unschuldige Kerle, ich weiß nicht, ob Ihnen der Unterschied bewusst ist. Na ja, ist auch egal. Als gäbe es in unserem Land so etwas wie Unschuld … Jedenfalls beschloss Mama daraufhin, in ein Flugzeug zu steigen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie werde den nächsten freien Flug nehmen. Und wenn die eigene Tochter auf sie schieße, sei’s drum. Das sagte sie: die eigene Tochter. Sei’s drum, sie wolle nicht mit dem Zweifel leben, mit diesem was wäre gewesen, wenn. Ja, jetzt kommt die Stelle. Wie weh das tut, unglaublich, nach all der Zeit.« »Scheiße«, sagte der Pilot in der Aufnahme. »Zieh hoch, Junge«, sagte der Pilot: »Hoch.«

»Das Flugzeug stürzt ab«, sagte Maya.

»Hoch«, sagte der Kapitän in der Blackboxaufzeichnung.

»Alles in Ordnung«, sagte der Kopilot.

»Sie werden umkommen«, sagte Maya, »und man kann nichts dagegen tun.«

»Hoch«, sagte der Kapitän. »Sachte, sachte.«

»Und ich habe mich nicht verabschieden können«, sagte Maya.

»Höher, höher«, der Kapitän.

»OK«, der Kopilot.

»Wie konnte ich das ahnen?«, sagte Maya. »Wie konnte ich das ahnen, Antonio?«

Und der Kapitän: »Hoch, hoch, hoch.«

Das kühle Morgengrauen füllte sich mit Mayas Weinen, sanft und leise, füllte sich mit dem Gesang der ersten Vögel, füllte sich auch mit dem Geräusch, dieser Mutter aller Geräusche, dem Geräusch erlöschender Leben beim Sturz ins Leere, das Geräusch, das entstand, als die Dinge, einst der Flug 965, auf die Anden fielen, und das auf rätselhafte Weise auch das Geräusch von Laverdes Leben war, untrennbar mit dem von Elena Fritts verbunden. Und mein Leben? Hatte nicht auch mein Leben damals zu fallen begonnen, war es nicht ebenso das Geräusch meines Falls, der dort begann, ohne dass ich es wusste? »Ach so, du bist auch vom Himmel gefallen?«, fragt der Pilot, der seine Geschichte erzählt, den Kleinen Prinzen, und ich dachte, ja, auch ich war vom Himmel gefallen, aber für meinen Sturz gab es keinen Beweis, keine Blackbox, die man hätte befragen können, ebenso wenig für Ricardo Laverdes Sturz, die menschlichen Leben verfügen nicht über diesen technischen Luxus. »Maya, wie ist es möglich, dass wir das mit anhören?«, fragte ich. Sie blickte mich stumm an (ihre nassen roten Augen, ihr trostloser Mund). Ich glaubte, dass sie mich nicht richtig verstanden hatte. »Ich meine nicht … Ich will sagen, wie kam er zu der Aufnahme …« Maya atmete tief durch. »Er hatte von jeher eine Schwäche für Landkarten«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Landkarten«, sagte Maya. »Dafür hatte er von jeher eine Schwäche.«

Ricardo hatte von jeher eine Schwäche für Landkarten gehabt. Er war stets ein guter Schüler gewesen (immer unter den ersten drei seiner Klasse), aber nichts lag ihm mehr als Landkarten, diese Übungen, bei denen der Schüler mit weichem Bleistift, Zeichenfeder oder Tuschestift auf Pauspapier oder manchmal auf Butterbrotpapier die Umrisse Kolumbiens nachzeichnen musste. Ihm gefiel das Amazonas-Trapez mit seiner überraschenden Geradlinigkeit, ihm gefiel die Pazifikküste, gespannt wie ein Bogen ohne Pfeil, er konnte aus dem Gedächtnis die Halbinsel La Guajira zeichnen, und mit verbundenen Augen hätte er, wie beim Spiel mit dem Eselsschwanz, jederzeit und ohne zu zögern, eine Nadel an die Stelle stecken können, an der sich das kolumbianische Massiv, der Nudo de Almaguer, befand. Während der gesamten Schulzeit bekam Ricardo nur einen Verweis, wenn Landkarten gezeichnet wurden, denn er war mit seiner doppelt so schnell fertig und verbrachte die restliche Schulstunde damit, die Landkarten seiner Kameraden zu zeichnen, für fünfzig Centavos, wenn es um die kolumbianischen Verwaltungsbezirke ging, für einen Peso, wenn es eine hydrografische Karte oder eine Temperaturkarte war.

