III. Der Blick der Abwesenden
Um sieben Uhr am nächsten Morgen fuhr ich nach einem schwarzen Kaffee zum Frühstück die Calle 80 hinunter in Richtung der westlichen Ausfallstraßen. Der Morgen war trüb und kalt und der Verkehr um diese Uhrzeit bereits zäh, ja aggressiv, aber ich brauchte nicht lange bis zur Stadtgrenze, wo die Landschaft wechselt und die Lungen die plötzliche Abwesenheit des Smogs bemerken. Die Ausfallstraße hatte sich mit den Jahren verändert: breite, frisch asphaltierte Fahrbahnen, die blitzend weiße Schilder zur Schau stellten, samt Zebrastreifen und Leitlinie. Ich weiß nicht, wie oft ich als Kind diese Strecke zurückgelegt hatte, wie oft ich die Berge, die die Stadt einkreisen, hinaufgefahren war, um dann den jähen Abstieg zu erleben und binnen drei Stunden von unseren kalten, regnerischen zweitausendsechshundert Metern ins Flusstal des Magdalena abzutauchen, wo die Temperaturen in manch bedauernswerter Gegend an die vierzig Grad erreichen können. Etwa in La Dorada, der Stadt, die genau zwischen Bogotá und Medellín liegt und für alle, die diese Strecke fahren, Station, Treffpunkt, ja sogar gelegentlicher Kurort ist. Im Umkreis von La Dorada, der Beschreibung nach fern von der Stadt, ihrem Trubel aus Asphalt und zähem Verkehr, lebte Maya Fritts. Doch statt an sie zu denken, an den Zufall, der uns zusammengebracht hatte, dachte ich während der vier Stunden Fahrt an Aura oder besser gesagt an den Vorfall mit Aura am Vorabend.
Nachdem mir Maya Fritts alle Angaben diktiert hatte, wobei eine ungeschickte Landkarte auf der Rückseite eines Blatt Papiers entstanden war (auf der anderen Seite die Notizen für das nächste Seminar: Wir würden diskutieren, ob Antigone das Gesetz hatte brechen dürfen, um ihren Bruder zu beerdigen), hatten Aura und ich aufs Friedlichste unsere abendliche Routine abgespult, hatten zusammen Essen gemacht, während Leticia einen Film sah, hatten uns gegenseitig unseren Tag erzählt, gelacht, uns berührt, wenn wir in der engen Küche aneinander vorbeigingen. Peter Pan, den Film mochte Leticia sehr, ebenso das Dschungelbuch, außerdem hatte Aura ihr zwei, drei Folgen der Muppet Show gekauft, weniger, um dem Kind eine Freude zu machen, als ihre eigene Nostalgie zu befriedigen, ihre Liebe zu Graf Zahl und die bequeme Verachtung, die sie für Miss Piggy empfand. Aber nein, an dem Abend waren aus dem Fernseher in unserem Schlafzimmer nicht die Muppets zu hören, sondern einer der beiden Filme. Peter Pan, ja, es lief Peter Pan – »all dies geschah bereits, all dies wird irgendwann wieder geschehen«, sagte die Erzählerstimme –, als Aura, in einer roten Stoffschürze mit dem saisonwidrigen Konterfei des Weihnachtsmanns, ohne mich anzublicken, sagte: »Ich habe etwas gekauft. Erinnere mich nachher dran, es dir zu zeigen.«
»Was denn?«
»Etwas«, sagte Aura.
Sie rührte in einem Topf, die Abzugshaube arbeitete auf Hochtouren und zwang uns, lauter zu sprechen, ihr Licht überzog Auras Gesicht mit einem kupfernen Ton. »Wie schön du bist«, sagte ich. »Nie gewöhne ich mich daran.« Sie lächelte, wollte etwas sagen, aber in dem Moment erschien Leticia in der Tür, still und unauffällig, das braune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, noch nass vom Bad. Ich nahm sie auf den Arm, fragte, ob sie hungrig sei, und dasselbe Kupferlicht fiel nun auf ihr Gesicht. Sie hatte meine Züge geerbt, nicht die von Aura, was mich rührte und zugleich enttäuschte. Beim Essen ließ mich seltsamerweise dieser Gedanke nicht los: dass Leticia Aura hätte ähneln, Auras Schönheit hätte erben können und stattdessen meine groben Züge geerbt hatte, meine schweren Knochen, meine auffälligen Ohren. Vielleicht musterte ich sie deshalb so genau, als ich sie ins Bett brachte. Ich leistete ihr eine Weile im Dunkel des Zimmers Gesellschaft, das nur vom schwachen pastellfarbenen Licht einer Lampe in Kugelform erhellt wurde, die nachts die Farbe wechselte, so dass Leticias Zimmer blau war, wenn sie mich rief, weil sie schlecht geträumt hatte, doch ebenso rosafarben oder hellgrün sein konnte, wenn sie mich rief, weil sie kein Wasser mehr in ihrem Fläschchen hatte. Dort jedenfalls, im farbigen Halbdunkel, in dem Leticia einschlief und das Wispern ihres Atems sich veränderte, spionierte ich ihre Gesichtszüge aus, das Spiel der Genetik in ihrem Gesicht, all diese Proteine, die sich geheimnisvoll verschoben, um meiner Tochter mein Kinn aufzuprägen, ihrem Haar meine Haarfarbe. Damit war ich beschäftigt, als die Tür ein Stück aufging und ein Lichtstreif erschien, dann die Umrisse von Aura und ihre Hand, die mich herbeiwinkte.
»Schläft sie?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Ja.«
Sie führte mich an der Hand ins Wohnzimmer, wir setzten uns aufs Sofa. Der Esstisch war bereits abgeräumt, und die Geschirrspülmaschine brummte in der Küche, dieses Gurren einer sterbenden Taube. (Wir setzten uns nach dem Essen sonst nie ins Wohnzimmer, legten uns lieber ins Bett und sahen eine alte US-Sitcom, etwas Leichtes, Fröhliches, Wohltuendes. Aura hatte sich daran gewöhnt, auf die Abendnachrichten zu verzichten, und konnte inzwischen Scherze über meinen Boykott machen, verstand jedoch sehr wohl, wie ernst ich all das nahm. Ich sah keine Nachrichten mehr, so einfach war das. Es würde noch lange dauern, bis ich sie wieder aushalten, bis ich zulassen konnte, dass die Nachrichten meines Landes in mein Leben eindrangen.) »Also, sieh mal«, sagte Aura. Ihre Hände griffen nach etwas neben dem Sofa und tauchten wieder mit einem kleinen Paket auf, in Zeitungspapier gewickelt. »Für mich?«, fragte ich. »Nein, es ist kein Geschenk«, sagte sie. »Oder doch, aber für uns beide. Ich weiß nicht, Scheiße, ich weiß nicht, wie man so was macht.« Scham war kein Gefühl, das Aura häufig überkam, und doch war es Scham, die in ihren Gesten steckte. Dazu ihre Stimme (ihre nervöse Stimme), die mir erklärte, wo sie den Vibrator erstanden hatte, für wie viel und wie sie ihn bezahlt hatte, damit es keinen Beleg für den Kauf gab, wie sie dabei all die Jahre religiöser Erziehung verflucht hatte, derentwegen sie beim Betreten des Geschäfts in der Avenida 19 das Gefühl befallen hatte, dass ihr zur Strafe Schlimmes zustoßen würde und sie sich mit ihrem Kauf einen festen Platz in der Hölle gesichert hatte. Es war ein violetter Apparat aus rauem Material mit mehr Knöpfen und Möglichkeiten, als ich gedacht hätte, aber er besaß nicht die Form, die ich mit meiner allzu buchstäblichen Fantasie erwartet hätte. Ich betrachte ihn (schlafend in meiner Hand), und Aura betrachtete mich beim Betrachten. Ich konnte nicht vermeiden, dass mir das Wort Trostspender, wie man diesen Gegenstand bisweilen nennt, in den Sinn kam: Aura als Frau, die Trost benötigte, oder Aura als trostlose Frau. »Was ist das?« Eine dümmere Frage gab es wohl kaum.
»Na ja, es ist, was es ist«, sagte Aura. »Es ist für uns.«
»Nein«, sagte ich, »nicht für uns.«
Ich stand auf, ließ ihn auf das Glastischchen fallen, und der Apparat hüpfte kurz auf (schließlich war er aus elastischem Material). Bei anderer Gelegenheit hätte mich das Geräusch belustigt, aber nicht hier, nicht jetzt. Aura fasste mich am Arm.
»Da ist nichts dabei, Antonio, er ist für uns.«
»Er ist nicht für uns.«
»Du bist verletzt worden, es ist nichts dabei, ich liebe dich«, sagte Aura. »Es ist nichts dabei, wir sind zusammen.«
Der violette Vibrator oder Trostspender lag verloren zwischen den Aschenbechern, Untersetzern und Büchern, die alle Aura dort hingelegt hatte: Kolumbien aus der Luft, ein dickes Buch über José Celestino Mutis und ein neueres von einem argentinischen Fotografen über Paris (das hatte Aura nicht ausgesucht, man hatte es ihr geschenkt). Ich spürte Scham, eine kindliche, unsinnige Scham. »Brauchst du etwa Trost?«, fragte ich. Selbst ich war überrascht von meinem Tonfall.
»Was?«
»Das ist ein Trostspender. Brauchst du Trost?«
»Tu das nicht, Antonio. Wir sind zusammen. Du bist verletzt worden, und wir stehen das gemeinsam durch.«
»Verletzt worden bin allein ich, sei nicht idiotisch«, sagte ich. »Geschossen wurde auf mich.« Ich beruhigte mich ein wenig. »Verzeih mir«, sagte ich. Und dann: »Der Arzt hat doch darüber gesprochen.«
»Aber das war vor drei Jahren.«
»Ich soll mir keine Sorgen machen, der Körper weiß schon, wie er zurechtkommt.«
»Vor drei Jahren, Antonio. Es geht doch um etwas anderes. Ich liebe dich, und wir sind zusammen.«
Ich sagte nichts.
