II. Nie wird sie eine meiner Toten sein
Ich weiß, auch wenn ich mich nicht daran erinnere, dass die Kugel meinen Bauch durchschlug, zwar keine Organe traf, jedoch Nerven und Sehnen versengte und sich schließlich in den Hüftknochen bohrte, eine Handbreit von der Wirbelsäule entfernt. Ich weiß, dass ich viel Blut verlor und dass trotz meiner vermeintlich universellen Blutgruppe der Vorrat in der San-José-Klinik so gering oder die Nachfrage in unserem leidgeprüften Bogotá so hoch war, dass mein Vater und meine Schwester Blut spenden mussten, um mein Leben zu retten. Ich weiß, dass ich Glück hatte. Alle Welt sagte mir das, sobald es möglich war, aber ich weiß es selbst, instinktiv. Das Wissen um mein Glück, daran erinnere ich mich, war eines der ersten Zeichen meines wiedererlangten Bewusstseins. Ich erinnere mich dagegen nicht an die drei Tage der Operationen. Sie sind verschwunden, ausgelöscht von der wiederholten Narkose. Ich erinnere mich nicht an die Halluzinationen, hatte jedoch welche, erinnere mich nicht, dass ich mich bei einer von ihnen so wild bewegte, bis ich aus dem Bett fiel, und obwohl ich mich nicht erinnere, dass man mich am Bett festschnallte, um derlei zu vermeiden, erinnere ich mich sehr wohl an die heftige Klaustrophobie, das schreckliche Gefühl des Ausgeliefertseins. Ich erinnere mich an das Fieber, an den Schweiß, der nachts meinen ganzen Körper badete, so dass die Krankenschwestern die Laken wechseln mussten, an die Verletzung an Hals und Mundwinkeln durch meinen Versuch, mir den Beatmungsschlauch herauszureißen; ich erinnere mich an den Klang meiner Stimme beim Schreien und weiß, obwohl ich mich daran nicht erinnere, dass meine Schreie die anderen auf dem Stockwerk ängstigten. Die Patienten oder ihre Angehörigen beklagten sich, ich wurde von den Krankenschwestern verlegt, und im neuen Zimmer fragte ich in einem kurzen Moment der Klarheit nach Ricardo Laverdes Schicksal und erfuhr (von wem, weiß ich nicht), dass er gestorben war. Ich glaube nicht, dass ich traurig war, oder verwechsele wie immer schon die Traurigkeit über die Nachricht mit dem Weinen, das der Schmerz hervorruft, doch ich weiß, dass ich selbst zu sehr mit dem Überleben beschäftigt war, den Ernst meiner Lage aus den gequälten Gesichtern derer las, die mich umgaben, und nicht allzu sehr an den Toten hätte denken können. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, ihm die Schuld an meinem Zustand gegeben zu haben.
Das kam später. Ich verfluchte Ricardo Laverde, verfluchte den Moment, da wir uns kennengelernt hatten, und keine Sekunde kam mir in den Sinn, dass Laverde für mein Unglück nicht verantwortlich war. Ich freute mich über seinen Tod, wünschte, dass er, als Ausgleich für mein eigenes Leiden, schmerzvoll gewesen war. Im Nebel meines flackernden Bewusstseins antwortete ich einsilbig auf die Fragen meiner Eltern. Hast du ihn im Billardsalon kennengelernt? Ja. Und du hast nicht gewusst, womit er sich beschäftigt hat oder ob er in irgendwas verstrickt war? Nein. Warum haben sie ihn umgebracht? Weiß nicht. Warum haben sie ihn umgebracht, Antonio? Weiß nicht, weiß nicht. Antonio, warum haben sie ihn umgebracht? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Die Frage wurde beharrlich wiederholt, meine Antwort war immer dieselbe, und es lag auf der Hand, dass sie gar keine Antwort erforderte: es war eine Art Klage. Am Abend, an dem Ricardo Laverde niedergeschossen worden war, wurden sechzehn weitere Menschen auf verschiedene Weise in verschiedenen Vierteln der Stadt ermordet, im Gedächtnis blieben mir Neftalí Gutiérrez, ein Taxifahrer, der mit einem Kreuzschlüssel erschlagen worden war, und Jairo Alejandro Niño, ein Automechaniker, den man auf einem freien Gelände im Westen mit neun Machetenhieben niedergestreckt hatte. Laverde war nur einer von ihnen, und es grenzte schon an Arroganz oder Eitelkeit, zu glauben, dass uns der Luxus einer Antwort zustand. »Aber was hat er getan, dass man ihn umbringt?«, fragte mein Vater.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Er hat nichts getan.«
»Etwas wird er getan haben«, sagte er.
»Was spielt das noch für eine Rolle?«, sagte meine Mutter.
»Ja«, sagte mein Vater, »was spielt das noch für eine Rolle.«
Je näher ich wieder der Oberfläche kam, desto mehr wich der Hass auf Laverde dem Hass auf meinen Körper und dem, was er spürte. Dieser Hass auf mich selbst wurde zum Hass auf die anderen, und eines Tages beschloss ich, niemanden mehr zu sehen, verbannte meine Familie aus dem Krankenhaus und verbot ihnen Besuche, bis mein Zustand sich gebessert hätte. »Aber wir machen uns Sorgen«, sagte meine Mutter, »wir kümmern uns um dich.« »Aber ich will nicht. Ich will nicht, dass ihr euch um mich kümmert, will nicht, dass sich irgendjemand um mich kümmert. Ich will, dass ihr verschwindet.« »Und wenn du etwas brauchst? Wenn wir dir helfen könnten und nicht da sind?« »Ich brauche nichts. Nur das: allein sein. Ich will allein sein.« Ich will das Schweigen schmecken, dachte ich damals, ein Vers von León de Greiff, einer der Dichter, die ich mir oft in der Casa Silva angehört hatte. Die Lyrik überfällt uns, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich will das Schweigen schmecken, ich brauche kein Geleit. Lasst mich allein. Ja, das sagte ich meinen Eltern: Lasst mich allein.
Ein Arzt kam mit einer Medikamentenpumpe in der Hand und erklärte mir ihren Gebrauch. Wenn die Schmerzen zu stark seien, solle ich einmal drücken, dann werde intravenös Morphin eingespritzt und ich spürte sofort Erleichterung. Aber das hatte seine Grenzen. Am ersten Tag brauchte ich meine Tagesdosis Morphin in einem Drittel der Zeit auf (ich drückte auf den Knopf wie ein kleiner Junge beim Videospiel), und die folgenden Stunden habe ich als das in Erinnerung, was der Hölle am nächsten kommt. Das erzähle ich, weil mir entweder der Schmerz oder das Morphin die Halluzinationen brachte, über denen die Tage meiner Genesung vergingen. Ich schlief zu beliebigen Zeiten ein, ohne jeden Rhythmus, wie die Häftlinge in den Erzählungen, und schlug die Augen stets vor einer mir fremden Umgebung auf, die die merkwürdige Eigenschaft hatte, niemals vertraut zu werden, als sähe ich sie immer zum ersten Mal. Von einem gewissen Moment an, den ich nicht bestimmen kann, war Aura Teil dieser Umgebung, ihre Gestalt, die auf dem braunen Sofa saß, wenn ich die Augen öffnete, und die mich mit echtem Mitleid ansah. Das war ein neues Gefühl (oder neu war das Bewusstsein, dass eine Frau mich ansah, sich um mich kümmerte, die eine Tochter von mir erwartete), aber ich glaube nicht, dass ich mir damals Gedanken darüber machte.
Die Nächte. Ich erinnere mich an die Nächte. Die Angst vor der Dunkelheit begann während meiner letzten Tage im Krankenhaus und verschwand erst ein Jahr später. Abends um halb sieben, wenn in Bogotá Knall auf Fall die Nacht anbricht, fing mein Herz wie wild zu schlagen an, und anfangs war das dialektische Zusammenspiel mehrerer Ärzte nötig, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht kurz vor einem Infarkt stand. Die langen Nächte Bogotás – immer gut elf Stunden lang, einerlei in welcher Jahreszeit oder Gemütslage man sie erdulden muss – waren für mich schon im Krankenhaus kaum erträglich, wo die Nacht von stets beleuchteten weißen Gängen bestimmt wird, vom Neonhalbdunkel der weißen Zimmer; aber im Schlafzimmer meiner Wohnung war die Dunkelheit vollkommen, denn die Lichter von der Straße gelangten nicht hinauf bis in den zehnten Stock, und allein die Vorstellung, blind aufzuwachen, war so grauenhaft für mich, dass ich bei angeschaltetem Licht schlief wie ein kleiner Junge. Aura ertrug die erhellten Nächte besser als erwartet, griff manchmal auf die Schlafmasken zurück, mit denen man sich im Flugzeug eine persönliche Dunkelheit schafft, gab sich aber bald geschlagen, schaltete den Fernseher ein, sah sich Werbesendungen an und erfreute sich an Geräten, die alle nur möglichen Früchte schnitten, und an Cremes, die alle Fettpolster am Körper reduzierten. Ihr eigener Körper veränderte sich natürlich, ein Mädchen mit Namen Leticia wuchs in ihm, aber ich war nicht in der Verfassung, ihr die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdient hätte. Mehr als einmal erwachte ich nachts aus einem absurden Albtraum: Ich war wieder zu meinen Eltern gezogen, zusammen mit Aura, und auf einmal explodierte der Gasofen, und die ganze Familie kam um, ich sah es kommen und konnte nichts tun. Dann rief ich, einerlei, wie spät es war, zu Hause an, um mich zu vergewissern, dass nichts passiert war, dass der Traum ein Traum blieb. Aura versuchte mich zu beruhigen. Sie sah mich an, ich spürte ihren Blick. »Es ist nichts weiter«, sagte ich. Doch erst gegen Ende der Nacht konnte ich ein paar Stunden schlafen, eingerollt wie ein Hund, den Knallfrösche erschreckt haben, und ich fragte mich, warum in dem Traum niemals Leticia vorkam, was Leticia getan hatte, um aus dem Traum verbannt zu werden.