»Weshalb erzählen Sie mir das?«, fragte ich. »Was hat das damit zu tun?«

Als er nach neunzehn Jahren Gefängnis nach Kolumbien zurückkehrte und Arbeit finden musste, war es am klügsten, sie dort zu suchen, wo es Flugzeuge gab. Er klopfte an mehreren kleinen Türen an, bei Luftsportvereinen, Flugakademien. Keine öffnete sich für ihn. Da kam ihm ein Gedankenblitz, und er stellte sich beim Geografischen Institut Agustín Codazzi vor. Sie unterzogen ihn einer Prüfung, und zwei Wochen später flog er mit einer zweimotorigen Commander 690A, an Bord der Pilot, der Kopilot, zwei Geografen, zwei Techniker und eine komplizierte Spezialausrüstung für Flugaufnahmen. Das war die Arbeit der letzten Monate seines Lebens gewesen: Frühmorgens startete er am Flughafen El Dorado und flog den kolumbianischen Luftraum ab, während die Kamera hinten Negative im Format 23x23 aufnahm, die nach langer Laborbehandlung und Klassifizierung in den Atlanten auftauchen würden, mit denen Tausende von Kindern lernen, welches die Nebenflüsse des Cauca sind und wo die westliche Kordillere beginnt. »Kinder wie die unseren«, sagte Maya, »wenn wir einmal Kinder haben sollten.«

»Die werden mit Ricardos Fotos lernen.«

»Ein hübscher Gedanke«, sagte Maya. Und dann: »Vater hatte sich mit seinem Fotografen angefreundet.«

Er hieß Iragorri, Francisco Iragorri, aber alle nannten ihn Pacho. »Ein dünner Kerl, ungefähr in unserem Alter, einer von denen, die wie das Jesuskind aussehen, rote Wangen, spitzes Näschen, kein einziges Haar im Gesicht.« Maya suchte und fand ihn, rief an und lud ihn Anfang 1998 nach Las Acacias ein, und er erzählte ihr, wie Ricado Laverdes letzte Nacht verlaufen war. »Sie flogen immer zusammen, tranken nach dem Flug noch ein Bier, bevor sie auseinandergingen. Zwei Wochen später trafen sie sich im Institut und bearbeiteten im Labor gemeinsam die Fotos. Oder vielmehr arbeitete Iragorri und ließ Vater zusehen und lernen. Wie man die Koordinaten abglich. Wie man ein dreidimensionales Foto analysierte. Ein stereoskopisches Sichtgerät bediente. Mein Vater war begeistert wie ein kleiner Junge, erzählte mir Iragorri.« Am Tag, bevor er umgebracht wurde, war Ricardo Laverde zu Iragorri ins Labor gekommen. Es war spät. Iragorri sagte sich, dass der Besuch nichts mit der Arbeit zu tun haben konnte, und es reichten zwei Sätze, zwei Blicke, um zu begreifen, dass der Pilot Geld von ihm leihen wollte. Nichts lässt sich leichter erraten als die Bitte um finanzielle Unterstützung. Doch wäre er im Leben nicht auf den Grund gekommen: Laverde wollte ein Tonband kaufen, die Aufnahme einer Blackbox. Er erklärte Iragorri, um welchen Flug es sich handelte, erklärte ihm, wer bei diesem Flug ums Leben gekommen war.

