IV. Wir sind alle auf der Flucht
Es wurde bereits hell, als ich mich erschöpft, etwas angetrunken und fast heiser vor lauter Reden von Maya Fritts ins Gästezimmer führen ließ oder in das, was sie als solches bezeichnete. Dort gab es kein Bett, sondern zwei einfache Pritschen, die nicht sehr stabil aussahen (meine gab ein Ächzen von sich, als ich mich auf die Matratze, auf das fadenscheinige weiße Betttuch fallen ließ wie ein Sack). Ein Ventilator flatterte wild über meinem Kopf, und ich glaube, es war die flüchtige Paranoia des Betrunkenen, die mich das Bett wählen ließ, das nicht unter seinen Flügeln stand, für den Fall, dass sich der Apparat löste und mitten im Schlaf auf mich fiel. Vorher hatte ich jedoch, wie ich mich erinnere, durch den Schleier aus Schläfrigkeit und Rum hindurch noch Anweisungen erhalten: die Fenster nicht ohne Moskitonetz öffnen, keine Coladosen herumstehen lassen (sonst füllt sich das Haus mit Ameisen), kein Klopapier ins WC werfen. »Das ist besonders wichtig, die aus der Stadt vergessen das immer«, sagte sie mit diesen oder ähnlichen Worten. »Auf die Toilette geht man rein mechanisch, niemand denkt nach, wenn er dort sitzt. Und ich will Ihnen nicht ausmalen, was das nachher für einen Ärger mit der Klärgrube gibt.« Über meine Körperfunktionen mit einer vollkommen Fremden zu reden, störte mich nicht. Maya Fritts besaß eine Natürlichkeit, wie ich sie noch nie erlebt hatte und die selbstredend das Gegenteil vom Puritanismus der Bogotaer war, die ein Leben lang so tun können, als hätten sie niemals geschissen. Ich glaube, ich nickte, erinnere mich nicht, etwas gesagt zu haben. Mein Bein schmerzte mehr als sonst, die Hüfte schmerzte. Ich schrieb es der feuchten Luft und der Erschöpfung zu, nach all den Stunden Fahrt auf einer unberechenbaren, gefährlichen Straße.
Als ich aufwachte, wusste ich erst nicht, wo ich war. Die Mittagshitze hatte mich geweckt. Ich schwitzte, das Laken war so durchnässt wie damals die Laken in der San-José-Klinik vom Schweiß meines Deliriums, und als ich zur Decke blickte, merkte ich, dass sich der Ventilator nicht mehr drehte. Die aggressive Helle des Tages drang durch die Holzjalousien und bildete Pfützen von Licht auf den weißen Fliesen. Neben der geschlossenen Tür lag auf einem Korbstuhl ein Kleiderbündel: zwei kurzärmelige karierte Hemden, ein grünes Handtuch. Im Haus herrschte friedliches Schweigen. Aus der Ferne waren Stimmen zu hören, Stimmen von arbeitenden Menschen, auch der Klang ihrer Werkzeuge. Ich wusste nicht, wer sie waren, was sie um diese Zeit und bei der Hitze taten, und gerade, als ich mich das fragte, verstummten die Geräusche, und ich nahm an, dass sie nun ausruhten. Ich zog die Jalousien hoch, öffnete das Fenster, drückte die Nase gegen das Moskitonetz und sah niemanden: nur das leuchtende Rechteck des Pools, die einsame Rutsche, einen Kapokbaum, wie den an der Landstraße, dafür gedacht, den armen Wesen, die diese Welt der erbarmungslosen Sonne bewohnten, Schatten zu spenden. Unter dem Kapokbaum lag der Schäferhund, den ich bei meiner Ankunft gesehen hatte. Dahinter dehnte sich die Ebene aus, und hinter der Ebene floss irgendwo der Magdalena, dessen Rauschen ich mir leicht vorstellen konnte, denn ich hatte es als Kind gehört, wenn auch an einer anderen Stelle, weit weg von Las Acacias. Maya Fritts war nicht da, also nahm ich eine kalte Dusche (ich musste eine Spinne von beachtlicher Größe töten, die in einer Ecke eine ganze Weile Widerstand leistete) und zog das Hemd über, das mir etwas zu groß war. Es war ein Männerhemd, und ich gab mich der Einbildung hin, dass es Ricardo Laverde gehört hatte. Ich versuchte, ihn mir darin vorzustellen, sah aber immer nur jemanden vor mir, der mir selbst ähnelte. Kaum war ich auf den Gang getreten, kam eine junge Frau in roten Bermudas mit blauen Taschen auf mich zu, auf ihrem ärmellosen T-Shirt küssten sich ein Schmetterling und eine Sonnenblume. In Händen hielt sie ein Tablett, darauf ein großes Glas Orangensaft. Auch im Wohnzimmer standen die Ventilatoren still.