In meiner Erinnerung sind die folgenden Monate eine Zeit großer Ängste und kleiner Beschwerlichkeiten. Auf der Straße überfiel mich die unumstößliche Gewissheit, dass ich beobachtet wurde; die inneren Verletzungen durch die Kugel zwangen mich, mehrere Monate lang an Krücken zu gehen. Ein Schmerz, den ich noch nie gespürt hatte, tauchte im linken Bein auf, ähnlich dem einer Blinddarmentzündung. Die Ärzte erklärten mir, in welchem Rhythmus die Nerven nachwuchsen und wie lange es dauern würde, bis ich wieder eine gewisse Unabhängigkeit erreicht hätte, und ich hörte zu und verstand nichts, zumindest nicht, dass von mir die Rede war. Weit entfernt hörte meine Frau den Erklärungen anderer Ärzte über völlig andere Themen zu, nahm Folsäuretabletten und bekam Kortisonspritzen zur Lungenreifung des Babys (in Auras Familie hatte es eine Reihe von Frühgeburten gegeben). Ihr Bauch veränderte sich, aber ich merkte es nicht. Aura legte meine Hand neben den vorspringenden Nabel. »Da, da ist es. Spürst du es?« »Was spürt man da?«, fragte ich. »Ich weiß nicht, es ist wie ein Schmetterling, wie Flügel, die deine Haut streifen. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.« Ich sagte, ja, ich verstünde vollkommen, auch wenn es gelogen war.
Ich spürte nichts, war abgelenkt, die Angst lenkte mich ab. Ich stellte mir die Gesichter der Mörder hinter den Visieren vor, dachte an den Knall der Schüsse, das anhaltende Pfeifen in meinem beschädigten Trommelfell, das hervorschießende Blut. Nicht einmal jetzt, da ich das schreibe, kann ich mich an diese Einzelheiten erinnern, ohne dass mir die ewig gleiche kalte Angst in den Leib fährt. Die Angst hieß in der gespenstischen Sprache des Therapeuten, der mich nach den ersten Symptomen behandelte, posttraumatische Belastungsstörung und hatte seiner Ansicht nach mit der Zeit der Bombenanschläge zu tun, die uns einige Jahre zuvor heimgesucht hatten. »Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie Probleme im Intimleben haben«, sagte der Mann (so nannte er es, Intimleben). Ich entgegnete nichts. »Der Körper hat mit etwas Bedrohlichem zu kämpfen«, fuhr der Arzt fort. »Darauf konzentriert er sich und schiebt weg, was nicht notwendig ist. Und als Erstes schaltet sich die Libido aus, verstehen Sie? Also keine Sorge. Eine Dysfunktion ist ganz normal.« Auch diesmal antwortete ich nicht. Dysfunktion, das Wort klang hässlich, die Laute schienen aufeinanderzuprallen, alles im Umkreis zu verunstalten, und ich dachte, dass ich es Aura gegenüber nicht erwähnen würde. Der Arzt redete weiter, konnte einfach nicht still sein. Die Angst sei in Bogotá die am weitesten verbreitete Krankheit meiner Generation, sagte er. Mein Zustand, sagte er, sei nicht außergewöhnlich, womöglich werde er vorübergehen wie bei jedem, der in seine Praxis gekommen sei. All das sagte er mir. Er begriff nicht, dass mich die rationale Erklärung nicht interessierte, schon gar nicht die statistische Seite meines heftigen Herzflatterns, der plötzlichen Schweißausbrüche, die unter anderen Umständen komisch gewesen wären, ich verlangte nur nach Zauberworten, die Schweiß und Herzflattern zum Verschwinden gebracht hätten, nach dem Mantra, mit dem ich endlich wieder hätte durchschlafen können.
Ich gewöhnte mich an ein Leben als Nachtwandler. Wenn mir ein Geräusch oder ein eingebildetes Geräusch den Schlaf vertrieben hatte (und mich auf Gedeih und Verderb dem Schmerz in meinem Bein auslieferte), holte ich mir die Krücken, ging ins Wohnzimmer, setzte mich in den Liegesessel und sah zu, wie die Nacht über die Hänge Bogotás wanderte, sah bei klarem Himmel die grün-roten Lichter der Flugzeuge, sah zu, wie der weiße Schatten des Taus allmählich die Fenster überzog, wenn am frühen Morgen die Temperaturen sanken. Aber nicht nur die Nächte machten mir Probleme, auch die Tage. Monate nach dem Mord an Laverde musste nur ein Auspuff knallen, eine Tür zuschlagen oder ein dickes Buch auf bestimmte Weise auf eine bestimmte Oberfläche fallen, und mich packte ein Gefühl der Beklemmung und Paranoia. Ohne erkennbaren Grund brach ich hemmungslos in Tränen aus. Das Weinen überkam mich ohne Vorwarnung, am Esstisch, bei meinen Eltern, Aura oder Freunden, und so gesellte sich zur Krankheit das Gefühl der Scham. Anfangs umarmte man mich schnell, sagte mir Worte, mit denen man ein Kind tröstet: »Ist ja vorbei, Antonio, ist ja vorbei.« Mit der Zeit gewöhnten sich die Leute, meine Leute, an diese Weinanfälle, es gab keinen Trost mehr, keine Umarmungen, und die Scham wuchs, weil offensichtlich war, dass man mich kaum mehr bemitleidete, sondern eher lächerlich fand. Bei Fremden, die mir weder Loyalität noch Mitleid schuldeten, war es noch schlimmer. Während eines meiner ersten Seminare, nachdem ich wieder in der Uni angefangen hatte, stellte mir ein Student eine Frage über die Theorien Rudolf von Jherings. »Die Gerechtigkeit«, begann ich, »hat eine doppelte Basis: den Kampf des Individuums, das sein Recht durchsetzen will, und den des Staates, der seinen Mitgliedern die nötige Ordnung auferlegen will.« »Heißt das«, fragte der Student, »dass der Mensch, der handelt, weil ihm gedroht oder Gewalt angetan wurde, der eigentliche Schöpfer des Rechts ist?« Ich wollte ihm von den Zeiten erzählen, in denen das Recht noch Teil der Religion gewesen war, von diesen fernen Zeiten, in denen es keinen Unterschied zwischen Moral und Hygiene, zwischen Öffentlichem und Privatem gegeben hatte, doch es gelang mir nicht. Ich hielt mir die Krawatte vor die Augen und brach in Tränen aus. Das Seminar war beendet. Beim Hinausgehen hörte ich den Studenten sagen: »Armer Kerl. Da kommt er nicht drüber weg.«
Diese Diagnose hörte ich nicht zum letzten Mal. Eines Nachts kam Aura spät von einem Treffen mit Freundinnen zurück, das man in meiner Stadt mit dem Anglizismus baby shower bezeichnet: ein Geschenkregen für die künftige Mutter. Sie kam vorsichtig herein, wollte mich zweifellos nicht wecken, fand mich aber hellwach bei meinen Notizen über diesen Rudolf von Jhering, der mich in die Krise gestürzt hatte. »Warum versuchst du nicht zu schlafen«, sagte sie, aber es war keine Frage. »Ich arbeite«, sagte ich, »wenn ich fertig bin, gehe ich schlafen.« Ich weiß noch, wie sie sich den dünnen Mantel auszog (nein, kein richtiger Mantel, eine Art Trenchcoat), ihn über eine Korbstuhllehne hängte, sich gegen den Türrahmen lehnte, mit einer Hand ihren gewaltigen Bauch stützte, sich mit der anderen durchs Haar fuhr, alles ein umständliches Vorspiel, wenn jemand nicht sagen will, was er gleich sagen muss, und hofft, dass ein Wunder ihn von der Pflicht erlöst. »Sie reden über uns«, sagte Aura.
»Wer?«
»In der Uni. Ich weiß nicht, die Leute, die Studenten.«
»Die Professoren?«
»Ich weiß nicht. Die Studenten jedenfalls. Komm ins Bett, und ich erzähle es dir.«
»Jetzt nicht«, sagte ich. »Morgen. Jetzt muss ich arbeiten.«
»Es ist nach Mitternacht«, sagte Aura. »Wir sind beide müde. Du bist müde.«
»Ich habe zu arbeiten. Ich muss den Unterricht vorbereiten.«
»Aber du bist müde. Du schläfst nicht mehr, und Schlafmangel ist auch keine gute Vorbereitung.« Sie machte eine Pause, betrachtete mich im gelben Esszimmerlicht und sagte: »Du warst heute nicht draußen, oder?«
Ich antwortete nicht.
»Du hast nicht geduscht«, fuhr sie fort, »hast dich gar nicht angezogen, hast nur hier drinnen gesessen. Die Leute sagen, der Anschlag hat dich verändert, Antonio, und ich antworte dann, natürlich hat er das, wie auch nicht, sie sollen nicht so dumm daherreden. Aber wenn ich ehrlich sein soll, gefällt mir nicht, was ich sehe.«
»Dann sei eben nicht ehrlich«, fuhr ich sie an. »Niemand hat dich darum gebeten.«
Das Gespräch hätte hier enden können, aber Aura begriff gerade etwas, in ihrem Gesicht zeichnete sich eine Erkenntnis ab, und sie stellte nur eine einzige Frage: »Hast du auf mich gewartet?«
Auch darauf antwortete ich nicht. »Hast du gewartet, dass ich zurückkomme?«, beharrte sie. »Hast du dir Sorgen gemacht?«
»Ich habe den Unterricht vorbereitet«, sagte ich und sah ihr in die Augen dabei. »Anscheinend darf man nicht mal mehr das.«
»Du hast dir Sorgen gemacht. Deshalb bist du aufgeblieben.« Und dann: »Antonio, Bogotá ist keine Stadt im Kriegszustand. Hier fliegen nicht die Kugeln durch die Luft, nicht jedem wird das Gleiche passieren.«
Du hast ja keine Ahnung, wollte ich ihr sagen, du bist anderswo aufgewachsen. Wir haben keine gemeinsame Grundlage, auch das wollte ich sagen, du kannst es gar nicht verstehen, niemand kann es dir erklären, ich jedenfalls nicht. Aber diese Worte drangen nicht aus meinem Mund.