»Wir finden einen Weg«, sagte Aura.
Ich sagte nichts.
»Es gibt viele Paare«, sagte Aura. »Wir sind nicht die Einzigen.«
Aber ich sagte nichts. Irgendwo musste eine Glühbirne durchgebrannt sein, denn im Wohnzimmer war es plötzlich eine Spur dunkler, das Sofa, die beiden Stühle und das einzige Bild – die Billardspieler von Saturnino Ramírez, die aus unerklärlichem Grund mit Sonnenbrille spielen – hatten an Konturen verloren. Ich war müde und brauchte ein Schmerzmittel. Aura hatte sich wieder aufs Sofa gesetzt und die Hände vors Gesicht geschlagen, schien jedoch nicht zu weinen. »Ich dachte, du würdest es gut finden«, sagte sie. »Ich dachte, ich würde etwas Gutes tun.« Ich drehte mich um und ließ sie allein, vielleicht sogar mitten im Satz, und schloss mich im Badezimmer ein. Aus dem schmalen blauen Schränkchen holte ich die Tabletten, die weiße Plastikdose mit dem roten Deckel, der ziemlich lädiert war, weil Leticia zu unserem großen Schrecken einmal daran geknabbert hatte (am Ende stellte sich heraus, dass sie die unter der Watte versteckten Tabletten nicht entdeckt hatte, aber ein Mädchen von zwei, drei Jahren ist in permanenter Gefahr, die ganze Welt ist eine Gefahr für sie). Mit Leitungswasser schluckte ich drei Tabletten, eine höhere Dosis als die empfohlene oder empfehlenswerte, aber meine Größe und mein Gewicht erlauben mir bei starken Schmerzen diese Überschreitung. Dann nahm ich eine lange Dusche, was mich immer entspannt. Als ich ins Schlafzimmer ging, schlief Aura oder tat so, und wohlweislich störte ich sie nicht, denn ihre Verstellung kam mir entgegen. Ich zog mich aus, legte mich neben sie, aber mit dem Rücken zu ihr, und erinnere mich an nichts weiter: Sofort überfiel mich der Schlaf.
Es war noch sehr früh, vor allem für einen Karfreitag, als ich am nächsten Morgen aufbrach. Das Licht hatte die Wohnung noch nicht in Besitz genommen. Ich redete mir ein, dass ich wegen der schläfrigen Atmosphäre, die alles umhüllte, niemanden weckte und mich nicht verabschiedete. Der Vibrator lag noch immer auf dem Tisch, ein buntes Plastikding, wie ein Spielzeug, das Leticia dort vergessen hatte.
Oben auf dem Pass Alto del Trigo umhüllte zäher Nebel die Autofahrer, als hätte sich plötzlich eine Wolke dorthin verirrt, die Sichtweite war fast null, und ich musste die Geschwindigkeit so weit drosseln, dass die Bäuerinnen auf dem Fahrrad schneller waren. Der Nebel sammelte sich wie Tau auf der Scheibe, man musste die Wischer anstellen, obwohl es nicht regnete, und die Umrisse – das Auto vor mir, zwei Soldaten am Fahrbahnrand, das Maschinengewehr über der Schulter, ein Lastesel – tauchten nur zögernd aus dieser milchigen Suppe auf, die das Licht nicht durchließ. Ich dachte an Flugzeuge im Tiefflug – »hoch, hoch, hoch« –, dachte über den Nebel nach und erinnerte mich an den berühmten Unfall bei El Tablazo, in den fernen vierziger Jahren, erinnerte mich aber nicht, ob die Sichtweite in diesen trügerischen Höhen schuld daran gewesen war. »Hoch, hoch, hoch«, sagte ich mir. Als ich dann hinunter nach Guaduas fuhr, lichtete sich der Nebel ebenso plötzlich, wie er gekommen war, der Himmel riss auf, und ein Hitzeschwall verwandelte den Tag: Vegetation und Gerüche explodierten, am Straßenrand erschienen Obststände. Ich fing zu schwitzen an. Als ich das Fenster öffnete, um einem Straßenhändler eine der Bierflaschen abzukaufen, die in einer Kiste voll Eis langsam warm wurden, beschlug meine Sonnenbrille von der Hitzewoge. Aber am meisten störte mich der Schweiß. Ich war mir auf einmal jeder einzelnen Pore meines Körpers bewusst.
Erst nach Mittag näherte ich mich meinem Ziel. Nach einem fast einstündigen Stau bei Guarinocito (ein Lastwagen mit gebrochener Achse auf einer zweispurigen Straße ohne Seitenstreifen ist fatal), als in der Ferne die Flussklippen auftauchten und mein Wagen in die Viehzuchtregion einfuhr, sah ich wie angekündigt die kleine Behelfsschule, fuhr nach der Anweisung eine bestimmte Strecke neben einer weißen Rohrleitung am Straßenrand entlang und bog dann rechts in Richtung des Magdalena ab. Ich kam an einem Metallgerüst vorbei, das früher einmal ein Werbeplakat gehalten hatte, jetzt aber von weitem wie ein verlorenes Riesenkorsett aussah (ein paar Rabengeier überwachten von den Querstreben aus das Stück Land); ich kam an einer Tränke vorbei, wo eng nebeneinander zwei durstige Kühe standen, sich gegenseitig störten und schubsten, über ihren Köpfen als Sonnenschutz ein erbärmliches Aluminiumdach. Nach dreihundert Metern auf einer ungepflasterten Straße fuhr ich an einem Grüppchen kleiner Jungen mit nacktem Oberkörper vorüber, die sich etwas zuriefen, lachten und beim Laufen eine Staubwolke aufwirbelten. Einer von ihnen streckte eine kleine, dunkle Hand mit dem Daumen nach oben aus. Ich hielt, fuhr an den Rand, spürte im Stillstand auf dem Gesicht und am Körper wieder den heftigen Hitzeschwall der Mittagszeit. Ebenso die Feuchtigkeit, die Gerüche. Der Junge sprach zuerst.
»Ich fahre dahin, wo Sie hinfahren, Señor.«
»Ich fahre bis Las Acacias«, sagte ich. »Wenn du weißt, wo das ist, nehme ich dich bis dahin mit.«
»Nutzt mir nichts, Señor«, sagte der Junge, ohne auch nur eine Sekunde sein Lächeln aufzugeben. »Das ist da drüben, sehen Sie. Der Hund ist von da. Beißt nicht, keine Angst.«
Es war ein müder schwarzer Schäferhund mit einem weißen Fleck am Schwanz. Er bemerkte meine Gegenwart, stellte die Ohren auf und sah mich gleichgültig an; dann umkreiste er ein paarmal einen Mangobaum, die Schnauze auf dem Boden, den Schwanz an die Rippen gepresst wie einen Staubwedel, legte sich schließlich neben den Stamm und leckte sich die Pfote. Er tat mir leid, sein Fell war nicht für dieses Klima geschaffen. Ich fuhr noch ein Stück weiter unter Bäumen, deren dichtes Laub das Licht nicht hindurchließ, bis ich zu einem Tor mit stämmigen Pfosten gelangte, an dessen hölzernem Querbalken eine Tafel hing, die unlängst lackiert worden war und auf der man in Brandgravur den faden, banalen Namen des Grundstücks lesen konnte. Ich musste aussteigen, um das Tor zu öffnen, dessen ursprünglicher Riegel seit Urzeiten festzusitzen schien; ich fuhr eine recht lange Strecke auf dem Pfad, den Autoreifen durch die Weide gegraben hatten, zwei schmale Bahnen, in der Mitte ein harter Graskamm; schließlich passierte ich einen Pfosten, auf dem ein kleiner Rabengeier saß, und befand mich vor einem einstöckigen weißen Haus.
Ich klopfte, aber niemand erschien. Die Tür war offen, dahinter ein gläserner Esstisch und ein Wohnzimmer mit hellen Sesseln, alles beherrscht von einem Ventilator, dessen Flügel ein Innenleben anzutreiben schien, eine persönliche Mission gegen die hohen Temperaturen. Auf der Terrasse hingen drei Hängematten in kräftigen Farben, unter einer von ihnen hatte jemand eine angebissene Guave liegen lassen, die jetzt die Ameisen verzehrten. Ich wollte gerade laut rufen, ob jemand zu Hause sei, als ich ein Pfeifen hörte, dann noch eins. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich hinter den Bougainvilleen, die das Haus säumten, und den sich anschließenden Guanábanabäumen die Gestalt sah, die mit den Armen ruderte, als riefe sie um Hilfe. Diese allzu weiße Gestalt mit dem allzu großen Kopf und den allzu dicken Beinen hatte etwas Monströses, aber während ich auf sie zuging, konnte ich sie nicht genauer mustern, weil ich meine ganze Konzentration aufbieten musste, um mir auf dem holprigen, steinigen Terrain nicht den Knöchel zu brechen oder das Gesicht an den niedrig hängenden Zweigen zu zerkratzen. Hinter dem Haus glänzte das Rechteck eines Swimmingpools, der nicht sehr gepflegt aussah: eine blaue Rutsche, von der Sonne ausgeblichen, ein runder Tisch mit geschlossenem Sonnenschirm, das Poolnetz gegen einen Baum gelehnt, als wäre es noch nie benutzt worden. Darüber dachte ich gerade nach, als ich das weiße Ungetüm erreichte, aber da hatte sich sein Haupt bereits in eine Maske mit Schleier verwandelt und die Hand in einen dickfingrigen Handschuh. Die Frau nahm die Maske ab, fuhr sich rasch durchs Haar (hellbraun, mit künstlicher Nachlässigkeit geschnitten, mit echter Nachlässigkeit gekämmt), begrüßte mich, ohne zu lächeln, und erklärte mir, sie habe die Inspektion ihrer Bienenstöcke unterbrochen, um mich zu empfangen. Jetzt müsse sie wieder an die Arbeit. »Es wäre dumm, wenn Sie im Haus auf mich warten und sich langweilen«, sagte sie, wobei sie jeden einzelnen Buchstaben betonte, als hinge ihr Leben davon ab. »Haben Sie schon einmal eine Wabe aus der Nähe gesehen?«
Sofort wusste ich, dass sie in meinem Alter war, ein paar Jahre hin oder her, auch wenn ich nicht hätte sagen können, worin dieses geheime Band einer Generation bestand, ja nicht einmal, ob so etwas überhaupt existiert: ein Repertoire an Gesten oder Ausdrücken, ein bestimmter Tonfall, eine Art zu grüßen, sich zu bewegen, zu bedanken oder die Beine beim Sitzen übereinanderzuschlagen, die wir mit den anderen aus unserem Jahrgang teilen. Sie hatte die hellgrünsten Augen, die ich je gesehen hatte, und in ihrem Gesicht traf eine Mädchenhaut auf den Ausdruck einer reifen, leicht verstörten Frau. Ihr Gesicht war wie ein Fest, das alle Gäste verlassen hatten. Sie trug keinen Schmuck, nur an den schmalen Ohrläppchen zwei kaum sichtbare Diamantfunken (zumindest schienen es mir Diamanten zu sein). In ihrem Bienenzüchteranzug, der ihre Formen verhüllte, nahm Maya Fritts mich zu einem Schuppen mit, der früher einmal ein Futterstall gewesen sein mochte: ein Raum, der nach Dung roch und an dessen Wand zwei Masken und ein weißer Overall hingen.