»Das Geld war für die Beamten, die ihm die Kassette besorgen sollten«, sagte Maya. »Anscheinend ist das nicht so schwierig, wenn man Beziehungen hat.«

Das Problem war der Betrag. Laverde brauchte viel Geld, natürlich mehr, als jeder bei sich trägt, aber auch mehr, als man aus dem Automaten ziehen kann. Also trafen die beiden Freunde, Pilot und Fotograf, eine Entscheidung. Sie würden im Geografischen Institut Agustín Codazzi bleiben, die Zeit totschlagen, in der Dunkelkammer oder in den Büros für Landrückerstattung, würden sich mit alten Kontaktabzügen beschäftigen, sich eine noch ausstehende Topografie vornehmen oder falsche Koordinaten korrigieren, und gegen halb zwölf zum nächst gelegenen Geldautomaten gehen, um die Höchstsumme abzuheben, zweimal hintereinander: einmal vor und einmal nach Mitternacht. Das taten sie, täuschten den Computer des Automaten, diesen armen Apparat, der nur Ziffern kennt, und so erhielt Ricardo Laverde den benötigten Betrag. »All das erzählte mir Iragorri. Das war das letzte Puzzleteil, das ich habe finden können«, sagte Maya, »bis ich erfuhr, dass mein Vater nicht allein gewesen war, als auf ihn geschossen wurde.«

»Bis Sie erfuhren, dass es mich gab.«

»Ja, genau.«

»Nun, mir gegenüber hat Ricardo diese Arbeit nie erwähnt«, sagte ich. »Weder die Landkarten noch die Luftaufnahmen oder die zweimotorige Commander.«

»Niemals?«

»Niemals. Und nicht, weil ich ihn nicht danach gefragt hätte.«

»Ich verstehe«, sagte Maya.

Ganz offensichtlich verstand sie etwas, was sich mir entzog. Im Wohnzimmerfenster tauchten allmählich die Bäume auf, die Umrisse ihrer Zweige lösten sich vom dunklen Hintergrund dieser langen Nacht, und auch drinnen, um uns herum, erwachten die Dinge zu dem Leben, das sie tagsüber führten. »Was verstehen Sie?«, fragte ich Maya. Sie wirkte müde. Beide waren wir müde, dachte ich, wie unter Mayas Augen hingen gewiss auch unter meinen diese grauen Ringe. »Iragorri saß damals dort drüben«, sagte sie. Sie deutete auf den leeren Sessel neben der Stereoanlage, aus der jetzt kein Geräusch mehr kam. »Er blieb nur zum Mittagessen. Er wollte im Gegenzug nichts erzählt bekommen. Oder die Unterlagen meiner Familie sehen. Er schlief nicht bei mir, das schon gar nicht.« Ich schlug die Augen nieder, ahnte, dass sie ein Gleiches tat. Maya fügte hinzu: »Sie sind wirklich dreist, lieber Freund.«

»Tut mir leid.«

»Sie sollten sich in Grund und Boden schämen.« Maya lächelte. Im blauen Morgenlicht sah ich ihr Lächeln. »Jedenfalls erinnere ich mich haargenau, er saß dort, man hatte uns Lulosaft gebracht, denn Iragorri war Abstinenzler, er hatte einen Löffel Zucker hineingetan und rührte gerade um, ganz langsam, als die Sprache auf den Geldautomaten kam. Da sagte er, natürlich, selbstverständlich habe er meinem Papa das Geld geliehen, aber dieses Geld habe er nicht übrig gehabt. Also sagte er ihm: Sehen Sie Ricardo, seien Sie nicht böse, aber ich muss fragen, wie Sie es zurückzahlen wollen. Wann und auf welche Weise. Und da sagte mein Vater, nach Iragorris Worten: Ach, da machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe gerade eine Arbeit erledigt, da kommt ein Batzen Geld herein. Ich zahle Ihnen alles zurück, mit Zinsen.«

Maya stand auf, ging die zwei Schritte zum rustikalen Tisch, auf dem die kleine Stereoanlage stand, und spulte das Band zurück. Die Stille füllte sich mit dem mechanischen Surren, monoton wie fließendes Wasser. »Dieser Satz ist wie ein Loch, dadurch entschwindet alles«, sagte Maya. Ich habe gerade eine Arbeit erledigt, hat Papa zu Iragorri gesagt, da kommt ein Batzen Geld herein. Nur ein paar Worte, aber die haben es in sich.«