»Niemand glaubt, dass jedem irgendwas passieren wird«, sagte ich stattdessen. Ich war überrascht, wie laut meine Stimme klang, denn ich hatte gar nicht laut werden wollen. »Niemand hat sich Sorgen gemacht, weil du nicht gekommen bist. Niemand glaubt, dass dich womöglich eine Bombe erwischt wie die im Einkaufszentrum, im Tres Elefantes, oder wie die im DAS, du arbeitest ja nicht beim Staatssicherheitsdienst, oder wie die im Centro 93, du kaufst ja nie im Centro 93 ein. Diese Zeit ist außerdem vorbei, nicht wahr? Also glaubt niemand, dass dich das treffen könnte, Aura, da müssten wir schon ein gewaltiges Pech haben, oder? Und wir haben kein gewaltiges Pech, nicht wahr?«
»Nun reg dich nicht auf«, sagte Aura. »Ich …«
»Ich bereite meinen Unterricht vor«, schnitt ich ihr das Wort ab, »kannst du das respektieren, ist das zu viel verlangt? Ist es zu viel verlangt, dass du, anstatt um zwei Uhr morgens Blödsinn zu quatschen, ins Bett gehst und mich nicht länger nervst, damit ich endlich mit dem Mist hier fertig werde?«
Wenn ich mich recht erinnere, ging sie nicht direkt in mein Schlafzimmer, sondern erst in die Küche, ich hörte, wie der Kühlschrank auf- und zuging, dann eine Tür, die vom Speiseschrank, eine dieser Türen, die sich fast von allein schließen, wenn man sie nur antippt. Und in all diesen häuslichen Geräuschen (durch die ich Auras Bewegungen verfolgen, sie mir eine nach der anderen vorstellen konnte) lag eine lästige Vertrautheit, eine störende Intimität, als hätte Aura mich nicht wochenlang gepflegt und über meine Genesung gewacht, sondern mein Terrain besetzt, ohne jede Erlaubnis. Ich sah sie mit einem Glas in der Hand aus der Küche kommen: eine Flüssigkeit von grellbunter Farbe, eine dieser Limonaden, die sie gern trank, ich nicht. »Weißt du, wie viel sie wiegt?«, fragte sie.
»Wer?«
»Leticia?«, sagte sie. »Ich habe die Ergebnisse, das Mädchen ist riesig. Wenn es in einer Woche nicht auf der Welt ist, planen sie einen Kaiserschnitt.«
»In einer Woche«, sagte ich.
»Die Ergebnisse sind alle in Ordnung«, sagte Aura.
»Wie schön.«
»Willst du nicht wissen, wie viel sie wiegt?«
»Wer?«
Ich weiß noch, wie sie reglos mitten im Wohnzimmer stand, gleich weit entfernt von der Küchentür und der Schwelle zum Flur, in einer Art Niemandsland. »Antonio«, sagte sie, »es ist nicht schlimm, wenn man sich Sorgen macht. Aber bei dir wird es allmählich krankhaft. Du bist krank vor Sorge. Und da fange ich an, mir Sorgen zu machen.« Sie stellte die frisch eingeschenkte Limonade auf den Esstisch und schloss sich im Badezimmer ein. Ich hörte das Wasser, eine ganze Wanne lief voll; ich stellte mir vor, dass sie dabei weinte und ihre Schluchzer mit dem Wasserrauschen überdeckte. Als ich mich eine ganze Weile später hinlegte, war Aura noch immer in der Badewanne, ein Ort, wo ihr der Bauch keine Last war, eine schwerelose, glückliche Welt. Ich schlief ein, ohne auf sie zu warten, und am nächsten Tag ging ich fort, bevor sie aufwachte. Zugegeben, ich dachte, dass Aura nur so tat, als schliefe sie, um sich nicht verabschieden zu müssen. Ich dachte, dass meine Frau mich in dem Moment hasste. Ich dachte, mit einem Gefühl, das sehr der Angst glich, dass ihr Hass gerechtfertigt war.
Ein paar Minuten vor sieben erreichte ich die Universität. Auf Lidern und Schultern lastete die Nacht, der kurze Schlaf der letzten Nacht. Ich hatte die Gewohnheit, vor dem Hörsaal zu warten, bis die Studenten kamen, gegen das Steingeländer des alten Kreuzgangs gelehnt, und erst hineinzugehen, wenn der Großteil des Kurses bereits drinnen war. An diesem Morgen, vielleicht, weil mir die Müdigkeit in der Hüfte steckte, vielleicht, weil sitzend die Krücken nicht auffielen, beschloss ich, hineinzugehen und im Sitzen zu warten. Aber ich kam nicht einmal in die Nähe des Stuhls. Eine Zeichnung an der Tafel erregte meine Aufmerksamkeit, und als ich sie näher betrachtete, erkannte ich Strichmännchen in obszönen Stellungen. Der Penis des Mannes war so lang wie sein Arm, das Gesicht der Frau blank, ein Kreidekreis, dem ein einzelnes langes Haar entwuchs. Unter der Zeichnung stand in Druckschrift:
PROFESSOR YAMMARA FÜHRT INS RECHT EIN.
Schwindel befiel mich, aber ich glaube nicht, dass es jemand merkte. »Wer war das?«, fragte ich laut, doch meine Stimme kam nicht so laut heraus, wie ich gewollt hatte. Die Gesichter meiner Studenten wirkten hohl. Sie hatten sich vollkommen entleert, waren Kreidekreise wie bei der Frau an der Tafel. Ich ging in Richtung Treppe, so schnell, wie es mein hinkender Schritt erlaubte, und als ich auf dem Weg nach unten am Zeichen des Gelehrten Caldas vorbeikam, hatte ich mich bereits nicht mehr im Griff. Die Legende besagt, dass Caldas, einer der Vorkämpfer unserer Unabhängigkeit, diese Stufen auf dem Weg zur Hinrichtung hinuntergegangen war, sich gebückt und ein Stück Kreide aufgehoben hatte, worauf seine Henker sahen, wie er auf die getünchte Wand einen ovalen Kreis zeichnete, den eine Trennlinie teilte: O lange schwarze Trennung. An dieser zweifelhaften, ja gewiss apokryphen Hieroglyphe ging ich mit klopfendem Herzen vorbei, die bleichen, schwitzenden Hände um die Krückengriffe geklammert. Die Krawatte schnürte mir den Hals zu. Ich verließ die Universität und ging weiter, achtete kaum darauf, welche Straßen ich überquerte oder ob Leute meine Kleider streiften, bis mir die Arme wehtaten. An der Nordecke des Parque Santander lief mir der Mime nach, der dort immer stand, und imitierte meinen mühsamen Gang, meine plumpen Bewegungen, selbst mein Keuchen. Er trug ein schwarzes Ganzkörperkostüm mit Knöpfen, das Gesicht weiß geschminkt, ohne jede andere Farbe, und bewegte die Arme so geschickt, dass ich selbst plötzlich die imaginären Krücken zu sehen glaubte. Während dieser brotlose, doch talentierte Schauspieler sich über mich lustig machte und die Passanten zum Lachen brachte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass mein Leben in die Brüche ging und sich Leticia, das nichtsahnende Mädchen, keinen schlechteren Moment hätte aussuchen können, um auf die Welt zu kommen.
Leticia wurde an einem Augustmorgen geboren. Wir hatten die Nacht in der Klinik verbracht, uns auf den Eingriff vorbereitet, und die Szene im Krankenhauszimmer – Aura im Bett, ich auf dem Gästesofa – war die makabre Umkehrung einer anderen Szene, eines anderen Moments. Als die Krankenschwestern sie holten, war Aura schon halb im Medikamentenrausch und sagte als Letztes zu mir: »Ich glaube, es war doch O.J. Simpsons Handschuh.« Gern hätte ich ihre Hand gehalten, die Krücken stehen lassen und ihre Hand gehalten, sagte es ihr, aber sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Ich begleitete sie durch die Gänge, in die Fahrstühle, während die Krankenschwestern sagten, nur ruhig, Papa, alles wird gutgehen, und ich fragte mich, was für ein Recht diese Frauen hatten, mich Papa zu nennen, geschweige denn, ihre Meinung über die Zukunft abzugeben. Dann setzten sie mich vor den riesigen Flügeltüren des OPs in ein Wartezimmer, das eher ein Durchgang war, mit drei Stühlen und einem Tisch voller Zeitschriften. Ich lehnte die Krücken in eine Ecke neben das Foto oder vielmehr Plakat eines rosigen Babys, das zahnlos lächelte und eine riesige Sonnenblume umarmte, dahinter ein blauer Himmel. Ich schlug eine alte Zeitschrift auf, versuchte mich mit dem Kreuzworträtsel abzulenken: Ort, an dem gedroschen wird. Bruder von Onan. Plump handelnder Mensch, oft vorsätzlich. Doch ich konnte nur an die Frau denken, die dort drinnen schlief, während ein Skalpell ihre Haut, ihr Fleisch aufritzte, an die behandschuhten Hände, die in ihren Leib tauchen würden, um meine Tochter herauszuholen. Dass diese Hände ja vorsichtig sind, dachte ich, dass sie geschickt zu Werke gehen, nicht berühren, was sie nicht sollen. Dass sie dir ja keinen Schaden zufügen, Leticia, und hab keine Angst, denn es gibt nichts zu fürchten. Ich saß längst nicht mehr auf dem Stuhl, als ein junger Mann herauskam und mir, ohne den Mundschutz abzunehmen, sagte: »Ihren Prinzessinnen geht es prächtig.« Ich weiß nicht mehr, wann ich aufgestanden war, mein Bein schmerzte bereits, und ich setzte mich wieder hin. Aus Scham schlug ich die Hände vors Gesicht, niemand stellt gern seine Tränen zur Schau. Plump handelnder Mensch, dachte ich, oft vorsätzlich. Als ich später Leticia in einer Art bläulichem durchsichtigem Planschbecken erblickte, als ich dann sah, wie sie schlief, fest in weiße Tücher geschlagen, die selbst von weitem Wärme vermittelten, da kam mir wieder diese lächerliche Umschreibung in den Sinn. Ich konzentrierte mich auf Leticia. Aus einer ärgerlichen Distanz sah ich ihre Augen mit den zarte Wimpern, sah den kleinsten Mund, den ich je gesehen hatte, und bedauerte, dass man beim Einwickeln ihre Hände versteckt hatte, denn nichts schien mir in dem Moment dringlicher zu sein, als die Hände meiner Tochter zu sehen. Ich wusste, dass ich niemals jemanden so lieben würde wie Leticia in diesem Augenblick, dass niemand für mich sein würde, was dieser Neuankömmling dort für mich war, diese vollkommen Unbekannte.