»Die Señorita Maya hat Ihnen die Sachen auf die Terrasse gestellt«, sagte sie. »Sie kommt dann zum Mittagessen.« Sie lächelte, wartete, dass ich das Glas vom Tablett nahm.
»Können wir die Ventilatoren nicht anstellen?«
»Ach, der Strom ist doch ausgefallen«, sagte die Frau. »Einen Kaffee, der Señor?«
»Zuerst ein Telefon. Um in Bogotá anzurufen, wenn das in Ordnung geht.«
»Das Telefon steht da drüben«, sagte sie. »Aber das müssen Sie nachher mit der Señorita klären.«
Es war einer dieser alten Apparate aus einem Stück, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte, Ende der Siebziger: eine Art bauchiger kleiner Vogel mit langem Hals, darunter die Wählscheibe und ein roter Knopf. Zum Sprechen musste man ihn nur anheben. Ich wählte meine Nummer und wunderte mich, dass ich wieder die gleiche Ungeduld wie als Kind empfand, während ich wartete, dass die Scheibe sich zurückdrehte, bevor ich die nächste Ziffer wählen konnte. Aura war vor dem zweiten Klingeln am Apparat. »Wo bist du?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«
»Natürlich. Warum soll es mir nicht gutgehen?«
Ihr Tonfall änderte sich, wurde kalt, angespannt, bleiern. »Wo bist du?«, fragte sie.
»In La Dorada. Ich besuche jemanden.«
»Die vom Anrufbeantworter?«
»Was?«
»Die von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter?«
Ihr Scharfsinn überraschte mich nicht (den hatte sie seit Beginn unserer Beziehung bewiesen). Ich erklärte ihr die Situation, ohne ins Detail zu gehen: Ricardo Laverdes Tochter, die Unterlagen, die sie besaß, die Bilder, die ihr Gedächtnis barg, die Chance, vieles zu verstehen. Ich will Bescheid wissen, dachte ich, sagte es aber nicht. Beim Reden hörte ich abgehackte Geräusche, vielleicht Kehllaute, dann Auras plötzliches Weinen. »Du bist ein Scheißkerl«, sagte sie. Sie sprach das Wort nicht in einem Zug aus, wie es üblich und schlagkräftiger ist, sondern machte eine Pause in der Mitte, betonte beide Silben. »Ich habe kein Auge zugetan, Antonio. Ich habe die Krankenhäuser bloß nicht abgeklappert, weil ich niemanden habe, der auf die Kleine aufpasst. Ich verstehe nicht, verstehe gar nichts«, sagte Aura unter Schluchzern, und ihr Weinen hatte etwas Gewaltsames, nie hatte ich so ein Weinen von ihr gehört. Zweifellos war es die aufgestaute Anspannung der Nacht. »Wer ist diese Person?«, fragte sie.