»Ziehen Sie den an«, befahl sie. »Meine Bienen mögen keine grellen Farben.«
Das Blau meines Hemdes hätte ich nicht als grell bezeichnet, doch ich erhob keinen Einspruch. »Ich wusste nicht, dass Bienen Farben sehen können«, sagte ich, aber sie setzte mir bereits einen weißen Hut auf den Kopf und erklärte, wie man den Nylonschleier der Maske befestigte. Als sie die Schnüre unter meinen Achseln hindurchführte, um sie am Rücken festzubinden, umarmte sie mich wie der Beifahrer den Vordermann auf dem Motorrad; mir gefiel diese körperliche Nähe (ich glaubte, am Rücken den Phantomdruck ihrer Brüste zu spüren), aber auch die Sicherheit, mit der ihre Hände zu Werke gingen, wie selbstbewusst oder dreist sie meinen Körper berührten. Irgendwo zog sie noch mehr weiße Schnüre hervor, stützte ein Knie auf den Boden, band mir die Hosenbeine unten zu, blickte mir ohne jede Scham in die Augen und sagte: »Damit man Sie nicht an empfindlichen Stellen sticht.« Dann griff sie nach einer Art Metallflasche, die an einem gelben Blasebalg hing, und bat mich, sie zu tragen, während sie sich eine rote Bürste und eine Stahlbrechstange in die Taschen steckte.
Ich fragte, seit wann sie diesem Hobby nachgehe.
»Von wegen Hobby. Davon lebe ich, mein Lieber. Der beste Honig der Gegend, wenn Sie nichts dagegen haben, das aus meinem Mund zu hören.«
»Glückwunsch. Und seit wann stellen Sie den besten Honig der Gegend her?«
Sie erklärte es auf dem Weg zu den Bienenstöcken und nicht nur das. So erfuhr ich, weshalb sie auf diesem Stück Land lebte, das ihr einziges Erbe war. »Meine Eltern haben das Grundstück um die Zeit meiner Geburt gekauft«, sagte sie. Mehr hatten sie ihr nicht hinterlassen, fragte ich. »Geld war auch noch da«, sagte Maya, »aber das ging für die Anwälte drauf.« »Anwälte sind teuer.« »Nein«, entgegnete sie, »die sind wie die Hunde. Sie wittern die Angst und greifen an. Als all das anfing, war ich noch sehr unerfahren. Aber zugegeben, ein größeres Schlitzohr hätte mir alles wegnehmen können.« Sobald sie volljährig war und über ihr Leben bestimmen konnte, hatte sie darauf hin gearbeitet, Bogotá zu verlassen, und war noch nicht einmal zwanzig gewesen, als sie endgültig fortging, auf ihr Studium verzichtete und sich deshalb mit ihrer Mutter zerstritt. Als schließlich über den Nachlass entschieden wurde, lebte Maya bereits seit einem guten Jahrzehnt hier. »Nie habe ich es bereut, von Bogotá weggezogen zu sein«, sagte sie. »Ich konnte nicht mehr, ich hasse diese Stadt. Nie bin ich zurückgekehrt und weiß nicht, wie es dort jetzt zugeht, vielleicht erzählen Sie es mir. Leben Sie in Bogotá?«
»Ja.«
»Und haben niemals woanders gelebt?«
»Nie«, sagte ich. »Nicht einmal während der schlimmsten Jahre.«
»Ich auch nicht. Alles habe ich mitgemacht.«
»Mit wem haben Sie gelebt?«
»Mit meiner Mutter natürlich«, sagte Maya. »Wenn ich es recht überlege, ein seltsames Leben, wir beide allein. Dann ging jeder von uns seiner Wege, Sie wissen, wie das läuft.«
1992 hatte sie in Las Acacias die ersten Bienenkörbe aufgestellt, ein merkwürdiger Entschluss, gelinde gesagt, da sie damals, wie sie gestand, nicht mehr von der Bienenzucht wusste als ich jetzt. Aber diesen Bienenstöcken waren nur wenige Monate beschieden. Maya ertrug es nicht, jedes Mal die Waben zerstören und die Bienen töten zu müssen, wenn sie den Honig und das Wachs einsammelte, und fürchtete insgeheim, dass die überlebenden Bienen die Botschaft in der Gegend verbreiteten und eines Tages während der Siesta in der Hängematte am Pool als Wolke rächender Stachel über sie herfielen. Sie tauschte die vier stabilen Bauernstöcke gegen mobile Waben aus und musste niemals mehr eine Biene töten.
»Aber das ist sieben Jahre her«, sagte ich. »Seitdem waren Sie nicht mehr in Bogotá?«
»Doch, schon. Wegen der Anwälte. Um die Hauswirtin zu sehen, Consuelo Sandoval. Aber ich habe keine einzige Nacht mehr in Bogotá verbracht, habe mich nicht einmal mehr von der Nacht überraschen lassen. Ich ertrage diese Stadt höchstens ein paar Stunden.«
»Deshalb ist es Ihnen lieber, dass die anderen zu Ihnen kommen.«
»Niemand besucht mich. Aber so ist es. Deshalb war es mir lieber, dass Sie herkommen.«
»Ich verstehe.«
Maya blickte auf.
»Ja, ich glaube, Sie verstehen mich«, sagte sie. »Muss wohl mit unserer Generation zu tun haben. Die wir in den Achtzigern aufgewachsen sind, nicht wahr? Wir haben eine ganz eigene Beziehung zu Bogotá, keine normale, scheint mir.«
Ihre letzten Silben gingen in einem schrillen Summen unter. Wir befanden uns nur noch ein paar Schritte vom Bienenstand entfernt. Das Gelände war leicht abschüssig, und durch den Schleier sah ich kaum, wohin ich trat, konnte jedoch auch so dem besten Schauspiel der Welt zusehen: jemandem, der sein Handwerk versteht. Maya Fritts nahm mich beim Arm, damit wir uns den Stöcken seitlich, nicht frontal näherten, und mit Zeichen bat sie um die Flasche, die ich die ganze Zeit getragen hatte. Sie hob sie auf Kopfhöhe, drückte einmal den Blasebalg, um den Mechanismus zu überprüfen, und ein Geist aus weißem Rauch stieg aus der Düse und zerstob in der Luft. Durch eine Öffnung führte Maya die Düse in den ersten Bienenstock, drückte wieder auf den gelben Blasebalg, einmal, zweimal, dreimal, und füllte den Stock mit Rauch, nahm dann den Deckel ab, um das Innere mit einem Mal auszuräuchern. Ich wich einen Schritt zurück und hielt den Arm vors Gesicht, rein instinktiv, aber wo ich ein Auffliegen hysterischer Bienen erwartet hatte, die stachen, was ihnen in die Quere kam, war genau das Gegenteil der Fall. Die Bienen, eine über der anderen, waren friedlich und still. Da hörte das Summen auf, man konnte fast sehen, wie die Flügel erstarrten, die schwarz-gelben Streifen nicht länger vibrierten, als wäre ihnen die Batterie ausgegangen.
»Was haben Sie gesprüht?«, fragte ich. »Was ist in der Flasche?«
»Trockenes Holz und Kuhmist«, sagte Maya.
»Und der Rauch schläfert sie ein? Was tut er mit ihnen?«
Sie antwortete nicht. Beidhändig hob sie die erste Wabe heraus, schüttelte sie heftig, und die betäubten, schlafenden oder benommenen Bienen fielen in den Bienenstock. »Geben Sie mir die Bürste«, sagte Maya Fritts und strich damit sanft die paar Dickköpfe ab, die sich immer noch an den Honig klammerten. Einige Bienen kletterten auf ihre Finger, irrten zwischen den weichen Borsten der Bürste umher, mit einem Anflug von Neugier oder leicht angesäuselt, und Maya streifte sie mit einer zarten Geste ab, ein feiner Pinselstrich. »Nein, meine Hübsche«, sagte sie zu einer, »nach Hause mit dir.« Oder: »Runter hier, heute wird nicht gespielt.« Die gleiche Prozedur – das Herausziehen der Wabe, das Abstreifen der Bienen, die liebevollen Gespräche – wiederholte sich bei den anderen Bienenstöcken, und Maya Fritts sah sich alles mit offenen Augen an, hielt im Geist bestimmt fest, was sie sah und was meinem Laienauge verborgen blieb. Sie drehte die Holzrahmen hin und her, begutachtete sie auf beiden Seiten, besprühte sie noch ein paarmal mit Rauch, als fürchtete sie, eine ungehorsame Biene könnte zu früh aufwachen, und ich nutzte die Gelegenheit, zog mir einen Handschuh aus und hielt die Hand in den Nebel, um mehr über diesen kalten, riechenden Rauch zu erfahren. Der Geruch, der mehr von Holz als von Kuhmist hatte, sollte noch bis tief in die Nacht an meiner Haut haften. Von da an würde er mich immer an mein langes Gespräch mit Maya Fritts erinnern.