»Weil wir es nicht wissen.«

»Genau«, sagte Maya. »Weil wir es nicht wissen. Iragorri fragte erst nicht weiter, war feinfühlig genug oder schüchtern, doch am Ende hielt er es nicht mehr aus. Was war das wohl für eine Arbeit, Señorita Fritts? Ich weiß noch genau, wie er meinem Blick auswich. Sehen Sie das Regal da, Antonio?« Maya deutete auf ein vierstöckiges Korbregal. »Die präkolumbischen Skulpturen da oben?« Es war ein Männchen im Schneidersitz mit einem riesigen Phallus, daneben zwei Gefäße mit Kopf und Kugelbauch. »Dorthin richtete Iragorri seine Augen, fern von den meinen, er konnte mich nicht ansehen, als er sagte, was er dann sagte, er traute sich nicht. Und was er sagte, war Folgendes: War Ihr Papa vielleicht in komische Sachen verwickelt? Wie zum Beispiel?, fragte ich zurück. Und er starrte die ganze Zeit dorthin, auf die präkolumbischen Skulpturen, lief rot an wie ein Kind und sagte: Na ja, ich weiß nicht, spielt keine Rolle, spielt keine Rolle mehr. Und wissen Sie was, Antonio? Genau das denke ich auch: Es spielt keine Rolle mehr.« Da hörte die Stereoanlage zu surren auf. »Hören wir sie noch einmal?«, fragte Maya. Ihr Finger drückte auf den Knopf, die toten Piloten begannen von neuem ihr Gespräch in der fernen Nacht, mitten am dunklen Himmel, in dreißigtausend Fuß Höhe, und Maya Fritts setzte sich wieder neben mich, legte eine Hand auf mein Bein, den Kopf auf meine Schulter, und der Geruch ihres Haars erreichte mich, in dem immer noch der Regen vom Vortag hing. Es war kein sauberer Geruch, sondern gemischt mit Schweiß und Schlaf, doch ich roch ihn gern, er war mir angenehm. »Ich muss gehen«, sagte ich.

»Bestimmt?«

»Bestimmt.«

Ich stand auf, blickte aus dem großen Fenster. Draußen, hinter den Flussklippen lugte der weiße Fleck der Sonne hervor.