»Niemand Bestimmtes«, sagte ich. »Das heißt, es ist nicht das, was du denkst.«
»Du weißt nicht, was ich denke. Wer ist sie?«
»Die Tochter von Ricardo Laverde«, sagte ich. »Der, der …«
Ein Schnauben war zu hören. »Ich weiß, wer das war«, sagte Aura, »du hältst mich wohl für dämlich.«
»Ich soll ihr alles erzählen, und sie soll mir alles erzählen. Mehr nicht.«
»Mehr nicht.«
»Nein. Mehr nicht.«
»Und, ist sie hübsch? Ich meine, ist sie sexy?«
»Aura, tu das nicht.«
»Aber ich verstehe es nicht«, sagte Aura wieder. »Ich begreife nicht, warum du gestern nicht angerufen hast, was hätte es dich gekostet. Hattest du dieses Telefon gestern nicht zur Hand? Hast du nicht die Nacht dort verbracht?«
»Ja«, sagte ich.
»Ja, was? Hattest du das Telefon zur Hand oder hast du die Nacht dort verbracht?«
»Ja, ich habe die Nacht hier verbracht. Ja, ich hätte dieses Telefon benutzen können.«
»Und?«
»Nichts weiter«, sagte ich.
»Was hast du getan? Was habt ihr getan?«
»Geredet. Die ganze Nacht. Ich bin spät aufgewacht, deshalb rufe ich jetzt erst an.«
»Aha, deswegen.«
»Ja.«
»Ich verstehe«, sagt Aura. Und dann: »Du bist ein Scheißkerl, Antonio.«
»Aber hier finde ich Erklärungen«, sagte ich, »hier kann ich Dinge erfahren.«
»Ein rücksichtsloser Scheißkerl«, sagte Aura. »Das kannst du mit deiner Familie nicht machen. Die ganze Nacht wach, halb tot vor Angst, und sich das Schlimmste vorstellen. So ein Scheißkerl. Das Schlimmste. Den ganzen Freitag war ich mit Leticia hier eingesperrt, habe auf eine Nachricht gewartet, bin nicht aus dem Haus gegangen, falls du ausgerechnet in dem Moment anrufst. Die ganze Nacht wach, halb tot vor Angst. Hast du daran nicht gedacht? War dir das egal? Und wenn es andersrum gewesen wäre? Wohl kaum, was? Stell dir vor, ich fahre einen ganzen Tag mit der Kleinen weg, und du weißt nicht, wo ich bin. Du, der sich ständig vor Angst in die Hosen scheißt, der mich kontrolliert, als würde ich ihn ständig hintergehen. Du, den ich anrufen soll, wenn ich irgendwo angekommen bin, damit du weißt, dass alles in Ordnung ist. Du, den ich anrufen soll, bevor ich wieder gehe, damit du weißt, wann ich aufgebrochen bin. Warum tust du das, Antonio? Was ist los, was willst du erreichen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich will.«
Während der folgenden Sekunden Schweigen konnte ich Leticias Bewegungen hören und nachvollziehen wie bei einer Katze mit Glöckchen, diese Klangspur, die wir Eltern ganz unbewusst wahrnehmen: Leticia, die über den Teppichboden ging oder lief, Leticia, die mit ihren Spielsachen sprach oder die Spielsachen miteinander sprechen ließ, Leticia, die Gegenstände verschob (den verbotenen Nippes, die verbotenen Aschenbecher, den verbotenen Besen, den sie so gern aus der Küche holte, um den Teppich zu fegen: all diese unmerklichen Luftverschiebungen, die ihr kleiner Körper hervorrief). Ich vermisste sie, mir wurde bewusst, dass ich noch nie eine Nacht ohne sie verbracht hatte, so weit weg von ihr, und ich spürte wie so oft Beklemmung angesichts ihrer Schutzlosigkeit und hatte das Gefühl, dass Unfälle (die in jedem Zimmer auf sie lauerten, in jeder Straße) in meiner Abwesenheit wahrscheinlicher waren. »Geht es der Kleinen gut?«, fragte ich.