Ich hatte den Fuß nicht mehr in die Calle 14 gesetzt, geschweige denn in die Billardsalons (das Spiel hatte ich völlig aufgegeben, langes Stehen steigerte den Schmerz im Bein bis ins Unerträgliche). So ging mir ein Teil meiner Stadt verloren, oder besser gesagt, ein Teil von ihr wurde mir geraubt. Ich stellte mir eine Stadt vor, in der sich die Straßen und Gehwege nach und nach verschließen wie in Cortázars Erzählung die Zimmer des Hauses, bis sie einen ganz ausstoßen. »Es ging uns gut, und allmählich hörten wir auf, zu denken«, sagt der Bruder in der Erzählung, nachdem die geheimnisvolle Macht einen weiteren Teil des Hauses besetzt hat. Und er fügt hinzu: »Man kann leben, ohne zu denken.« Es stimmt, man kann. Nachdem mir die Calle 14 geraubt worden war, trotz der langen Therapien, der Schwindelanfälle und Magenkrämpfe wegen der Medikamente, wurde mir die Stadt langsam zuwider, ich hatte Angst vor ihr, fühlte mich von ihr bedroht. Die Welt war ein geschlossener Raum, mein Leben wie eingemauert. Der Arzt ließ sich über meine Furcht aus, das Haus zu verlassen, warf mir das Wort Agoraphobie zu wie einen zerbrechlichen Gegenstand, der nicht zu Boden fallen darf, und es war schwer, ihm zu erklären, dass genau das Gegenteil der Fall war, mich peinigte eine heftige Klaustrophobie. Eines Tages empfahl mir der Arzt während einer Sitzung, von der ich nichts weiter in Erinnerung habe, eine ganz persönliche Therapie, die, wie er sagte, bei einigen Patienten gut gewirkt habe.
»Führen Sie Tagebuch, Antonio?«
Ich verneinte, Tagebücher hätte ich schon immer für lächerlich gehalten, für Anachronismus oder Eitelkeit, die Einbildung, dass unser Leben von Bedeutung ist. Er entgegnete:
»Fangen Sie eins an. Kein richtiges Tagebuch, meine ich, sondern ein Heft, in dem Sie sich Fragen stellen.«
»Fragen«, wiederholte ich. »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, welche Gefahren es in Bogotá wirklich gibt. Wie wahrscheinlich es ist, dass Ihnen noch einmal geschieht, was geschehen ist. Ich kann Ihnen Statistiken geben, wenn Sie wollen. Fragen, Antonio, Fragen. Warum Ihnen genau das passiert ist. Wer schuld daran war. Ob Sie es waren oder nicht. Ob Ihnen das in einem anderen Land passiert wäre. Zu einer anderen Zeit. Ob diese Fragen überhaupt relevant sind. Es ist wichtig, die relevanten von den irrelevanten Fragen zu unterscheiden, Antonio, und das kann man zum Beispiel, indem man sie aufschreibt. Wenn Sie entschieden haben, welche davon relevant sind und welche nur der dumme Versuch, eine Erklärung für etwas zu finden, für was es keine gibt, stellen Sie sich weitere Fragen: Wie können Sie sich wieder fangen, wie können Sie vergessen, ohne sich selbst zu betrügen, wie können Sie ins Leben zurückfinden, sich wohlfühlen mit den Leuten, die Sie lieben. Was können Sie tun, um keine Angst mehr zu haben oder eine vernünftige Dosis an Angst, wie alle Welt sie hat. Was können Sie tun, um Fortschritte zu machen, Antonio. An vieles werden Sie bestimmt schon gedacht haben, aber auf dem Papier sehen die Fragen anders aus. Ein Tagebuch. Schreiben Sie die nächsten zwei Wochen, dann sprechen wir wieder.«
Ich hielt es für einen schwachsinnigen Vorschlag, der eher in ein Selbsthilfebuch passte als zu einem Fachmann mit grauen Schläfen, eigenem Briefpapier auf dem Schreibtisch und Diplomen in mehreren Sprachen an der Wand. Das sagte ich natürlich nicht, es war auch gar nicht nötig, denn er stand auf und ging zum Bücherregal (einheitlich gebundene Bände, Familienfotos, eine gerahmte Kinderzeichnung, unleserlich signiert). »Sie werden nichts dergleichen tun, das merke ich schon«, sagte er, während er eine Schublade aufzog. »Sie finden idiotisch, was ich Ihnen sage. Vielleicht ist es das. Aber tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie das hier mit.« Er holte einen Collegeblock hervor, wie die, die ich in der Schule benutzt hatte, mit diesen Deckblättern, die so lächerlich den Jeansstoff imitieren, er riss fünf, sechs Seiten vorne heraus, sah sich dann die letzte Seite an, um sicherzugehen, dass dort nichts notiert war, und überreichte es mir oder legte es vielmehr vor mich auf den Tisch. Ich nahm es, und um irgendetwas zu tun, schlug ich es auf und blätterte darin, als wäre es ein Roman. Das Heft war kariert. Schon immer hatte ich karierte Hefte gehasst. In die erste Seite hatte sich die Schrift des herausgerissenen Blattes gedrückt, Gespensterwörter. Ein Datum, ein unterstrichenes Wort, der Buchstabe y. »Danke«, sagte ich und ging. So skeptisch ich der Methode anfangs gegenübergestanden hatte, noch am selben Abend schloss ich die Schlafzimmertür hinter mir, schlug das Heft auf und schrieb: Liebes Tagebuch. Der Sarkasmus fiel ins Leere. Ich blätterte um und dachte über einen Anfang nach:
…?
Weiter kam ich nicht. Den Kugelschreiber in der Schwebe, den Blick in das einsame Fragezeichen versenkt, harrte ich lange Sekunden aus. Aura, die die Woche über mit einer leichten, doch lästigen Erkältung gekämpft hatte, schlief mit offenem Mund. Ich betrachtete sie, versuchte mich an einer Skizze ihres Gesichts und scheiterte. Im Geist ging ich durch, was am nächsten Tag zu erledigen war, Leticia impfen lassen, zum Beispiel. Dann schloss ich das Heft, verstaute es im Nachtschränkchen und löschte das Licht.
Draußen, irgendwo tief in der Nacht, bellte ein Hund.
1998, kurz nach Ende der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich und kurz vor Leticias zweitem Geburtstag, wartete ich eines Tages in der Gegend des Parque Nacional auf ein Taxi. Ich weiß nicht mehr, woher ich kam, weiß jedoch, dass ich in den Norden musste, zu einer der vielen Kontrolluntersuchungen, mit denen die Ärzte mich beruhigen, mir einreden wollten, dass die Genesung im normalen Rhythmus voranschritt, dass mein Bein bald wieder das alte sein würde. Doch kein Taxi fuhr Richtung Norden, viele dagegen Richtung Zentrum, dabei hatte ich doch im Zentrum gar nichts zu tun, wie ich unsinnigerweise dachte, hatte dort nichts verloren. Aber dann dachte ich: Alles habe ich dort verloren. Und ohne weiter nachzudenken, ein Akt der Selbstüberwindung, den niemand, der nicht in meiner Lage war, verstehen kann, überquerte ich die Straße und stieg ins erste Taxi, das vorbeikam. Ein paar Minuten später, mehr als zwei Jahre nach dem Vorfall, war ich zu Fuß unterwegs zur Plaza del Rosario, trat ins Café Pasaje, suchte mir ein freies Plätzchen und schaute von dort zur Ecke, an der der Anschlag stattgefunden hatte, ein Kind, das fasziniert und vorsichtig zugleich auf die nächtliche Koppel lugt, auf der ein Stier weidet.
Mein Tisch, eine runde braune Platte auf einem einzelnen Metallfuß, stand ganz vorne. Kaum eine Handbreit trennte mich von der Scheibe. Von dort aus konnte ich die Tür des Billardsalons nicht sehen, dafür aber den Weg, den die Mörder auf dem Motorrad genommen hatten. Das Pfeifen der verchromten Kaffeemaschine mischte sich mit dem Rauschen der nahen Hauptverkehrsstraße und dem Absatzklacken der Passanten; der Duft der gemahlenen Bohnen mischte sich mit dem Geruch aus den Toiletten, wenn jemand durch die Schwingtür ging. Die Menschen bevölkerten das triste Viereck des Platzes, überquerten die angrenzenden Straßen, umrundeten die Statue des Stadtgründers (dessen dunkle Rüstung ewig vom weißen Taubendreck bekleckst). Die Schuhputzer, die sich mit ihren Holzkästen vor der Universität postiert hatten, die Cliquen der Smaragdhändler, alle betrachtete ich und wunderte mich, dass sie nicht wussten, was dort geschehen war, so nah am Gehweg, auf dem jetzt ihre Schritte widerhallten. Vielleicht war es ihr Anblick, der mich an Laverde denken ließ, und mir wurde bewusst, dass ich es ohne Beklemmung tat, ohne Angst.
Ich bestellte einen Kaffee, dann noch einen. Die Frau, die den zweiten brachte, wischte den Tisch mit einem tristen, stinkenden Lappen ab und stellte gleich darauf die neue Tasse auf ein neues Tellerchen. »Möchten Sie noch etwas?«, fragte sie. Ich sah ihre dürren Fingerknöchel, durchfurcht von ausgefransten Pfaden, ein Geist aus Dampf stieg von der schwärzlichen Flüssigkeit auf. »Nein, nichts«, sagte ich und kramte in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen, ohne Erfolg. Das ganze Studium über war ich in dieses Café gegangen und konnte mich nicht mehr an den Namen der Frau erinnern, die seit Ewigkeiten um diese Zeit bediente. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Bitte.«
»Wissen Sie, wer Ricardo Laverde war?«
»Kommt drauf an«, sagte sie, trocknete sich die Hände an der Schürze, halb ungeduldig, halb gelangweilt. »War er ein Gast?«
»Nein«, sagte ich. »Oder vielleicht doch, aber ich glaube eher nicht. Er wurde da drüben umgebracht, hinter dem Platz.«
»Ach«, sagte die Frau. »Wie lang ist das her?«
»Zwei Jahre«, sagte ich. »Zweieinhalb.«
»Zweieinhalb«, wiederholte sie. »Nein, ich erinnere mich an keinen Toten von vor zweieinhalb Jahren. Tut mir leid.«
Ich war überzeugt, dass sie log. Natürlich konnte ich das nicht beweisen, und auch meine spärliche Fantasie fand keinen Grund für diese Lüge, aber ich hielt es für unmöglich, dass jemand ein Verbrechen nach so kurzer Zeit vergaß. Oder Laverde war gestorben und ich hatte den Todeskampf, das Fieber und die Halluzinationen durchgemacht, ohne dass der Vorfall Spuren in der Welt, in der Vergangenheit oder dem Gedächtnis meiner Stadt hinterlassen hatte. Das verstörte mich. Ich glaube, in dem Augenblick traf ich eine Entscheidung oder raffte mich zu etwas auf, auch wenn ich mich nicht an die Worte erinnere, in die ich meinen Entschluss fasste. Ich verließ das Café zur rechten Seite, machte einen Umweg, um die besagte Ecke zu meiden, und durchquerte das Candelaria-Viertel in Richtung der Gegend, in der Laverde gewohnt hatte, bis man ihn niederschoss.