Es gibt nur die eine direkte Verbindung zwischen La Dorada und Bogotá, eine einzige Route, wenn man keinen Umweg nehmen und sich nicht unnötig aufhalten will. Die muss jedes Vehikel nehmen, ob es Passagiere oder Waren befördert, denn für ein Unternehmen ist es entscheidend, die Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen. Ein Unfall auf dieser einzigen Route ist verheerend. Man nimmt die gerade Straße Richtung Süden, die am Fluss entlang und nach Honda führt, dem Hafen, wo die Reisenden eintrafen, als noch keine Flugzeuge die Anden überflogen. Von London, New York, Havanna, Colón oder Barranquilla aus gelangte man vom Meer zur Mündung des Magdalena und stieg dort in ein anderes Schiff um oder fuhr auf demselben weiter. Endlose Tage zog man mit schwächlichen Dampfern flussaufwärts, die in der Dürrezeit, wenn der Wasserpegel so weit sank, dass das Flussbett zum Vorschein kam wie eine Boje, zwischen Krokodilen und Fischerbooten am Ufer stecken blieben. Von Honda aus schlug sich jeder Reisende auf seine Weise nach Bogotá durch, auf Maultierrücken, mit der Eisenbahn oder im Privatwagen, je nach Jahreszeit und Geldbörse, und dieser letzte Abschnitt dauerte ebenfalls seine Zeit, von ein paar Stunden bis zu ein paar Tagen, denn so einfach gelangt man nicht auf einer Strecke von rund hundert Kilometern vom Meeresspiegel hinauf zu den zweitausendsechshundert Metern, auf denen sich diese Stadt mit dem grauen Himmel ausbreitet. Niemand hat mir bisher überzeugend erklären können, sieht man von banalen historischen Gründen ab, warum ein Land sich seine fernste, versteckteste Stadt zur Hauptstadt wählt. Wir Bogotaer sind nicht schuld an unserer Verschlossenheit, unserer Kälte und Distanziertheit, denn so ist unsere Stadt, keiner darf uns dafür verantwortlich machen, dass wir Fremde misstrauisch empfangen, denn wir sind nicht an sie gewöhnt. Selbstverständlich kann ich es Maya Fritts nicht zum Vorwurf machen, dass sie Bogotá verließ, sobald sich die Gelegenheit bot, und mehr als einmal habe ich mich gefragt, wie viele meiner Generation ein Gleiches getan haben, geflüchtet sind, nicht unbedingt in ein Dorf der heißen Landstriche, wie Maya, sondern nach Lima, Buenos Aires, New York oder Mexiko-Stadt, nach Miami oder Madrid. Kolumbien treibt zur Flucht, das stimmt, aber eines Tages würde ich gern wissen, wie viele Flüchtige, gleich Maya und mir, Anfang der Siebziger geboren wurden, wie viele davon, gleich mir und Maya, eine friedliche, behütete Kindheit hatten oder zumindest eine ungestörte, wie viele davon heranwuchsen und ängstlich erwachsen wurden, während um sie herum die Stadt in Schrecken, Schüssen und Bomben versank, ohne dass jemand einen Krieg erklärt hätte, zumindest keinen gewöhnlichen Krieg, wenn es so etwas geben sollte. Gern würde ich wissen, wie viele meine Stadt verließen, im Glauben, sich irgendwie zu retten, und wie viele der Geflohenen sich als Verräter fühlten, als die sprichwörtlichen Ratten des Schiffs, weil sie sich aus einer brennenden Stadt retteten. Ich sage euch, einst sah ich brennen in der Nacht / so eine Stadt im Wahn, herrlich und menschenreich, heißt es im Gedicht von Aurelio Arturo. Ich blickte starr und sah, wie sie zusammensank / und fiel, ein Rosenblättchen unter einem Huf aus Eisen. Arturo hatte es 1929 veröffentlicht. Er konnte nicht wissen, was aus dieser Stadt seines Traums werden würde, dass Bogotá sich seinen Versen anpassen, bis in ihre letzten Ritzen vordringen würde, wie sich das Eisen an die Gussform anpasst, ja, wie das geschmolzene Eisen die Form ausfüllt, die ihm bestimmt ist.

Sie brannte, Keule auf dem Grill von Flammenwäldern,
es fielen ihre Kuppeln, und es fielen ihre Mauern
auf die geliebten Stimmen, wie auf Spiegelsäle
rundum … die Schreie, reiner Glanz, zehntausendmal!

Die geliebten Stimmen. An sie dachte ich an jenem seltsamen Montag, als ich nach dem Wochenende bei Maya Fritts vom Westen her in Bogotá einfuhr, unter den Maschinen hindurch, die vom Flugplatz El Dorado abhoben, über den Fluss, dann die Calle 26 hinauf. Es war gerade erst zehn Uhr morgens, unterwegs hatte es kein Unglück gegeben, keine Erdrutsche, keine Staus oder Unfälle, die mich auf dieser Straße aufgehalten hätten, die manchmal so eng ist, dass die Fahrtrichtungen sich abwechseln müssen. Ich dachte unterwegs an das, was ich am Wochenende gehört, an die Frau, die es mir erzählt hatte, ebenso an das, was ich in der Hacienda Nápoles gesehen hatte, deren Kuppeln, deren Mauern auch gefallen waren, und natürlich dachte ich an Arturos Gedicht und an meine Familie, an meine Familie und an Arturos Gedicht, an meine Stadt, an das Gedicht und an meine Familie, an die geliebten Stimmen des Gedichts, Auras Stimme und Leticias Stimme, die meine letzten Jahre erfüllt und mich in mehr als einer Hinsicht gerettet hatten.

Mir war, als wären diese Flammen meine Haare,
grellrote Panther, losgelassen auf die junge Stadt,
und fallend brannten auch die Mauern meines Traums,
wie eine ganze Stadt, die schreit im freien Fall!