Nachdem sie alle Stöcke überprüft und Räucherflasche, Bürste und Stange an ihren Platz im Schuppen zurückgelegt hatte, ging Maya mit mir ins Haus und überraschte mich mit einem Spanferkel, das ihre Hausangestellten den ganzen Vormittag über für uns zubereitet hatten. Beim Eintreten spürte ich als Erstes, wie erleichtert mein Körper plötzlich war, der sich gefügig der Mittagshitze ergeben hatte und erst bei diesem Schwall von Schatten und kühler Luft merkte, wie sehr er vorher hatte leiden müssen, in Overall, Handschuhen und Maske. Mein Rücken war schweißnass, das Hemd klebte an der Brust, und alles an mir schrie nach Erfrischung. Zwei Ventilatoren, einer an der Wohnzimmerdecke, ein anderer über dem Esstisch, wirbelten wie wild. Bevor wir uns zum Mittagessen setzten, holte Maya Fritts eine Kiste und trug sie zum Tisch. Es war eine Korbtruhe, Kunsthandwerk, so groß wie ein kleiner Koffer, mit festem Deckel und verstärktem Boden, auf jeder Seite ein Griff oder Henkel, um sie besser hochheben und tragen zu können. Maya setzte sie ans Kopfende wie einen weiteren Gast und nahm ihr gegenüber Platz. Während sie sich Salat in eine Holzschale füllte, fragte sie, was ich von Ricardo Laverde wisse, ob ich ihn gut gekannt hätte.
»Nicht wirklich«, sagte ich. »Es waren nur wenige Monate.«
»Stört es Sie, sich daran zu erinnern? Wegen des Anschlags, meine ich.«
»Nicht mehr«, sagte ich. »Aber wie gesagt, ich weiß nicht viel. Ich weiß, dass er Ihre Mutter sehr geliebt hat. Und das mit dem Miami-Flug. Von Ihnen wusste ich dagegen nichts.«
»Gar nichts? Er hat nie von mir gesprochen?«
»Nie. Nur von Ihrer Mutter. Elena, nicht wahr?«
»Elaine. Sie hieß Elaine, die Kolumbianer änderten ihren Namen in Elena, und sie hat es zugelassen. Oder sich damit abgefunden.«
»Aber Elena ist nicht die Übersetzung von Elaine.«
»Wenn Sie wüssten, wie oft sie das erklärt hat.«
»Elaine Fritts«, sagte ich. »Für mich müsste sie eine Fremde sein, sie ist es aber nicht. Merkwürdig. Sie wissen bestimmt über die Blackbox Bescheid.«
»Die Kassette?«
»Ja. Ich konnte nicht ahnen, dass ich heute hier sein würde, Maya. Sonst hätte ich versucht, die Kassette an mich zu nehmen. Das wäre nicht schwer gewesen.«
»Ach, da machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Maya. »Ich habe sie hier.«
»Was?«
»Natürlich, was hatten Sie erwartet? Meine Mutter ist in dem Flugzeug gestorben, Antonio. Ich habe etwas länger gebraucht als Sie. Die Kassette zu finden, meine ich, Ricardos Haus und das Tonband. Sie hatten einen Vorsprung, Sie waren ja am Ende bei ihm gewesen, aber ich habe gesucht und schließlich gefunden, an mir lag es nicht.«
»Und Consu hat Ihnen die Kassette gegeben?«
»Das hat sie, ja. Ich habe sie hier. Als ich sie zum ersten Mal hörte, war ich am Boden zerstört. Es mussten ganze Tage vergehen, bis ich sie ein zweites Mal hören konnte, und dabei war ich noch sehr mutig, ein anderer hätte sie bestimmt verwahrt und nie mehr angehört. Ich aber schon, ich habe sie ein zweites Mal gehört, und seitdem muss ich es wieder und wieder tun. Ich weiß nicht, wie oft schon, zwanzig- oder dreißigmal. Anfangs dachte ich, ich spiele sie immer wieder ab, weil ich etwas darin finden will. Dann wurde mir klar, dass ich sie gerade deshalb einlege, weil ich nichts finden werde. Mein Vater hat sie nur ein einziges Mal gehört, nicht wahr?«
»Soweit ich weiß.«
»Unvorstellbar, was er empfunden haben mag.« Maya machte eine Pause. »Er hat meine Mutter unglaublich geliebt, unglaublich. Wie bei allen guten Ehepaaren, versteht sich, aber bei ihm war es noch anders. Weil er fern von ihr war.«
»Ich verstehe nicht.«
»Weil er fern von ihr war und sie für ihn dieselbe blieb. In seinem Gedächtnis erstarrt.«
Sie nahm die Brille ab, fuhr sich mit zwei Fingern (eine Zange) an die Nasenwurzel: die Geste von jemandem, der nicht weinen will. Ich fragte mich, wo in unserem genetischen Code diese Gesten eingebaut sind, die überall auf der Welt wiederholt werden, bei allen Völkern und Kulturen, oder beinahe. Aber vielleicht stimmte das gar nicht, vielleicht hatten wir das nur aus dem allgegenwärtigen Kino. Ja, auch das war möglich. »Verzeihung«, sagte Maya Fritts. »Das passiert mir immer noch.« Die bleiche Haut ihrer Nase rötete sich, eine plötzliche Erkältung.
»Maya, darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Was ist da drinnen?«
Ich musste nicht erklären, was ich meinte, schaute dabei nicht auf die Korbtruhe, deutete nicht in ihre Richtung (nicht einmal mit dem Mund, wie manche es tun: indem sie die Lippen kräuseln und den Kopf zurückwerfen). Maya Fritts dagegen sah ans andere Tischende und sprach, den Blick starr auf den Platz der Truhe gerichtet.
»Eben deswegen habe ich Sie hergebeten. Mal sehen, ob ich es erklären kann.« Sie machte eine Pause, umfasste ihr Bierglas, führte es aber nicht zum Mund. »Ich möchte, dass Sie mir von meinem Vater erzählen.« Noch eine Pause. »Verzeihung, das sagte ich bereits.« Wieder eine Pause. »Wissen Sie, ich habe ihn nicht … Ich war noch sehr klein, als er … Nun gut, ich möchte, dass Sie mir von seiner letzten Zeit erzählen, die Sie miterlebt haben, und ich möchte, dass Sie es so detailliert wie möglich tun.«
Dann stand sie auf, holte die Korbtruhe, die ein stolzes Gewicht haben musste, denn Maya stützte sie an ihrem Bauch ab, eine Hand an jedem Griff, wie den Bottich mit Schmutzwäsche in einer Wäscherei früherer Jahrhunderte. »Sehen Sie, Antonio, die Sache ist die«, sagte sie. »Diese Truhe steckt voller Dinge, die mit meinem Vater zu tun haben. Fotos, Briefe, die er erhielt, Briefe, die er schrieb und die ich aufgespürt habe. Das ganze Material habe ich mir zusammengesucht, es lag nicht auf der Straße herum, es hat eine Heidenarbeit gemacht. Vieles hatte zum Beispiel Señora Sandoval. Dieses Foto etwa, sehen Sie.« Natürlich erkannte ich es sofort, hätte es auch erkannt, wenn man Ricardo Laverde herausgeschnitten oder wegretouchiert hätte. Da waren die Tauben der Plaza de Bolívar, der Maiskarren, der Justizpalast, der graue Hintergrund meiner grauen Stadt. »Es war für Ihre Mutter«, sagte ich. »Für Elaine Fritts.«
»Ich weiß«, sagte Maya. »Sie kennen es?«
»Er hat es mir gezeigt, gleich nachdem er es hatte machen lassen.«
»Hat er Ihnen noch mehr gezeigt? Ihnen etwas gegeben, einen Brief, ein Dokument?«
Ich dachte an den Abend, an dem ich mich geweigert hatte, in Laverdes Pension zu gehen. »Nein, nichts«, sagte ich. »Was haben Sie noch?«
»So einiges«, sagte Maya, »so einiges ohne Bedeutung oder Belang. Aber es beruhigt mich, all das zu besitzen. Als Beweis. Sehen Sie«, sagte sie und zeigte mir ein abgestempeltes Papier. Es war eine Rechnung. Oben links befand sich das Logo eines Hotels, ein Kreis von unbestimmter oder nicht mehr zu bestimmender Farbe (die Zeit hatte das Papier gezeichnet), in dem sich die Worte Hotel, Escorial und Manizales verteilten. Rechts des Logos stand der bemerkenswerte Text:
Rechnungen sind am Freitag eines jeden Monats fällig, die Bezahlung hat unverzüglich zu erfolgen. Nur Vollpension. Sobald ein Zimmer bezogen wird, berechnet das Hotel wenigstens einen Tag.