Bogotá ist wie alle lateinamerikanischen Metropolen eine veränderliche Stadt, stets in Bewegung, ein instabiles Element mit sieben oder acht Millionen Einwohnern. Wenn man die Augen allzu lange schließt, schlägt man sie womöglich vor einer anderen Welt wieder auf (eine Eisenwarenhandlung, wo gestern noch Filzhüte verkauft wurden, ein Lottogeschäft, wo ein Schuhmacher gewesen war), als wäre die gesamte Stadt das Set für eine Sendung mit versteckter Kamera, bei der das Opfer in einem Restaurant auf die Toilette geht und auf dem Rückweg kein Restaurant mehr vorfindet, sondern ein Hotelzimmer. Aber in allen Städten Lateinamerikas gibt es einen oder mehrere Orte, die außerhalb der Zeit existieren, die unverändert bleiben, während der Rest sich wandelt. So ein Ort ist das Candelaria-Viertel. In Ricardo Laverdes Straße gab es immer noch die Druckerei an der Ecke, mit demselben Banner neben dem Türrahmen, im Fenster sogar dieselben Hochzeitseinladungen, dieselben Visitenkarten, die schon im Dezember 1995 als Reklame gedient hatten; an den Mauern, die 1995 mit Plakaten aus billigem Papier beklebt waren, klebten auch zweieinhalb Jahre später noch Plakate, gleiche Größe, gleiches Papier, gelbliche Rechtecke, die ein Begräbnis, einen Stierkampf oder eine Kandidatur für den Gemeinderat verkündeten, nur die Namen hatten gewechselt. Alles war hier beim Alten geblieben. Hier glich die Wirklichkeit – was nicht oft geschieht – unserer Erinnerung.
Auch Laverdes Haus glich meiner Erinnerung. Die Reihe der Dachziegel war nun an zwei Stellen durchbrochen, Zahnlücken im Mund eines Greises; der Türanstrich war auf Fußhöhe abgeblättert und das Holz gespalten, genau an dem Punkt, an dem der bepackte Ankömmling einen Fußtritt platziert, damit die Tür nicht zufällt. Aber alles andere war gleich geblieben, zumindest schien es mir so, als mein Klopfen im Innern des Hauses widerhallte. Niemand öffnete, ich trat zwei Schritte zurück und blickte nach oben, hoffte auf ein Zeichen menschlichen Lebens auf dem Dach. Ich fand keines, nur eine Katze, die um die Fernsehantenne strich, und ein Moospolster am Fuß der Antenne, mehr nicht. Ich wollte schon aufgeben, als sich hinter der Tür etwas regte. Eine Frau öffnete. »Was wünschen Sie?« Mir fiel nur etwas grandios Plumpes ein: »Wissen Sie, ich war ein Freund von Ricardo Laverde.«
Ihr Gesicht zeigte Bestürzung oder Argwohn. Die Frau sprach voll Feindseligkeit, war aber nicht erstaunt. Als hätte sie mit mir gerechnet. »Ich habe nichts weiter zu sagen«, antwortete sie. »Das war vor langer Zeit, ich habe alles den Journalisten erzählt.«
»Welchen Journalisten?«
»Das ist lange her, denen habe ich alles erzählt.«
»Aber ich bin kein Journalist«, sagte ich. »Ich war ein Freund …«
»Ich habe alles erzählt«, sagte die Frau. »Und Sie haben Ihren Mist geschrieben, denken Sie nicht, ich hätte das vergessen.«
Da tauchte hinter ihr ein Junge auf, der mir schon zu groß dafür zu sein schien, mit verschmiertem Mund herumzulaufen. »Was ist los, Consu? Belästigt Sie der Herr da?« Er kam näher zur Tür, und das Tageslicht schien ihm ins Gesicht: Es war kein verschmierter Mund, sondern der Schatten eines sprießenden Milchbarts. »Er sagt, er sei ein Freund von Ricardo gewesen«, flüsterte Consu. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, und ich tat das Gleiche mit ihr. Sie war dick, klein, hatte das Haar zu einem Knoten gebunden, der nicht grau zu sein schien, sondern abwechselnd schwarze und weiße Strähnen zeigte wie bei einem Spielbrett, und sie trug ein schwarzes Kleid aus einem elastischen Material, das sich an ihren Körper schmiegte, so dass der Strickgürtel unter dem weichen Bauch begraben wurde und nur als dicker, weißer Wurm hervortrat, der aus dem Nabel kroch. Ihr fiel etwas ein, zumindest schien es so, und in ihrem Gesicht, in den Falten ihres Gesichts, rosig und voller Schweiß, als hätte Consu gerade eine anstrengende Arbeit verrichtet, bildete sich ein Schmollmund. Der machte aus dieser Frau um die sechzig ein kleines Mädchen, dem jemand eine Süßigkeit vorenthalten hatte. »Sie erlauben«, sagte Consu und wollte die Tür schließen.
»Machen Sie nicht zu«, bat ich. »Ich erkläre es Ihnen.«
»Gehen Sie, Mann«, sagte der Junge. »Hier haben Sie nichts verloren.«
»Ich habe ihn gekannt«, sagte ich.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Consu.
»Ich war bei ihm, als er umgebracht wurde«, sagte ich da. Ich hob mein Hemd und zeigte der Frau die Narbe auf dem Bauch. »Eine der Kugeln hat mich getroffen.«
Narben sind beredt.
In den folgenden Stunden erzählte ich Consu von jenem Tag, von der Begegnung mit Laverde im Billardsalon, von der Casa de la Poesía und dem, was danach geschehen war, sprach von dem, was Laverde mir erzählt hatte, und dass ich den Grund für all das noch immer nicht verstand. Ich sprach auch von der Aufnahme, von dem hemmungslosen Kummer, der Laverde beim Anhören überwältigt hatte, von meinen damaligen Vermutungen, was sie womöglich enthielt und was für Worte eine solche Wirkung auf einen mehr oder weniger abgehärteten Erwachsenen haben konnten. »Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte ich. »Ich habe es versucht, das schwöre ich, aber es gelingt mir nicht. Mir fällt nichts ein.« »Gar nichts, nicht wahr?«, sagte sie. »Nein.« Inzwischen saßen wir in der Küche, Consu auf einem weißen Plastikstuhl, ich auf einem Holzschemel mit gebrochener Querlatte, so nah an der Gasflasche, dass wir sie mit der Hand hätten berühren können. Das Innere des Hauses war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: der Innenhof, das offene Gebälk, die grünen Türen der Mietzimmer. Consu hörte mir zu und nickte, steckte die Hände zwischen die Knie und presste die Beine zusammen, als wollte sie nicht, dass ihre Hände entschlüpften. Nach einer Weile bot sie mir schwarzen Kaffee an, zubereitet mithilfe eines zerschnittenen Nylonstrumpfs, den sie mit Kaffeepulver füllte und in einem Blechtöpfchen voll grauer Beulen versenkte, und als ich ausgetrunken hatte, bot sie mir einen weiteren an und wiederholte die Prozedur, wobei sich die Luft erneut mit dem Geruch nach Gas und angerissenem Streichholz füllte. Ich fragte Consu, in welchem Zimmer Laverde gewohnt hatte, und sie zog die Lippen kraus und wies wie ein störrisches Fohlen mit dem Kopf in die Richtung. »In dem da drüben«, sagte sie. »Jetzt wohnt ein Musiker dort, ein netter Kerl, das können Sie mir glauben, er spielt Gitarre, im Camarín del Carmen.« Sie schwieg, blickte auf ihre Hände und sagte dann: »Er hatte ein Nummernschloss, Ricardo trug nicht gern Schlüssel mit sich herum. Ich musste es aufbrechen, nachdem man ihn umgebracht hatte.«
Wie der Zufall es wollte, war die Polizei genau zu der Uhrzeit gekommen, um die Laverde sonst nach Hause kam, und im Glauben, es sei Ricardo, öffnete Consu ihnen, bevor sie überhaupt geklopft hatten. Zwei Polizisten standen vor ihr, ein grauhaariger, der lispelte, während der andere zwei Schritte im Hintergrund blieb und kein einziges Wort sagte. »Man merkte, dass er frühzeitig ergraut war, wer weiß, was der Mann alles gesehen hat«, sagte Consu. »Er zeigte mir einen Ausweis und fragte, ob ich das Individuum kennen würde. Individuum, so drückte er sich aus, ein seltsames Wort für einen Toten. Und ich muss zugeben, ich habe ihn nicht erkannt«, sagte Consu und bekreuzigte sich. »Er sah so anders aus. Ich musste erst den Namen lesen, um bestätigen zu können, ja, der Herr heißt Ricardo Laverde, er wohnt hier seit dem und dem Monat. Zuerst dachte ich: Er hat sich in Schwierigkeiten gebracht. Die werden ihn wieder einlochen. Er tat mir leid, denn seit er draußen war, hatte sich Ricardo streng an alles gehalten.«
»An was alles?«
»An das, was Häftlinge tun müssen. Die ehemaligen Häftlinge, die keine mehr sind.«
»Also wussten Sie Bescheid«, sagte ich.