Ich fuhr in die Parkgarage meines Hauses, als kehrte ich nach langer Abwesenheit zurück. In seinem Häuschen winkte ein Portier, den ich noch nie gesehen hatte, und ich musste mehr als sonst rangieren, um in die Parklücke zu gelangen. Beim Aussteigen verspürte ich Kälte und dachte, dass im Wageninnern noch die warme Luft des Magdalena-Tals geherrscht hatte und nun der Kontrast meine Poren so heftig zusammenzog. Es roch nach Zement (Zement hat einen kalten Geruch) und nach frischer Farbe: Bauarbeiten waren im Gange, an die ich mich nicht erinnerte, sie mussten am Wochenende damit begonnen haben. Doch die Arbeiter waren nicht da, und in der Garage meines Hauses, in einer leeren Parklücke, stand ein halbiertes Benzinfass mit Resten von frischem Zement. Als Kind hatte ich gern in frischen Zement gefasst, blickte mich also um – niemand sollte mich sehen und für einen Verrückten halten –, trat zu dem Fass und tauchte zwei vorsichtige Finger in die schon fast harte Mischung. So stieg ich in den Fahrstuhl, betrachtete die verschmierten Finger, roch daran, genoss den kalten Geruch, und so fuhr ich die zehn Stockwerke zu meiner Wohnung hinauf und hätte beinahe mit dem dreckigen Finger geklingelt. Ich sah davon ab, nicht nur aus Sorge, Klingel oder Wand zu beschmutzen, sondern weil mir etwas sagte (die besondere Stille so weit oben im Haus, das Dunkel hinter der getönten Türscheibe), dass niemand zu Hause war, der hätte öffnen können.

Schon immer habe ich unter einem bestimmten Syndrom gelitten, wenn ich von der Meereshöhe hinauf nach Bogotá zurückkehre. Natürlich bin ich nicht der Einzige, es geht einigen so, der Mehrheit sogar, doch von klein auf waren die Symptome bei mir heftiger als bei anderen. Ich meine das schwere Atmen während der ersten beiden Tage, das leichte Herzrasen, das einfachste Tätigkeiten hervorrufen, das Hinaufsteigen einer Treppe, das Hinuntertragen eines Koffers, und das anhält, bis sich die Lungen wieder an die dünne Luft gewöhnt haben. So ging es mir, als ich mit dem eigenen Schlüssel die Wohnung aufsperrte. Meine Augen nahmen automatisch den sauberen Esstisch wahr (ohne Umschläge, die geöffnet werden mussten, ob Briefe oder Rechnungen), das Telefontischchen, wo das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte und die Digitalanzeige mitteilte, dass es vier Nachrichten gab, die Schwingtür zur Küche (die im Schwung erstarrt war, die Angel musste geölt werden). All das sah ich mit dem Gefühl, dass mir die Luft ausging und das Herz nach ihr verlangte. Dagegen sah ich keinerlei Spielzeug. Weder in der Ecke auf dem Teppichboden, noch auf den Stühlen oder im Flur verstreut. Nichts war da, kein Plastikobst, kein Korb dazu, keine angeschlagenen Teetässchen, keine Malkreiden, kein Buntpapier. Alles war in vorbildlicher Ordnung, und so machte ich zwei Schritte zum Telefon und spielte die Nachrichten ab. Die erste war vom Dekanat der Universität, sie fragten, warum ich um sieben Uhr früh nicht zum Unterricht erschienen sei, ich solle mich so bald wie möglich melden. Die zweite war von Aura.

»Ich rufe an, damit du dir keine Sorgen machst«, sagte die Stimme, die geliebte Stimme, »es geht uns gut, Antonio. Leticia und mir geht es gut. Heute ist Sonntag, acht Uhr abends, und du bist nicht gekommen. Jetzt weiß ich nicht mehr, wohin mit uns. Mit dir und mir, meine ich, ich weiß nicht mehr, wohin das mit uns führen soll, was nach all dem kommt, was mit uns geschehen ist. Ich habe es versucht, mit aller Kraft, das weißt du. Jetzt bin ich müde, sogar ich werde müde. Ich kann nicht mehr. Verzeih mir, Antonio, aber ich kann nicht mehr, und es ist nicht gerecht gegenüber der Kleinen.« Das sagte sie: Nicht gerecht gegenüber der Kleinen. Sie sagte noch mehr, doch die Zeit auf dem Anrufbeantworter war abgelaufen, und er hatte ihre Nachricht abgeschnitten. Die nächste Nachricht war ebenfalls von ihr. »Ich bin abgehängt worden«, sagte eine brüchige Stimme, als hätte sie zwischen den Anrufen geweint. »Eigentlich gibt es nichts weiter zu sagen. Ich hoffe, dass es dir auch gutgeht, dass du gut zurückgekommen bist und mir verzeihst. Ich konnte einfach nicht mehr. Verzeih mir.« Dann kam die letzte Nachricht, wieder die Universität, aber nicht das Dekanat, sondern das Sekretariat. Sie baten mich, eine Arbeit zu betreuen, ein absurdes Projekt über die Rache als legale Urform in der Ilias.