Dann kamen das Datum, 29. September 1970, die Ankunftszeit des Gastes, 3:30 p.m., und die Zimmernummer, 225. Das nächste Kästchen füllten handgeschrieben das Abreisedatum (30. September, also war es nur eine einzige Nacht gewesen) und das Wort Storniert. Der Gast hieß Elena de Laverde – ich nahm an, dass sie sich als Verheiratete mit dem Namen ihres Mannes eintrug, um keine Zudringlichkeiten herauszufordern –, und während ihres kurzen Aufenthalts in dem Hotel hatte sie einen Anruf getätigt, ein Mittagessen und ein Frühstück eingenommen, aber kein Überseetelegramm aufgegeben, weder den Wäscheservice noch Zeitungen oder ein Auto beansprucht. Ein belangloses Stück Papier und zugleich ein Fenster in eine andere Welt, dachte ich. Die Truhe war voll von solchen Fenstern.
»Der Beweis für was?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Sie sagten eben, diese Papiere seien ein Beweis.«
»Ja.«
»Genau. Der Beweis für was?«
Aber Maya antwortete nicht. Stattdessen stöberte sie in den Unterlagen und sprach, ohne mich anzublicken. »All das habe ich vor kurzem erhalten. Ich habe Namen und Adressen herausbekommen, in die USA geschrieben, gesagt, wer ich bin, habe per Brief und am Telefon verhandelt. Und eines Tages kam ein Päckchen mit den Briefen an, die Mama geschrieben hat, als sie zum ersten Mal nach Kolumbien kam, um 69 herum. So ist es bei allem gewesen, die Arbeit einer Historikerin. Viele finden das abwegig. Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll. Ich bin noch nicht mal dreißig und lebe hier, fern von allem, wie eine alte Jungfer, und das hier ist wichtig für mich geworden. Das Leben meines Vaters zu rekonstruieren, herauszukriegen, wer er war. Das versuche ich. Natürlich hätte ich mich nicht darauf eingelassen, wenn ich nicht so plötzlich allein geblieben wäre, ohne eine Menschenseele. Das mit meiner Mutter war der Anfang. Es war so absurd … Ich habe es hier erfahren, hier habe ich gehört, dass das Flugzeug abgestürzt war. Ich wusste, dass sie in diesem Flugzeug saß. Und drei Wochen später das mit meinem Vater.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Aus der Zeitung. El Espacio hat es gebracht, mit Fotos und allem drum und dran.«
»Fotos?«
»Die Blutlache. Zwei, drei Zeugen. Das Haus. Señora Sandoval, die mir von Ihnen erzählt hat. Sein Zimmer. Das hat wirklich wehgetan. Ein Boulevardblatt, das ich immer verachtet habe, von vorn bis hinten, seine alten Playmates, die perversen Fotos, die miserablen Texte, sogar das Kreuzworträtsel, weil es zu primitiv ist. Und ausgerechnet dort erfahre ich die wichtigste Nachricht meines Lebens. Kann das Schicksal nicht ironisch sein? Ich war in La Dorada einkaufen, und da sah ich die Zeitung, sie steckte neben all den Wasserbällen, den Taucherbrillen und Flossen für die Touristen in unserer heißen Gegend. Erst später, ganz plötzlich, an einem beliebigen Tag wurde es mir bewusst. Nehmen wir an, es war ein Samstag (ich frühstückte gerade auf der Terrasse, das tue ich nur am Wochenende), ja, sagen wir, es war ein Samstag, da wurde mir klar, dass ich allein geblieben war. Monate waren bereits vergangen, ich hatte viel gelitten und wusste nicht, warum ich so sehr litt, da wir doch schon seit langem nicht mehr zusammen gewesen waren und jeder für sich gelebt hatte. Wir besaßen kein gemeinsames Leben, nichts dergleichen. Und nun war mir das passiert: Ich war allein zurückgeblieben, es gab niemanden mehr zwischen dem Tod und mir. Das heißt es, Waise zu werden: Man hat niemanden mehr vor sich, man ist der Nächste in der Reihe, man ist dran. Nichts hatte sich in meinem Leben verändert, Antonio, ich lebte schon viele Jahre ohne sie, aber jetzt waren die beiden nirgendwo. Sie waren nicht nur fern, sie waren nirgendwo. Einfach abwesend. Und sie schienen mich zu sehen, ja, genau, es ist schwer zu erklären, aber sie sahen mich, Elaine und Ricardo sahen mich. Der Blick der Abwesenden ist schwer zu ertragen. Nun gut, Sie können sich denken, wie es weiterging.«
»Wirklich ein merkwürdiger Zufall«, sagte ich.
»Was?«
»Dass die Frau eines Piloten bei einem Flugzeugabsturz umkommt.«
»Ach so. Nun ja, ganz so merkwürdig auch wieder nicht, wenn man gewisse Dinge weiß.«
»Zum Beispiel?«
»Haben Sie Zeit?«, fragte Maya. »Wollen Sie etwas lesen, was nichts mit meinem Vater zu tun hat und zugleich alles erklärt?«
Sie zog ein Exemplar der Zeitschrift Cromos aus der Truhe, in einer Aufmachung, die ich nicht kannte, der Name in weißen Buchstaben auf einem roten Feld, darunter das Farbfoto einer Frau im Badeanzug, die Hände sanft um ein Zepter gelegt, auf dem toupierten Haar thronte ihre Krone: eine Schönheitskönigin. Die Ausgabe war vom November 1968, und die Frau, wie ich gleich erfuhr, Margarita María Reyes Zawadzky, Miss Kolumbien des Jahres. Auf der Titelseite standen mehrere Schlagzeilen, gelbe Buchstaben vor dem blauen Hintergrund der Karibik, aber ich kam nicht dazu, sie zu lesen, weil Maya Fritts’ Finger die Zeitschrift nun auf einer mit einem gelben Zettel markierten Seite aufschlugen. »Man muss vorsichtig damit umgehen«, sagte Maya. »Kein Papier hält dieser Feuchtigkeit lange stand, ich weiß nicht, wie es all die Jahre überlebt hat. Also, hier ist es.« DIE TRAGÖDIE VON SANTA ANA, verkündete die Überschrift in großzügigen Lettern, dann ein paar Zeilen Vorspann: »Dreißig Jahre nach dem Flugzeugunglück, ein einschneidendes Erlebnis in der Geschichte Kolumbiens, bringt Cromos nun exklusiv das Zeugnis eines Überlebenden ans Licht.« Der Artikel stand neben einer Werbung für den Club del Clan, was mich amüsierte, denn ich hatte meine Eltern oft über diese Fernsehsendung reden hören. Es war die Zeichnung eines jungen Mädchens, das Gitarre spielte, darunter die Zeile: Fernsehen mit beschränkter Haftung. »Eine Botschaft an die kolumbianische Jugend«, prahlte die Werbung, »ist nicht vollständig ohne den Club del Clan«.
Ich wollte schon fragen, worin die Verbindung bestand, als mir der Name Laverde ins Auge fiel, über die Seiten verstreut wie dreckige Hundestapfen.
»Wer ist dieser Julio?«
»Mein Großvater«, sagte Maya. »Der damals noch nicht mein Großvater war. Weder mein Großvater noch sonst etwas, er war fünfzehn.«
»Neunzehnhundertachtunddreißig«, sagte ich.
»Ja.«
»Ricardo kommt in dem Artikel nicht vor.«
»Nein.«
»Er war noch nicht geboren.«
»Da fehlen noch etliche Jahre«, sagte Maya.
»Also?«
»Also frage ich: Haben Sie Zeit? Ich verstehe, wenn Sie es eilig haben. Doch wenn Sie wirklich wissen wollen, wer Ricardo Laverde war, dann fängt es hier an.«
»Wer hat das geschrieben?«
»Das spielt keine Rolle. Ich weiß nicht. Spielt keine Rolle.«
»Wie soll das keine Rolle spielen?«
»Die Redaktion«, sagte Maya ungeduldig. »Die Redaktion hat es geschrieben, irgendein Journalist, ein Reporter, ich weiß nicht. Ein Typ ohne Namen, der eines Tages bei meinen Großeltern vorbeikam und Fragen stellte. Dann hat er den Artikel verkauft und weitere geschrieben. Was spielt das für eine Rolle, Antonio? Was ist so wichtig daran, wer ihn geschrieben hat?«
»Ich verstehe bloß nicht«, sagte ich. »Was ist das hier?«
Maya seufzte, es war die Karikatur eines Seufzers, wie bei einem schlechten Schauspieler, aber bei ihr wirkte es echt, und ebenso echt war ihre Ungeduld. »Das ist die Schilderung eines Tages«, sagte sie. »Mein Urgroßvater nimmt meinen Großvater zu einer Flugschau mit. Hauptmann Laverde nimmt seinen Sohn Julio mit, um sich Flugzeuge anzusehen. Julio ist fünfzehn. Er wird erwachsen werden, heiraten, einen Sohn bekommen und ihn Ricardo nennen. Und Ricardo wird heranwachsen und mich bekommen. Ich weiß nicht, was daran so schwer zu verstehen ist. Das war das erste Geschenk, das mein Vater meiner Mutter machte, lange bevor sie heirateten. Jetzt lese ich es und verstehe alles.«
»Was denn?«
»Warum er ihr das geschenkt hat. Für sie sah es nach Angeberei aus, fast wie die Geste eines Emporkömmlings: Sehen Sie, was man über meine Familie schreibt, meine Familie steht in der Zeitung usw. Aber allmählich kam sie dahinter. Sie war eine hoffnungslose Yankee, die mit einem Kolumbianer ausging, ohne viel von Kolumbien oder diesem Kolumbianer zu verstehen. Wenn man neu in einer Stadt ist, kauft man sich als Erstes einen Führer, nicht wahr? Gut, genau das ist dieser Artikel von 1968 über einen dreißig Jahre zurückliegenden Tag. Mein Vater hatte meiner Mutter einen Führer geschenkt. Ja, einen Führer, wieso soll man es nicht so nennen? Einen Führer über Ricardo Laverde. Einen Führer durch seine Gefühle, die Routen übersichtlich markiert.«
Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Gut, es liegt bei Ihnen. Soll ich Ihnen ein Bier bringen lassen?«
Ich sagte, ja, ein Bier, vielen Dank. Und begann zu lesen. »Bogotá war in Festtagsstimmung«, so begann der Text. Und dann:
An jenem Sonntag 1938 wurde die Stadtgründung vor vierhundert Jahren gefeiert, und die Straßen waren voller Fahnen. Das Jubiläum fiel nicht genau auf dieses Datum, der Gedenktag stand noch bevor, doch überall in der Stadt wehten sie schon, damals ging man in Bogotá derlei gern frühzeitig an. Viele Jahre später, wenn Julio Laverde an diesen Unglückstag dachte, sollte er vor allem von den Fahnen reden. Wie er sich erinnerte, war sein Vater zu Fuß mit ihm bis zum Marsfeld im Santa-Ana-Viertel gegangen, das damals noch kein richtiges Viertel gewesen war, eher ein freies Feld, schon außerhalb der Stadt. Doch Hauptmann Laverde ließ einem nicht die geringste Chance, den Bus zu nehmen oder mit jemandem mitzufahren; das Laufen war eine würdige, ehrenwerte Betätigung und die Fortbewegung auf Rädern etwas für Neureiche und Gesindel. Hauptmann Laverde hatte unterwegs, wie Julio erzählte, pausenlos über die Fahnen geredet, hatte betont, ein echter Bogotaer müsse die Bedeutung seiner Fahne kennen, und hatte den Sohn unaufhörlich in Stadtgeschichte geprüft.