»Natürlich, Junge. Alle Welt wusste Bescheid.«
»Und wusste man auch, was er getan hat?«
»Nein, das nicht«, sagte Consu. »Na ja, ich wollte nie nachhaken. Das hätte unsere Beziehung verdorben, stimmt’s? Was ich mit dem Auge nicht seh, tut dem Herze nicht weh. Das ist meine Meinung.«
Die Polizisten waren ihr bis zu Laverdes Zimmer gefolgt. Mit einem Hammer als Brechstange sprengte Consu den Aluminiumbogen, und das Schloss landete im Abfluss des Innenhofs. Als sie die Tür öffnete, stießen sie auf eine Mönchszelle: das mustergültige Rechteck der bezogenen Matratze, die makellosen Laken, der Kopfkissenbezug ohne Falten, ohne die Kurven und Straßen, die ein Kopf während der Nacht hineingräbt. Neben der Matratze ein unbehandeltes Holzbrett über zwei Ziegeln, auf dem Brett ein Glas Wasser, das trüb aussah. Am nächsten Tag erschien dieses Bild, die Matratze und der improvisierte Nachttisch, in der Boulevardpresse neben dem des Blutflecks auf dem Gehweg in der Calle 14. »Seit dem Tag kommt mir kein Journalist mehr ins Haus«, sagte Consu. »Die Leute haben auch vor gar nichts Achtung.«
»Wer hat ihn umgebracht?«
»Ach, wenn ich das wüsste. Ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat, ich weiß es nicht, wo er doch eine Seele von Mensch war. Einen besseren Menschen habe ich nie kennengelernt, das schwöre ich. Mag er auch schlimme Sachen gemacht haben.«
»Was für Sachen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Consu. »Etwas wird er getan haben.«
»Etwas wird er getan haben«, wiederholte ich.
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle«, sagte Consu. »Wird er wieder lebendig, wenn wir es herausfinden?«
»Nein, wird er nicht«, sagte ich. »Und wo liegt er begraben?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß nicht. Um ihn zu besuchen. Ihm Blumen zu bringen. Wie war die Beerdigung?«
»Klein. Natürlich habe ich mich drum gekümmert. Ich war das, was für Ricardo einer Familie am nächsten kam.«
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Die Frau war gerade umgekommen.«
»Ach«, sagte Consu. »Sieh an, Sie wissen auch so einiges.«
»Sie wollte Weihnachten mit ihm verbringen. Er hatte so ein seltsames Foto von sich machen lassen, um es ihr zu schenken.«
»Seltsam? Wieso seltsam? Ich fand es rührend.«
»Es war ein seltsames Foto.«
»Das Foto mit den Tauben«, sagte Consu.
»Ja«, sagte ich. »Das Foto mit den Tauben.« Und dann: »Bestimmt hatte es damit zu tun.«
»Was?«
»Was er sich angehört hat. Ich habe immer gedacht, dass er etwas gehört hat, was mit ihr zu tun hatte, mit der Frau. Vielleicht ein gesprochener Brief, ich weiß nicht, ein Gedicht, das ihr gefiel.«
Zum ersten Mal lächelte Consu. »Das stellen Sie sich vor?«
»Etwas in der Art.« Und dann, ich weiß nicht, warum, log oder übertrieb ich: »Zweieinhalb Jahre beschäftigt mich das schon, es ist merkwürdig, dass eine Tote so viel Raum beanspruchen kann, selbst wenn man sie nicht gekannt hat. Zweieinhalb Jahre Grübeln über Elena de Laverde. Über Elena Fritts oder wie sie geheißen haben mag. Zweieinhalb Jahre«, sagte ich. Es tat gut, das auszusprechen.
Ich weiß nicht, was Consu in meinem Gesicht las, doch ihre Miene veränderte sich, sie setzte sich sogar anders hin.
»Sagen Sie mir eins«, sagte sie, »aber die Wahrheit. Haben Sie ihn gerngehabt?«
»Wie bitte?«
»Ja oder nein?«
»Ja«, sagte ich, »sehr gern.«
Auch das stimmte natürlich nicht. Für Zuneigung hatte uns das Leben keine Zeit gelassen, mich trieb kein Gefühl, keine Emotion an, sondern diese Eingebung, die man manchmal hat, dass bestimmte Ereignisse unser Leben mehr geprägt haben, als man wahrhaben möchte oder es den Anschein hat. Aber ich habe gelernt, dass einem solch feine Unterschiede in der realen Welt nichts nützen und man sie oft über Bord werfen und dem anderen sagen muss, was er hören will, ohne allzu aufrichtig zu sein (Aufrichtigkeit ist nutzlos, sie führt zu nichts). Ich musterte Consu und sah eine einsame Frau, einsam, so einsam wie ich selbst. »Sehr«, wiederholte ich. »Ich hatte ihn sehr gern.«
»Gut«, sagte sie und stand auf. »Warten Sie, ich will Ihnen etwas zeigen.«
Sie verschwand für ein paar Augenblicke. Ich konnte ihre Bewegungen anhand der Geräusche verfolgen, das Klappern ihrer Schuhe, das kurze Gespräch mit einem Mieter – »spät dran, mein Alter«, »ach, Doña Consu, kümmern Sie sich nicht drum, geht Sie nichts an« –, und einen Moment lang dachte ich, dass unser Gespräch zu Ende war und gleich der Junge mit dem spärlichen Schnurrbart kommen und mich mit einem geschwollenen Satz zum Gehen auffordern würde, Ich begleite Sie zur Tür oder Vielen Dank für Ihren Besuch. Doch da kam sie zurück, den Blick geistesabwesend auf die Fingernägel der linken Hand gerichtet: wieder das kleine Mädchen, das ich an der Haustür gesehen hatte. In der anderen Hand (ihre Finger wurden sanft beim Festhalten, als trügen sie ein krankes Tier) einen verkleinerten Fußball, der sich als alter Radiorekorder in Ballform entpuppte. Zwei der schwarzen Sechsecke waren die Lautsprecher, und oben befand sich das Kassettendeck, ein Fenster und dahinter eine schwarze Kassette. Eine schwarze Kassette mit orangefarbenem Etikett. Auf dem Etikett nur vier Buchstaben: BASF.
»Es ist nur die A-Seite«, sagte Consu. »Wenn Sie zu Ende gehört haben, stellen Sie alles neben den Herd. Wo die Streichhölzer sind. Und ziehen Sie die Tür fest zu, wenn Sie gehen.«
»Moment, Moment«, sagte ich. Die Fragen überschlugen sich in meinem Mund. »Die haben Sie?«
»Die habe ich.«
»Wie sind Sie dazu gekommen? Wollen wir sie nicht gemeinsam hören?«
»Das nennt man persönliche Gegenstände«, sagte sie. »Die Polizei hat sie gebracht, mit allem, was in Ricardos Taschen war. Nein, ich höre sie mir nicht mehr an. Ich kenne sie auswendig und will sie nicht noch einmal hören, diese Kassette hat nichts mit Ricardo zu tun. Im Grunde auch nichts mit mir. Ganz schön merkwürdig, nicht wahr? Sie gehört zu meinem wertvollsten Besitz und hat nichts mit meinem Leben zu tun.«
»Zu Ihrem wertvollsten Besitz«, wiederholte ich.
»Sie wissen ja, man fragt die Leute oft, was sie bei einem Brand aus dem Haus retten würden. Ich jedenfalls würde diese Kassette retten. Vielleicht, weil ich nie eine Familie hatte, hier gibt es keine Fotoalben oder dergleichen.«
»Und der Junge an der Tür?«
»Was ist mit ihm?«
»Gehört der nicht zur Familie?«
»Das ist ein Mieter«, sagte Consu, »wie jeder andere.« Sie überlegte einen Moment und fügte hinzu: »Die Mieter sind meine Familie.«
Mit diesen Worten (und einem sicheren Gefühl fürs Melodram) ging sie aus dem Haus und ließ mich allein zurück.
Auf der Kassette unterhielten sich zwei Männer auf Englisch. Sie redeten erst über die Wetterverhältnisse, die gut waren, dann über die Arbeit. Einer versuchte dem anderen die Regelung mit der Stundenzahl zu erklären, die man fliegen durfte, bevor eine Ruhepause eingelegt werden musste. Das Mikrofon (wenn es ein Mikrofon war) zeichnete ein konstantes Brummen auf, und vor dem Hintergrundbrummen das Rascheln von Papier.
»Mir haben sie das Formular hier gegeben«, sagte der erste Mann.
»Na, sieh zu, ob du was findest«, sagte der zweite. »Ich kümmere mich um Flugzeug und Funk.«
»Gut. Aber in dem Formular ist bloß von der Arbeitszeit die Rede, nicht von der Ruhezeit.«
»Ja, das ist wirklich verwirrend.«
Ich weiß noch sehr gut, dass ich dem Gespräch mehrere Minuten lang zuhörte – und angestrengt auf eine Anspielung auf Laverde wartete –, bevor ich halb bestürzt, halb verblüfft feststellte, dass die beiden, die da sprachen, rein gar nichts mit Ricardo Laverdes Tod zu tun hatten, mehr noch, dass in keinem Moment von Ricardo Laverde die Rede war. Einer der beiden Männer sprach von den hundertsechsunddreißig Meilen bis zur VOR-Station, von den zweiunddreißigtausend Fuß, die sie sinken und dabei die Geschwindigkeit drosseln mussten, es sei also Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Da sagte der andere die Worte, die alles änderten: »Bogotá, American neun sechs fünf, Erlaubnis zum Sinken.« Ich konnte kaum glauben, wie lange ich gebraucht hatte, um zu begreifen, dass dieser Flug in wenigen Minuten am Berg El Diluvio zerschellen und unter den Toten die Frau sein würde, die mit Ricardo Laverde die Feiertage hatte verbringen wollen.