Ich hatte mir die Nachrichten stehend angehört, mit aufgerissenen Augen, die ins Leere starrten, und hörte sie noch einmal an, damit Auras geliebte Stimme erklang, während ich einen Rundgang durch die Wohnung machte. Ich ging langsam, denn ich bekam nicht genug Luft. So tief ich auch einatmete, nie stellte sich das Gefühl mühelosen Atmens ein, und ich konnte mir ohne weiteres die versperrten Lungen vorstellen, die rebellischen Bronchien, die streikenden Lungenbläschen, die sich weigerten, Luft aufzunehmen. In der Küche war alles aufgeräumt, kein einziger schmutziger Teller, kein Glas, kein Besteck. Auras Stimme sagte, dass sie müde sei, ich ging über den Flur zu Leticias Zimmer, und Auras Stimme sagte, das sei nicht gerecht gegenüber der Kleinen, ich setzte mich auf Leticias Bett und dachte: Leticia müsste jetzt bei mir sein, gerecht wäre, dass ich sie behüten könnte, wie ich sie bisher behütet hatte.

Ich will dich behüten, dachte ich, ich will euch beide behüten, zusammen sind wir geschützt, zusammen wird uns nichts passieren.

Ich öffnete den Schrank. Aura hatte alle Kleider des Mädchens mitgenommen, ein Kind in Leticias Alter verbraucht am Tag mehrere Kleidungsstücke, ständig muss man waschen. Auf einmal tat mir der Kopf weh. Ich schob es auf den Sauerstoffmangel. Bevor ich mir eine Tablette holte, würde ich mich ein paar Minuten hinlegen, denn Aura hatte mir immer vorgeworfen, dass ich gleich nach den ersten Anzeichen danach griff und dem Körper keine Chance gab, sich selbst zu wehren. »Verzeih mir«, sagte Auras Stimme im Wohnzimmer, jenseits der Wand. Aura war jedoch nicht im Wohnzimmer, unmöglich, zu wissen, wo sie war. Aber es ging ihr gut, und Leticia ging es gut, darauf kam es an. Mit etwas Glück würde sie wieder anrufen. Ich legte mich auf dieses Bett, das viel zu klein für mich war, das meinen langen Erwachsenenkörper nicht zu fassen vermochte, meine Augen blieben an dem Mobile hängen, das von der Decke baumelte, das erste Bild, das Leticia morgens beim Aufwachen sah, und vermutlich das letzte beim Einschlafen. Von der Decke baumelte ein aquamarinblaues Ei, dem Ei entwuchsen vier Flügel, und an jedem Flügel hing eine Figur: ein Uhu mit großen spiralförmigen Augen, ein Marienkäfer, eine Libelle mit Musselinflügeln, eine lächelnde Biene mit langen Fühlern. Den Blick fest auf die Formen und Farben gerichtet, die sich kaum merklich bewegten, dachte ich darüber nach, was ich Aura sagen würde, wenn sie wieder anrief. Sollte ich fragen, wo sie war, ob ich sie abholen oder auf sie warten durfte? Sollte ich schweigen, damit sie merkte, dass es ein Fehler gewesen war, unser Leben aufzugeben? Oder sollte ich sie zu überzeugen versuchen, dass wir dem Bösen in der Welt gemeinsam besser widerstehen konnten oder dass die Welt ein zu gefährlicher Ort war, um darin ganz auf sich gestellt zu sein, ohne dass uns jemand zu Hause erwartet, sich sorgt, wenn wir nicht kommen, und losgeht, uns zu suchen?