»Bringt man euch das nicht in der Schule bei?«, fragte er. »Eine Schande. Was soll aus dieser Stadt bloß werden, wenn man sie solchen Bürgern überlässt?«
Dann musste Julio aufsagen, dass das Rot für Freiheit, Nächstenliebe und Wohl stand, das Gelb für Gerechtigkeit, Tugend und Milde. Und er wiederholte brav: »Gerechtigkeit, Milde und Tugend. Freiheit, Wohl, Nächstenliebe.«
Hauptmann Laverde war ein dekorierter Held aus dem Krieg mit Peru. Er war an der Seite von Gómez Niño und Herbert Boy geflogen, um nur zwei legendäre Piloten zu nennen, und hatte sich beim Tarapacá-Feldzug und bei der Einnahme von Güepí hervorgetan. Gómez, Boy und Laverde, diese drei Namen fielen immer, wenn es um die Rolle der kolumbianischen Luftwaffe beim Sieg ging. Die drei Musketiere der Luft: einer für alle, alle für einen. Auch wenn es nicht immer dieselben Musketiere waren. Manchmal waren es Boy, Laverde und Andrés Díaz; oder Laverde, Gil und von Oertzen. Je nachdem, wer die Geschichte erzählte. Aber Hauptmann Laverde war immer dabei.
An diesem Sonntagmorgen also sollte auf dem Marsfeld eine militärische Flugschau stattfinden, zur Feier der Gründung Bogotás. Es war eine prachtvolle Inszenierung, wie sie ein römischer Kaiser befohlen hätte. Hauptmann Laverde war dort mit drei Veteranen verabredet, Freunden, die er seit dem Waffenstillstand nicht mehr gesehen hatte, weil keiner von ihnen in Bogotá lebte, aber er hatte noch andere Gründe, die Flugschau zu besuchen. So war er eigens von Präsident López Pumarejo auf die Präsidententribüne eingeladen worden, oder beinahe: General Alfredo de León, enger Vertrauter des Präsidenten, hatte ihm mitgeteilt, der Präsident würde sich freuen, mit seiner werten Anwesenheit rechnen zu dürfen.
»Stellen Sie sich vor«, hatte er gesagt, »eine Persönlichkeit wie Sie, die unsere Flagge gegen den Aggressor verteidigt hat, ein Mann wie Sie, dem wir die Freiheit unserer Heimat, die Unversehrtheit ihrer Grenzen verdanken.«
Die Ehre der Präsidenteneinladung war einer der Gründe. Doch es gab einen weiteren, weniger ehrenhaften, der jedoch dringlicher war. Unter den Piloten, die fliegen würden, befand sich Hauptmann Abadía.
César Abadía war noch nicht dreißig, aber Hauptmann Laverde sagte bereits voraus, dass dieser junge Mann aus der Provinz, schlank und lächelnd, der trotz seiner Jugend schon an die zweitausendfünfhundert Flugstunden hinter sich hatte, der beste Pilot von Leichtflugzeugen in der kolumbianischen Geschichte werden würde. Laverde hatte ihn im Perukrieg fliegen sehen, als der Hauptmann noch nicht Hauptmann, sondern Leutnant gewesen war, ein Junge aus Tunja, der den erfahrensten deutschen Piloten Lektionen in Mut und Geschick erteilte. Laverde bewunderte ihn voll Sympathie vom Standpunkt des Erfahrenen aus: mit der Sympathie dessen, der weiß, dass er ebenfalls bewundert wird, und mit der Erfahrung dessen, der weiß, dass dem anderen ebendiese noch fehlt. Laverde war es jedoch kein Bedürfnis, sich Hauptmann Abadías glorreiche Heldentaten in der Luft allein anzusehen, es war ihm ein Bedürfnis und ein Herzenswunsch, dass sein Sohn sie sah. Deshalb nahm er Julio zum Marsfeld mit. Deshalb hatte er ihn Bogotá zu Fuß unter all den Fahnen durchqueren lassen. Deshalb hatte er ihm erklärt, dass sie drei Typen von Flugzeugen sehen würden, die Junkers, die Falcons der Aufklärungsgruppe und die Hawks der Jagdgruppe. Hauptmann Abadía würde eine Hawk 812 fliegen, eine der wendigsten, schnellsten Maschinen, die der Mensch je für das harte, grausame Kriegshandwerk erfunden hatte.
»Hawk heißt Falke auf Englisch«, sagte der Hauptmann dem jungen Julio und fuhr ihm über das Stoppelhaar. »Du weißt doch, was ein Falke ist, oder?«
Julio bejahte, das wisse er wohl, vielen Dank für die Erklärung. Aber er sprach ohne Begeisterung. Er starrte auf das Pflaster oder vielleicht auf die Schuhe der Volksmassen, der fünfzigtausend Leute, auf die sie inzwischen getroffen waren und denen sie sich anschlossen. Da rieben sich Mäntel aneinander, hölzerne Gehstöcke und geschlossene Schirme kreuzten und verhakten sich, Ponchos hinterließen eine Kielspur von Wollgeruch, Uniformen stellten dekorierte Schultern und mit Orden bedeckte Brüste zur Schau, diensthabende Polizisten gingen gemessenen Schritts zwischen den Leuten einher oder beobachteten sie von hohen, dürren Pferden herab, die an den unmöglichsten Stellen eine gefährliche Spur stinkender Äpfel hinterließen … Julio hatte noch nie so viele Leute auf einmal gesehen. Noch nie hatten sich in Bogotá so viele Menschen am selben Fleck und mit demselben Ziel versammelt.
Vielleicht war es der Lärm der Menge, aufgeregte Grüße, lautstarke Gespräche, vielleicht auch das Durcheinander der Gerüche aus ihren Mündern, ihrer Kleidung, jedenfalls hatte Julio plötzlich das Gefühl, in einem Karussell zu sitzen, das sich zu schnell drehte, die Farben hatten einen bitteren Beigeschmack, und seine Zunge war belegt.
»Mir ist übel«, sagte er zu Hauptmann Laverde.
Aber Laverde achtete nicht auf ihn. Das heißt, er achtete schon auf ihn, aber nicht auf seine Übelkeit, sondern um ihn einem Mann vorzustellen, der gerade auf sie zutrat. Er war groß, hatte einen Schnurrbart wie Rudolph Valentino und trug Uniform.
»General de León, ich stelle Ihnen meinen Sohn vor«, sagte der Hauptmann. Und dann zu Julio: »Der General ist Generalpräfekt für Sicherheit.«
»General Generalpräfekt«, sagte der General. »Hoffentlich bekommt der Posten bald einen anderen Titel. Hören Sie, Hauptmann Laverde, der Präsident schickt mich, ich soll Sie an Ihren Platz führen, in dem Getümmel geht man leicht verloren.«
Das war Laverde: ein Hauptmann, den Generäle im Namen des Präsidenten holen kamen. So gingen Hauptmann und Sohn Richtung Präsidententribüne, ein paar Schritte hinter General de León, versuchten, ihm zu folgen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren und zugleich das imposante Ambiente der Feierlichkeiten zu bestaunen. In der Nacht hatte es geregnet, hier und da hatten sich Pfützen gebildet oder Schlammlachen, in denen die Absätze der Frauen stecken blieben. Das passierte einem jungen Mädchen mit rosa Schal. Sie verlor einen cremefarbenen Schuh, und Julio bückte sich nach ihm, während sie lächelnd auf einem Bein stand wie ein Flamingo. Julio erkannte sie. Er war sich sicher, sie schon in der Zeitung, auf den Gesellschaftsseiten gesehen zu haben. Sie war Ausländerin, wie ihm schien, Tochter von Kaufleuten oder Industriellen. Ja, genau, sie war Tochter eines europäischen Unternehmers. Aber was für einer? Importierte er Nähmaschinen, braute er Bier? Er suchte im Gedächtnis nach dem Namen, doch ihm wurde keine Zeit gelassen, Hauptmann Laverde packte ihn am Arm und zerrte ihn die ächzenden Holzstufen hinauf zur Präsidententribüne. Nur über die Schulter konnte Julio noch sehen, wie der rosafarbene Schal und die cremefarbenen Schuhe die anderen Stufen hinaufgingen, die zur Diplomatentribüne. Es waren zwei identische Gerüste, die ein Geländestreifen trennte, so breit wie eine Allee, und sie sahen aus wie zweistöckige Hütten auf dicken Pfählen, nebeneinander aufgereiht, mit Blick auf das freie Feld, über dem die Flugzeuge fliegen würden. Identisch bis auf ein Detail: In der Mitte der Präsidententribüne erhob sich ein achtzehn Meter hoher Mast, an dem die kolumbianische Flagge wehte. Jahre später, als er von den Geschehnissen jenes Tages erzählte, sollte Julio behaupten, dass ihm diese Flagge an ebendiesem Ort von Anfang an ein ungutes Gefühl gegeben hatte. Doch so etwas sagt sich leicht im Nachhinein.