»American Airlines Operations in Cali, hier American neun sechs fünf. Hören Sie mich?«
»Kommen, American neun sechs fünf, hier Cali Ops.«
»In Ordnung, Cali. Wir sind in circa fünfundzwanzig Minuten da.«
Das also hatte Ricardo Laverde gehört, bevor er ermordet wurde: die Blackbox-Aufzeichnung des Flugs, in dem seine Frau ums Leben gekommen war. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag, brachte mich aus dem Gleichgewicht, ließ die Welt um mich herum verschwimmen. Wie war sie in seine Hände gelangt? War das möglich, konnte man die Aufnahme einer verunglückten Maschine anfordern und bekam sie, wie man, sagen wir, Unterlagen vom Katasteramt bekommt? Sprach Laverde Englisch, verstand er das Gespräch zumindest so weit, um es zu verfolgen, zu begreifen, zu beweinen – ja, vor allem zu beweinen? Aber vielleicht musste man gar nichts verstehen, um zu weinen, denn nichts in dem Gespräch wies auf Laverdes Frau hin. Reichte nicht schon das Wissen, das schreckliche Wissen um die Nähe zwischen den sprechenden Piloten und einer Passagierin? Zweieinhalb Jahre später blieben diese Fragen ohne Antwort. Der Kapitän erkundigte sich nach dem Gate (es war Nummer zwei), er fragte nach der Landebahn (die null eins), er schaltete die Flugzeugscheinwerfer an, denn in der Gegend gab es Sichtflugverkehr, sie sprachen von einer Position siebenundvierzig Meilen nördlich von Rionegro und suchten sie in dem Flugplan … Und jetzt, endlich, kam die Ansage über die Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän. Wir haben mit unserem Anflug begonnen.«
Sie haben den Anflug begonnen. Eine dieser Damen ist Elena Fritts, die gerade ihre kranke Mutter in Miami besucht hat oder auf der Beerdigung der Großmutter war oder einfach nur ihre Freunde sehen wollte (um Thanksgiving mit ihnen zu verbringen). Nein, es ist ihre Mutter, ihre kranke Mutter. Elena Fritts denkt vielleicht gerade an die Mutter, macht sich Sorgen, weil sie sie allein zurückgelassen hat, fragt sich, ob sie gut daran getan hat. Sie denkt auch an Ricardo Laverde, ihren Mann. Denkt sie an ihren Mann? An ihren Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wurde? »Ich wünsche allen ein frohes Fest und ein gesundes, glückliches 1996«, sagt der Kapitän. »Danke, dass Sie mit uns geflogen sind.« Elena Fritts denkt an Ricardo Laverde. Denkt, dass sie jetzt ihr Leben dort wieder aufnehmen können, wo sie es unterbrechen mussten. Währenddessen bietet der Kapitän im Cockpit dem Kopiloten Erdnüsse an. »Nein, danke«, sagt der Kopilot. Der Kapitän: »Schöne Nacht, was?« Und der Kopilot: »Ja, sieht schön aus hier.« Dann kontaktieren sie den Kontrollturm, bitten um Erlaubnis, noch weiter zu sinken, der Tower antwortet, sinken auf zwei null null, und dann wünscht der Kapitän in einem Spanisch mit starkem Akzent frohe Weihnachten: »Feliz Navidad, Señorita.«
Woran denkt Elena Fritts auf ihrem Sitz? Aus unerfindlichem Grund bilde ich mir ein, dass sie am Fenster sitzt. Tausendmal habe ich mir diesen Moment vorgestellt, habe ihn tausendmal rekonstruiert, habe wie ein Bühnenbildner eine Bühne aufgebaut und sie mit Vermutungen angefüllt, bis ins kleinste Detail: von der Kleidung, die Elena trägt – eine leichte hellblaue Bluse, keine Strümpfe in den Schuhen –, bis zu ihren Ansichten und Vorurteilen. Meine Fantasie hat sich darauf versteift, dass sich das Fenster linker Hand befindet, und rechts von ihr ein schlafender Passagier (behaarte Arme, unregelmäßiges Schnarchen). Das Tischchen ist ausgeklappt, Elena Fritts wollte es schließen, als der Kapitän den Anflug angekündigt hat, aber noch hat niemand ihren Plastikbecher eingesammelt. Elena Fritts schaut aus dem Fenster und sieht einen klaren Himmel, sie weiß nicht, dass ihr Flugzeug gerade auf zwanzigtausend Fuß sinkt, es spielt keine Rolle für sie. Sie ist müde, es ist nach neun Uhr abends, und Elena Fritts ist schon seit dem frühen Morgen unterwegs, denn ihre Mutter wohnt nicht direkt in Miami, sondern in einem Vorort. Vielleicht sogar in einer völlig anderen Stadt, in Fort Lauderdale, zum Beispiel, oder Coral Springs, in einem dieser Städtchen in Florida, die eher gewaltige Altenheime sind, in denen die Alten des ganzen Landes ihre letzten Jahre fern der Kälte, dem Stress und den grollenden Blicken ihrer Kinder verbringen. Also musste Elena Fritts früh aufstehen; ein Nachbar, der ohnehin nach Miami wollte, nahm sie zum Flughafen mit, und Elena fuhr zwei, drei Stunden mit ihm auf diesen schnurgeraden Autobahnen, die in der ganzen Welt für ihre einschläfernde Wirkung berüchtigt sind. Jetzt denkt sie nur daran, in Cali zu landen, den Anschlussflug zu erreichen, nach Bogotá zu kommen, so müde, wie die Passagiere immer sind, die diesen Flug mit diesem Anschluss nehmen, aber glücklicher als andere Passagiere, weil sie dort ein Mann erwartet, der sie liebt. Daran denkt sie und dass sie eine schöne Dusche nehmen und ins Bett gehen wird. Unten in Cali sagt eine Stimme: »American neun sechs fünf, Ihre Entfernung?«
»Wie bitte, Sir?«
»Ihre DME-Anzeige.«
»OK«, sagt der Kapitän, »die Entfernung zu Cali beträgt, äh, achtunddreißig.«
»Wo sind wir?«, fragt der Kopilot. »Wir fliegen Richtung …«
»Zuerst mal nach Tuluá. OK?«
»Ja. Wohin fliegen wir jetzt?«
»Ich weiß nicht. Was soll das? Was ist hier los?«
Die Boeing 757 ist auf dreizehntausend Fuß gesunken, dreht erst nach rechts, dann nach links, aber Elena Fritts merkt es nicht. Es ist Nacht, eine dunkle, wenn auch klare Nacht, und unten erscheinen bereits die Umrisse der Berge. Im Plastikfenster sieht Elena ihr Gesicht, fragt sich, was sie hier zu suchen hat, ob es ein Fehler war, nach Kolumbien zu fliegen, ob ihre Ehe wirklich zu retten ist oder ob es stimmt, was ihre Mutter im apokalyptischen Tonfall einer Wahrsagerin gesagt hat: »Zu ihm zurückzukehren wird deine letzte idealistische Tat gewesen sein.« Elena Fritts steht zu ihrem idealistischen Charakter, denkt aber, dass sie das nicht automatisch zu einem Leben ewiger Fehlentscheidungen verdammt: Auch Idealisten treffen manchmal ins Schwarze. Die Lichter gehen aus, ihr Gesicht im Fenster verschwindet, und Elena Fritts denkt, dass es ihr einerlei ist, was ihre Mutter sagt: Um nichts auf der Welt würde sie Ricardo an seiner ersten Weihnacht in Freiheit allein lassen.
»Nein, auf meinem sieht’s aus, als wären wir falsch«, sagt der Kapitän. »Ich weiß nicht, warum.«
»Also nach links? Soll ich wieder nach links zurück?«
»Himmel … nein. Fliegen wir weiter nach …«
»Weiter wohin?«
»Tuluá.«
»Das ist nach rechts.«
»Wohin fliegen wir? Dreh nach rechts. Wir fliegen nach Cali. Verdammt, wir haben Mist gebaut, oder?«
»Ja.«
»Warum haben wir’s bloß vermasselt? Sofort nach rechts, sofort nach rechts.«
Elena Fritts sitzt auf ihrem Platz in der Touristenklasse und weiß nicht, dass etwas schiefläuft. Hätte sie Grundkenntnisse in der Luftfahrt, könnte sie verdächtige Änderungen der Flugroute feststellen, könnte erkennen, dass die Piloten von ihrer Richtung abgewichen sind. Aber nein, Elena Fritts versteht nichts von Luftfahrt, kann sich nicht vorstellen, dass ein Sinken auf weniger als zehntausend Fuß in gebirgiger Gegend riskant ist, wenn man das Gebiet nicht kennt. Woran denkt sie also?
Woran denkt Elena Fritts eine Minute vor ihrem Tod?
Im Cockpit schrillt der Alarm: »Terrain, terrain«, sagt eine elektronische Stimme. Aber Elena Fritts hört sie nicht. Der Alarm ist von ihrem Sitz aus weder zu hören, noch ahnt man, wie gefährlich nah der Berg ist. Die Crew erhöht die Schubkraft, löst aber nicht die Bremsklappen. Die Maschine hebt kurz die Nase. Nichts davon ist ausreichend.
»Scheiße«, sagt der Pilot. »Zieh hoch, Junge.«
Woran denkt Elena Fritts? Denkt sie an Ricardo Laverde? Denkt sie an die bevorstehenden Feiertage? Denkt sie an ihre Kinder? »Scheiße«, sagt der Kapitän im Cockpit, aber Elena Fritts kann ihn nicht hören. Haben Elena Fritts und Ricardo Laverde Kinder? Wo sind diese Kinder, wenn es sie gibt, und wie hat sich ihr Leben während der Abwesenheit des Vaters verändert? Kennen sie die Gründe für diese Abwesenheit, sind sie in einem Netz von Familienlügen und kunstvoll gesponnenen Legenden mit verdrehter Zeitfolge aufgewachsen?
»Hoch«, sagt der Kapitän.
»Alles in Ordnung«, sagt der Kopilot.
»Hoch«, sagt der Kapitän. »Sachte, sachte.« Der Autopilot hat sich ausgeschaltet. Der Steuerknüppel in den Händen des Piloten beginnt zu vibrieren, ein Zeichen, dass das Flugzeug nicht schnell genug ist, um in der Luft zu bleiben. »Höher, höher«, sagt der Kapitän.
»OK«, sagt der Kopilot.
Und der Kapitän: »Hoch, hoch, hoch.«
Wieder ertönt der Alarm.
»Pull up«, sagt eine elektronische Stimme.
Man hört einen Schrei, der abbricht, oder etwas, was einem Schrei ähnelt. Man hört ein Geräusch, das ich nicht identifizieren kann, nie werde identifizieren können: ein Geräusch, das nicht menschlich ist oder allzu menschlich, das Geräusch der Leben, die gerade erlöschen, dazu das berstende Material. Es ist das Geräusch der Dinge, die aus dieser Höhe fallen, ein abgebrochenes Geräusch und deshalb ewig, ein Geräusch, das niemals endet und seit jenem Nachmittag in meinem Kopf weiterrauscht, keinerlei Anstalten macht, zu verschwinden, das dort auf immer in meinem Gedächtnis hängt wie ein Handtuch an der Stange.
Dieses Geräusch ist das Letzte, was man aus dem Cockpit des Fluges 965 hört.
Das Geräusch erklingt, dann bricht die Aufzeichnung ab.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich gefasst hatte. Nichts ist indiskreter, als heimlich die letzten Augenblicke eines Menschen zu verfolgen. Sie sollten geheim bleiben, unantastbar, sollten mit dem sterben, der stirbt. Und doch wurden in der Küche dieses alten Hauses im Candelaria-Viertel die letzten Worte der toten Piloten Teil meines Gedächtnisses, auch wenn ich nicht wusste, noch immer nicht weiß, wer diese unglücklichen Männer waren, wie sie hießen, was sie sahen, wenn sie in den Spiegel schauten. Auch diese Männer hatten niemals etwas von mir erfahren, und doch gehörten mir nun ihre letzten Augenblicke, bis in alle Zukunft. Mit welchem Recht? Weder ihre Frauen, ihre Mütter, Väter oder Kinder hatten die Worte gehört, die ich gehört hatte, fragten sich vielleicht seit zweieinhalb Jahren, was ihr Mann, ihr Vater, ihr Sohn gesagt hatte, bevor er am Hang von El Diluvio zerschellt war. Ich, der ich kein Recht auf diese Stimmen hatte, wusste es nun; sie, die sehr wohl eines hatten, wussten es nicht. Und mir kam der Gedanke: Ich habe tatsächlich kein Recht, mir diesen Tod anzuhören, denn diese Männer, die da im Flugzeug sterben, sind mir fremd, und die Frau, die hinten mitreist, ist keine meiner Toten, wird es niemals sein.
Und doch waren diese Geräusche nun Teil meines auditiven Gedächtnisses. Sobald das Tonband stumm blieb und die Laute der Tragödie dem statischen Rauschen wichen, wusste ich, dass ich es lieber nicht gehört hätte, und wusste zugleich, dass es bis in alle Ewigkeit in meinem Gedächtnis widerhallen würde. Nein, das waren nicht meine Toten, ich hatte kein Recht gehabt, diese Worte zu hören (und wohl ebenso wenig, sie hier wiederzugeben, dazu bestimmt noch ungenau), aber die Worte und Stimmen der Toten verschlangen mich bereits wie der Strudel eines Flusses ein erschöpftes Tier verschlingt. Die Aufzeichnung hatte zudem die Vergangenheit verändert, denn Laverdes Weinen war, ja konnte nicht mehr das gleiche sein, das ich in der Casa de la Poesía mit angesehen hatte. Es besaß nun eine Tiefe, die es vorher nicht besessen hatte, aufgrund der simplen Tatsache, dass ich dasselbe gehört hatte wie er an jenem Nachmittag auf dem weichen Ledersofa. Die Erfahrung, das, was wir Erfahrung nennen, ist keine Sammlung eigener Schmerzen, sondern das erlernte Mitleid mit dem fremden Schmerz.
Mit der Zeit fand ich mehr über die Blackbox eines Flugzeugs heraus. Ich weiß zum Beispiel, dass sie nicht schwarz ist, sondern orangefarben, weiß, dass sie im empennage aufbewahrt wird – dem Flugzeugteil, den wir Laien Schwanz nennen –, denn dort überlebt sie einen Unfall mit größerer Wahrscheinlichkeit. Und eine Blackbox, auch das weiß ich inzwischen, überlebt: Sie widersteht einem Druck von 2250 Kilo und Temperaturen von 1100 Grad Celsius. Wenn sie ins Meer fällt, wird ein Sender aktiviert, die Blackbox sendet dann dreißig Tage lang Signale aus. In dieser Zeit müssen die Verantwortlichen sie finden, damit sie die Gründe des Unfalls erfahren und sicherstellen können, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Bestimmt rechnet niemand damit, dass eine Blackboxaufzeichnung zu etwas anderem dienen könnte, dass sie in Händen landet, die in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen sind. Doch genau das war mit der Blackbox des Fluges 965 geschehen, die den Unfall überlebt hatte, in eine schwarze Kassette mit orangefarbenem Etikett verzaubert worden war und zwei Besitzer gehabt hatte, bevor sie Teil meiner Erinnerungen wurde. So kam es, dass diese Erfindung, als elektronisches Gedächtnis für Flugzeuge gedacht, am Ende zu einem festen Bestandteil meines Gedächtnisses wurde. Da ist sie nun, nichts kann man dagegen tun. Sie zu vergessen ist unmöglich.
Ich wartete eine ganze Weile, bevor ich das Candelaria-Haus verließ, nicht nur, weil ich mir die Aufnahme noch einmal anhörte (das tat ich: nicht ein, sogar zwei Mal), sondern weil ich plötzlich das dringende Bedürfnis hatte, Consu wiederzusehen. Was wusste sie noch von Ricardo Laverde? Vielleicht wollte sie nicht zu Enthüllungen gedrängt werden, sich keinem plötzlichen Verhör aussetzen und hatte mich deshalb allein in ihrem Haus zurückgelassen, mit ihrem wertvollsten Besitz. Allmählich wurde es dunkel. Ich schaute auf die Straße. Die gelben Laternen gingen bereits an, die weißen Häuserwände änderten ihre Farbe. Es war kalt. Ich blickte zur einen Ecke, dann zur anderen. Consu war nicht da, war nirgendwo zu sehen, also kehrte ich in die Küche zurück, wo ich in einem größeren Beutel eine kleine Papiertüte von der Größe einer Halbliterflasche Schnaps fand. Mein Kugelschreiber schrieb nicht gut darauf, aber es musste genügen.
Verehrte Consu,
eine Stunde habe ich auf Sie gewartet. Danke, dass ich die Aufnahme hören durfte. Ich wollte es Ihnen persönlich sagen, aber leider war es nicht möglich.
Unter die hingekritzelten Zeilen schrieb ich meinen vollen Namen, diesen Nachnamen, der in Kolumbien so ungewöhnlich ist und dessen Erwähnung mich bei manchen Leuten immer noch ein wenig beklommen macht, denn hier im Land erntet man bei vielen Misstrauen, wenn man seinen Nachnamen buchstabieren muss. Dann strich ich die Tüte glatt und ließ sie auf dem Rekorder zurück, ein Zipfel ins Kassettendeck geklemmt. Mit wirren Gefühlen und einer einzigen Gewissheit trat ich auf die Straße: Ich wollte nicht nach Hause, wollte allein für mich bewahren, was eben geschehen war, das Geheimnis, das mir offenbart worden war. Nie mehr würde ich Ricardo Laverdes Leben so nahe sein wie dort in seinem Haus, während der Minuten, die die Blackboxaufzeichnung gedauert hatte. Ich wollte nicht, dass diese merkwürdige Erregung verflog, ging also zur Carrera Séptima hinunter und begann, durch Bogotás Zentrum zu wandern, über die Plaza de Bolívar und weiter Richtung Norden, schob mich auf den ewig überfüllten Gehwegen zwischen den Leuten hindurch, ließ mich von denen schubsen, die es eiliger hatten, und stieß mit den Entgegenkommenden zusammen, suchte mir Gässchen, die ich kaum je betreten hatte, besuchte sogar den Kunsthandwerksmarkt, in der Calle 10, wie mir scheint, und dachte die ganze Zeit über, dass ich nicht nach Hause wollte, dass Aura und Leticia Teil einer anderen Welt waren, die nichts mit der gemein hatte, in der die Erinnerung an Ricardo Laverde lebte, nichts mit der, in der der Flug 965 zerschellt war. Nein, ich konnte noch nicht nach Hause. Inzwischen hatte ich die Calle 22 erreicht und dachte weiterhin daran, wie ich die Rückkehr hinausschieben könnte, um länger in und mit der Blackbox zu leben, bis mein Körper für mich entschied und ich in einem Nonstop-Pornokino landete, in dem eine Frau mit langem hellem Haar nackt inmitten einer Einbauküche ein Bein anhob, den Schuhabsatz im Gitter des Gasherds verhakte und dieses prekäre Gleichgewicht hielt, während ein bekleideter Mann in sie eindrang und ihr dabei unverständliche Befehle gab, bei denen die Worte niemals zu den Mundbewegungen passten.
Am Gründonnerstag 1999, neun Monate nach meiner Begegnung mit Ricardo Laverdes Hauswirtin und acht Monate vor dem Jahrtausendende, fand ich beim Nachhausekommen eine Frauenstimme und eine Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter. »Das ist eine Nachricht für Herrn Antonio Yammara«, sagte die Stimme, eine junge, doch melancholische Stimme, müde und zugleich sinnlich wie bei diesen Frauen, die frühzeitig haben erwachsen werden müssen. »Señora Consuelo Sandoval hat mir Ihren Namen gegeben, die Nummer habe ich selbst herausgesucht. Ich hoffe, es stört Sie nicht, Sie stehen im Telefonbuch. Rufen Sie mich bitte zurück. Ich muss mit Ihnen reden.« Ich wählte die Nummer sofort. »Ich habe auf Ihren Anruf gewartet«, sagte die Frau.
»Mit wem spreche ich?«
»Verzeihung, wenn ich Sie belästige«, sagte sie. »Ich bin Maya Fritts, ich weiß nicht, ob Ihnen mein Nachname etwas sagt. Gut, es ist nicht mein richtiger Nachname, sondern der meiner Mutter, eigentlich heiße ich Laverde.« Als ich stumm blieb, fügte die Frau hinzu, was nicht mehr gesagt werden musste: »Ich bin Ricardo Laverdes Tochter. Ich muss Sie ein paar Dinge fragen.« Darauf hatte ich wohl etwas geantwortet, aber es ist ebenso möglich, dass ich nur den Namen wiederholte, die beiden Namen, den ihren und den ihres Vaters. Maya Fritts, Tochter von Ricardo Laverde, sprach weiter. »Aber wissen Sie, ich wohne weit weg und kann nicht nach Bogotá kommen, das ist eine lange Geschichte. Deshalb bitte ich Sie um einen doppelten Gefallen, ich möchte Sie einladen, mit mir einen Tag hier in meinem Haus zu verbringen. Ich möchte, dass Sie mir von meinem Vater erzählen, mir alles erzählen, was Sie wissen. Es ist ein großer Gefallen, ich weiß, aber hier ist es warm und die Küche vorzüglich, ich verspreche Ihnen, Sie werden die Fahrt nicht bereuen. Was meinen Sie, Herr Yammara? Wenn Sie Papier und Stift haben, erkläre ich Ihnen gleich, wie Sie herkommen.«