Es herrschte Volksfeststimmung. Die Böen brachten den Geruch nach Gebratenem herüber, die Leute hielten Getränke in der Hand, die sie leerten, bevor sie hinaufstiegen. Jede Stufenbohle der beiden Treppen war besetzt von Leuten, die keinen Platz auf den Tribünen gefunden hatten, ebenso das Gelände zwischen den beiden Treppen. Julio verspürte Übelkeit und sagte es Hauptmann Laverde, doch der hörte nicht hin. Sich unter den Ehrengästen zu bewegen war mühsam, man musste Bekannte begrüßen und Emporkömmlinge links liegenlassen, musste sich hüten, irgendwen zu kränken oder jemanden mit einem Gruß zu adeln, der es nicht verdiente. Ohne sich auch nur einen Augenblick voneinander zu lösen, bahnten sich Hauptmann und Sohn ihren Weg durch die Menge und erreichten die Brüstung. Von dort sah Julio zwei Männer mit schütterem Haar, die sich wenige Meter vom Fahnenmast entfernt würdevoll unterhielten, und die erkannte er sofort. Es waren Präsident López, in hellem Anzug, mit dunkler Krawatte und runder Brille, sowie der designierte Präsident Santos, im dunklen Anzug mit heller Weste und ebenfalls runder Brille. Der Mann, der ausschied, und der Mann, der antrat: das Schicksal des Landes gebündelt auf zwei Quadratmetern eines Holzgerüsts. Eine kleine Ansammlung vornehmer Leute – die Lozanos, die Turbays, die Pastranas – trennte die Präsidentenloge von dem hinteren Teil der Tribüne, also von der oberen Ebene, auf der die Laverdes standen. Über die Menge der Vornehmen hinweg winkte der Hauptmann dem Präsidenten zu, López winkte mit einem Lächeln zurück, bei dem die Lippen sich nicht öffneten, und beide gaben sich mit Gesten zu verstehen, dass sie sich nachher treffen würden, denn nun begann das Spektakel. Santos drehte sich um, wollte sehen, wem López da Zeichen machte, erkannte Laverde, neigte leicht den Kopf, und in dem Moment erschienen am Himmel die dreimotorigen Junkers und zogen mit ihren Kondensstrefen alle Blicke auf sich.
Julio war überwältigt. Noch nie hatte er so komplizierte Manöver aus so geringer Entfernung gesehen. Die Junkers waren schwerfällig, ihr marmorierter Leib gab ihnen den Anschein großer prähistorischer Fische, doch sie bewegten sich voll Würde. Beim Vorbeifliegen überrollte die verdrängte Luft die Tribüne wie Wellen und zerzauste die Damen, die keine Hüte trugen. Der Wolkenhimmel Bogotás, dieses schmutzige Laken, das die Stadt seit ihrer Gründung zu bedecken schien, war die perfekte Leinwand für diesen Film. Vor dem Hintergrund der Wolken flogen ein Trio von Dreimotorigen und anschließend sechs Falcons über diese riesenhafte Bühne. Die Formation wahrte eine perfekte Symmetrie. Julio vergaß für einen Augenblick den bitteren Geschmack im Mund, die Übelkeit verschwand, seine ganze Aufmerksamkeit flog zu den westlichen Berghängen der Stadt, zu ihrer verschleierten Silhouette im Hintergrund, lang und dunkel wie die einer schlafenden Echse. Über den Berghängen regnete es, bald würde der Regen, dachte er, auch sie erreichen. Wieder flogen die Falcons vorüber, wieder spürte man den Luftstoß. Das Motorknattern konnte die bewundernden Schreie auf den Tribünen nicht ersticken. Der durchsichtige Kreis der rotierenden Propeller sandte kleine Blitze aus, wenn das Flugzeug eine Schleife flog. Dann erschienen die Jäger. Sie kamen aus dem Nirgendwo, vereinten sich sogleich zur Schwalbenformation, und mit einem Mal schien es unglaublich, dass diese Wesen nicht lebendig waren, dass jemand sie lenkte. »Das ist Abadía«, sagte eine Frauenstimme. Julio drehte sich um und wollte sehen, wer da sprach, aber da wurden dieselben Worte anderswo auf der Tribüne wiederholt. Der Name des Spitzenpiloten machte die Runde wie ein böses Gerücht. Präsident López hob seinen martialischen Arm und deutete in den Himmel.
»Na endlich«, sagte Hauptmann Laverde. »Jetzt geht es richtig los.«
Neben Julio stand ein Paar um die fünfzig, ein Mann mit getupfter Fliege und seine Frau, deren Mausgesicht noch erkennen ließ, dass sie einmal schön gewesen war. Julio hörte, wie der Mann zu ihr sagte, er werde den Wagen holen. Ebenso hörte er die Frau: »So ein Unsinn, bleib hier, nachher gehen wir zusammen, du verpasst sonst das Beste.« In dem Moment flog das Geschwader im Tiefflug an der Tribüne vorbei und wandte sich Richtung Süden. Beifall brandete auf, auch Julio klatschte. Hauptmann Laverde hatte ihn völlig vergessen, sein Blick war starr auf das gerichtet, was am Himmel geschah, auf die gefährlichen Figuren, die dort oben geflogen wurden, und da begriff Julio, dass auch sein Vater derlei noch nie gesehen hatte. »Ich wusste nicht, dass man so etwas mit einem Flugzeug machen kann«, sollte Laverde später sagen, wenn das Ereignis bei gesellschaftlichen Anlässen oder am Familientisch heraufbeschworen wurde. »Als hätte Abadía die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben.« Beim Anflug von Süden her entfernte sich Hauptmann Abadías Hawk-Jäger von der Formation, oder vielmehr entfernten sich die anderen Hawks, fächerten sich auf wie ein Blumenstrauß. Julio hätte nicht sagen können, in welchem Moment Abadía allein geblieben war oder wohin die anderen acht Piloten verschwunden waren, ganz plötzlich wie von den Wolken verschluckt. Die einsame Maschine flog zum ersten Mal mit einem Looping an der Tribüne vorbei und erntete Schreie und Applaus. Die Köpfe folgten ihr, sahen, wie sie eine Schlangenlinie beschrieb, umdrehte und zurückkehrte, diesmal noch tiefer und noch schneller, einen weiteren Looping vor dem Hintergrund der Berge vollführte, sich abermals am nördlichen Himmel verlor, dort wieder auftauchte, wie aus dem Nichts, und auf die Tribünen zusteuerte.
»Was tut er da?«, fragte jemand.
Abadías Hawk flog direkt auf das Publikum zu.
»Was macht denn der verrückte Kerl«, sagte ein anderer.
Diesmal kam die Stimme von unten, von einem der Männer bei Präsident López. Julio hatte gerade ganz unwillkürlich zum Präsidenten geblickt und sah, dass der sich mit beiden Händen an das Holzgeländer klammerte, als stände er nicht auf einem Gerüst, das fest in der Erde verankert war, sondern an einer Schiffsreling auf hoher See. Wieder spürte er den scharfen Geschmack im Mund, die Übelkeit, dazu einen jähen Schmerz in der Stirn und hinter den Augen.
Da sagte Hauptmann Laverde leise zu niemandem oder zu sich selbst, halb bewundernd, halb neidisch, als sähe er einem anderen dabei zu, wie er ein Rätsel löst: »Verflixt. Er will die Fahne.«
Das Folgende spielte sich für Julio außerhalb der Zeit ab, wie eine Halluzination, die einer Migräne entsprang. Hauptmann Abadías Jäger näherte sich der Präsidententribüne mit vierhundert Stundenkilometern, schien jedoch in der kühlen Luft reglos auf der Stelle zu schweben; aus wenigen Metern Entfernung flog er dann einen Looping und noch einen – looping the loop, die Schleife binden, wie es Hauptmann Laverde nannte –, und all das inmitten einer Totenstille. Wie Julio sich später erinnern sollte, hatte er noch Zeit gehabt, sich umzublicken, sah die vor Furcht und Staunen erstarrten Gesichter, die wie zum Schrei aufgerissenen Münder. Aber es erklangen keine Schreie. Die Welt war verstummt. Sofort begriff Julio, dass sein Vater recht hatte, Hauptmann Abadía war bei seinen beiden Loopings der wehenden Fahne so nahe gekommen, damit er nach dem Stoff greifen konnte, eine undenkbare Pirouette, die dem Präsidenten López gewidmet sein sollte, wie ein Torero einen Stier widmet. All das begriff er und hatte sogar noch Zeit, sich zu fragen, ob auch die anderen es begriffen. Dann wanderte der Schatten des Flugzeugs über seine Augen, ein Ding der Unmöglichkeit, da die Sonne nicht schien, er spürte einen Luftzug, der nach Verbranntem roch, und hatte noch die Geistesgegenwart, zu bemerken, wie Abadías Jäger einen seltsamen Hüpfer in der Luft machte, sich bog, als wäre er aus Gummi, zur Erde stürzte, im Fallen die Holzziegel der Diplomatentribüne zerstörte, die Treppe der Präsidententribüne wegfegte und in Stücke zersprang, als er auf der Wiese aufprallte.
Die Welt explodierte. Der Lärm explodierte: die Schreie, die stampfenden Schritte auf dem Holzboden, das Geräusch fliehender Körper. Wo das Flugzeug niedergegangen war, explodierte eine schwarze Wolke, die nicht aus Rauch, sondern aus dichter Asche zu bestehen schien und unnatürlich lang in der Luft hing. Vom Absturzort ging eine gewaltige Hitzewelle aus, die in Sekundenschnelle die am nächsten Stehenden tötete und den anderen das Gefühl gab, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Die Glücklicheren dachten, dass sie erstickten, denn während eines allzu langen Augenblicks verbrauchte die Hitze allen Sauerstoff in der Luft. Wie in einem Ofen, sollte später einer sagen, der dabei gewesen war. Die Treppe hatte sich von der Tribüne gelöst, so dass Bretterboden und Brüstung nachgaben, und beide Laverdes stürzten zur Erde. Erst dann, wie Julio lange Zeit später sagen sollte, begann der Schmerz.
»Papa«, rief er und sah, wie Hauptmann Laverde sich aufrichtete, um einer Frau zu helfen, die unter den Treppenbalken eingeklemmt war, doch für die Frau kam offensichtlich alle Hilfe zu spät. »Papa, ich habe da was.«
Julio hörte die Stimme eines Mannes, der nach seiner Frau rief. »Elvia«, schrie er, »Elvia.« Gleich darauf sah er den Mann mit der getupften Fliege, der den Wagen holen gegangen war und jetzt zwischen den Körpern am Boden umherirrte, manchmal auf sie trat, manchmal über sie stolperte. Da war dieser Geruch nach Verbranntem, und Julio wusste, was es war: der Geruch von versengtem Fleisch. Hauptmann Laverde drehte sich um, und in dessen Gesicht gespiegelt sah Julio das eigene Unheil. Sein Vater nahm ihn bei der Hand, und sie gingen los, strebten fort von der Katastrophe, um so schnell wie möglich ein Krankenhaus zu erreichen. Julio hatte bereits zu weinen begonnen, weniger aus Schmerz denn aus Angst, als sie an der Diplomatentribüne vorbeikamen, wo er zwei tote Körper sah und bei einem die cremefarbenen Schuhe wiedererkannte. Dann verlor er das Bewusstsein. Stunden später kam er wieder zu sich, von Schmerzen geplagt und umringt von besorgten Gesichtern, in einem Bett der San-José-Klinik.
Niemand erfuhr, was genau geschehen war, ob das Flugzeug bereits in der Luft zerborsten war oder erst beim Aufprall. Jedenfalls hatte Julio einen Spritzer Motoröl mitten ins Gesicht bekommen, der Haut und Fleisch verbrannt hatte, und es war ein Wunder, dass er dabei nicht getötet worden war wie so viele andere. Siebenundfünfzig Tote hinterließ der Unfall: allen voran Hauptmann Abadía. Sein Manöver hatte, wie man vermutete, ein Luftloch verursacht, das Flugzeug war nach dem Doppellooping abgesackt, was zum Höhen- und Kontrollverlust und zum unvermeidlichen Absturz geführt hatte. Die Verwundeten in den Krankenhäusern hörten sich diese Nachrichten gleichgültig oder verwundert an und erfuhren auch, dass die Staatskasse die Begräbniskosten übernehmen würde, die ärmsten Familien Unterstützung von der Stadt bekämen und der Präsident noch in der ersten Nacht alle Opfer besucht habe. Den jungen Julio Laverde zumindest hatte er besucht. Doch der war nicht bei Bewusstsein gewesen und hatte von dem Besuch nichts bemerkt. Später erzählten es ihm seine Eltern in allen Einzelheiten.
Am nächsten Tag blieb seine Mutter bei ihm, während sein Vater dem Begräbnis von Abadía, von Hauptmann Jorge Pardo und zwei in Santa Ana kasernierten Kavalleriesoldaten beiwohnte, die alle auf dem Zentralfriedhof bestattet wurden, nach einem Trauerzug, an dem mehrere Regierungsvertreter teilnahmen sowie die Spitzen der Boden- und Luftstreitkräfte. Julio lag währenddessen auf der unversehrten Seite seines Gesichts und erhielt Morphiuminjektionen. Er sah die Welt wie aus einem Aquarium, betastete den sterilen Verband und kam um vor Juckreiz, durfte sich aber nicht kratzen. Wenn der Schmerz besonders heftig war, hasste er Hauptmann Laverde, betete dann ein Vaterunser und bat um Vergebung für seine bösen Gedanken. Er betete auch, dass seine Wunde sich nicht entzünden möge, denn dazu hatte man ihn aufgefordert. Dann sah er die junge Ausländerin vor sich und fing Gespräche mit ihr an. Er sah sich selbst mit verbranntem Gesicht. Mal hatte auch sie ein verbranntes Gesicht, mal nicht, aber immer trug sie den rosa Schal und die cremefarbenen Schuhe.
Während dieser Halluzinationen sprach das junge Mädchen manchmal mit ihm. Sie fragte, wie es ihm gehe. Fragte, ob er Schmerzen habe. Und sie fragte: »Magst du Flugzeuge?«
Es wurde dunkel. Maya Fritts zündete eine Duftkerze an, um die Mücken zu verscheuchen. »Zu dieser Zeit kommen sie alle hervor.« Sie reichte mir einen Insektenschutzstift und sagte, ich solle mich überall einreiben, vor allem an den Knöcheln, und als ich versuchte, das Etikett zu lesen, fiel mir auf, wie schnell es dunkel wurde. Ebenso, dass eine Rückkehr nach Bogotá nun nicht mehr in Frage kam und dass auch Maya Fritts das bemerkt hatte, als wären wir beide stillschweigend davon ausgegangen, dass ich die Nacht hier verbringen würde, als ihr Ehrengast, zwei Fremde unter einem Dach, die sich letztlich gar nicht so fremd waren: Ein Toter verband sie. Ich blickte zum Himmel auf, marineblau wie manche Himmel bei Magritte, und bevor es völlig dunkel geworden war, sah ich die ersten Fledermäuse, deren schwarze Umrisse sich vor der Nacht abhoben. Maya stand auf, stellte einen Holzstuhl zwischen die beiden Hängematten, darauf die angezündete Kerze, eine kleine Styroporkühlbox mit zerstoßenem Eis, eine Rum- und eine Colaflasche. Sie legte sich in die Hängematte (mit einer einzigen geschickten Bewegung warf sie sich hinein und dehnte sie zugleich). Das Bein tat mir weh. Binnen Minuten brach die Kakophonie der Grillen und Zikaden los und war wenige Minuten später wieder verstummt, nur hier und da blieben einzelne Musikanten, gelegentlich unterbrochen von einem verlorenen Froschquaken. Die Fledermäuse flatterten drei Meter über unseren Köpfen, besuchten immer wieder ihre Schlupflöcher unter dem Holzdach, der gelbe Kerzenschein wogte in der sanften Brise, die Luft war lau, der Rum rann wohlig in den Körper. »Da wird wohl jemand heute nicht in Bogotá übernachten«, sagte Maya Fritts. »Wenn Sie anrufen wollen, in meinem Schlafzimmer steht ein Telefon.«
Ich dachte an Leticia, an ihr schlafendes Gesichtchen. Ich dachte an Aura, dachte an den Vibrator von der Farbe reifer Brombeeren.
»Nein«, sagte ich, »ich muss niemanden anrufen.«
»Ein Problem weniger.«
»Aber ich habe keine Wäsche zum Wechseln.«
»Na, dafür lässt sich eine Lösung finden.«
Ich betrachtete sie: die nackten Arme, die Brüste, das eckige Kinn, die kleinen Ohren mit den schmalen Ohrläppchen, an denen ein Funke aufglänzte, wenn Maya den Kopf wandte. Sie nahm einen Schluck und stellte das Glas auf ihren Bauch, ich tat es ihr nach. »Sehen Sie, Antonio, es geht um Folgendes«, sagte sie dann. »Sie sollen mir von meinem Vater erzählen, wie er gewesen ist am Ende seines Lebens, wie der Tag seines Todes verlief. Niemand hat gesehen, was Sie gesehen haben. Nehmen wir an, es ist ein Puzzle, dann haben Sie ein Teil, das niemand sonst hat, ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Können Sie mir helfen?« Ich antwortete nicht sofort. »Können Sie mir helfen?«, wiederholte Maya, doch ich antwortete nicht. Sie stützte sich auf den Ellbogen. Wer einmal in einer Hängematte lag, weiß, wie schwierig es ist, sich darin auf den Ellbogen zu stützen, schnell verliert man das Gleichgewicht oder die Arme werden einem lahm. Ich versank in der Hängematte, in diesem Stoff, der nach Feuchtigkeit roch, nach altem Schweiß, nach einer Geschichte von Männern und Frauen, die sich hineingelegt hatten, nachdem sie im Pool gebadet oder auf dem Grundstück gearbeitet hatten. Maya Fritts war aus meinem Blickfeld verschwunden. »Und wenn ich Ihnen erzähle, was Sie wissen wollen«, sagte ich, »werden Sie ein Gleiches tun?« Auf einmal dachte ich an mein leeres Heft, an dieses einsame, verlorene Fragezeichen, und Worte erschienen in meinem Geist: Ich will Bescheid wissen. Maya erwiderte nichts, doch im Halbdunkel sah ich, dass sie sich ebenfalls in der Hängematte zurechtlegte, und mehr brauchte ich nicht. Ich fing zu reden an, erzählte Maya alles, was ich über Ricardo Laverde wusste oder zu wissen glaubte, alles, woran ich mich erinnerte, alles, was ich befürchtete, vergessen zu haben, alles, was Laverde mir erzählt hatte, und auch das, was ich nach seinem Tod herausgefunden hatte, und so verbrachten wir die Stunden bis zum frühen Morgen, jeder in seiner Hängematte versunken, jeder das Dach musternd, wo sich die Fledermäuse tummelten, und füllten die Stille der warmen Nacht mit Worten, ohne uns anzusehen, wie Pfarrer und Sünder beim Sakrament der Beichte.