Aura zögerte einen Herzschlag lang mit der Antwort. »Ja, es geht ihr gut. Sie hat gut gefrühstückt.«
»Gib sie mir.«
»Was?«
»Gib sie mir bitte. Sag ihr, ich möchte mit ihr reden.«
Schweigen. »Antonio, das sind jetzt über drei Jahre. Warum willst du das nicht hinter dir lassen? Was hast du davon, das Unglück wieder und wieder zu erleben? Ich weiß nicht, was du davon hast, wirklich nicht, ich weiß nicht, wozu das gut sein soll. Was ist los?«
»Ich möchte mit Leticia reden. Gib ihr das Telefon. Ruf sie, und gib ihr das Telefon.«
Aura gab ein Schnauben von sich, das Ärger oder Verzweiflung ausdrückte, vielleicht auch Wut, die Wut der Machtlosigkeit. Solche Gefühle kann man schwer am Telefon unterscheiden, man muss das Gesicht des anderen sehen, um sie benennen zu können. In meiner Wohnung im zehnten Stock, in meiner Stadt, die dort zweitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel schwebte, gingen und sprachen meine beiden Frauen, und ich hörte ihnen zu, liebte sie, ja, ich liebte sie beide und wollte ihnen nicht wehtun. Daran dachte ich, als ich Leticia hörte: »Hallo?«, sagte sie. Dieses Wort lernen Kinder, ohne dass man es ihnen beibringen muss. »Hallo, meine Hübsche«, sagte ich.
»Da ist Papa«, sagte sie.
Ich hörte von weitem Auras Stimme. »Ja. Aber hör zu, hör zu, was er dir sagt.«
»Hallo?«, wiederholte Leticia.
»Hallo«, sagte ich. »Wer bin ich?«
»Papa«, sie betonte das zweite p, verweilte auf ihm.
»Nein«, sagte ich, »ich bin der böse Wolf.«
»Der böse Wolf?«
»Ich bin Peter Pan.«
»Peter Pan?«
»Wer bin ich, Leticia?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Papa«, sagte sie dann.
»Genau«, sagte ich. Ich hörte sie lachen: ein kurzes Auflachen, das Flattern eines Kolibris. Dann sagte ich: »Passt du auf Mama auf?«
»Aha«, sagte Leticia.
»Du musst gut auf Mama aufpassen. Passt du auf sie auf?«
»Aha«, sagte Leticia. »Ich gebe sie dir.«
»Nein, warte«, sagte ich, aber es war zu spät, sie hatte sich schon des Hörers entledigt und mich Auras Händen übergeben, meine Stimme in Auras Händen, während meine Sehnsucht in der heißen Luft schwebte: die Sehnsucht nach den Dingen, die man noch nicht verloren hat. »Na, geh spielen«, hörte ich Aura in ihrem sanftesten Ton sagen, fast flüsternd, ein Wiegenlied in vier Silben. Dann sprach sie zu mir, und der Kontrast war gewaltig. Es lag Traurigkeit in ihrer Stimme, so nah sie auch klang, Ernüchterung und auch ein versteckter Vorwurf. »Hallo«, sagte Aura.
»Hallo«, sagte ich. »Danke.«
»Wofür?«
»Dass du mir Leticia gegeben hast.«
»Sie hat Angst vor dem Flur«, sagte Aura.
»Die Kleine?«
»Sie sagt, im Flur ist etwas. Gestern wollte sie nicht allein von der Küche in ihr Zimmer gehen. Ich musste sie begleiten.«
»Das ist das Alter«, sagte ich. »Solche Ängste vergehen.«
»Sie wollte bei eingeschaltetem Licht schlafen.«
»Das ist das Alter.«
»Ja«, sagte Aura.
»Auch der Kinderarzt hat das gesagt.«
»Ja.«
»Das ist das Alter der Albträume.«
»Ich will nicht«, sagte Aura. »Ich will nicht, dass wir so weitermachen, Antonio. Es geht nicht.« Bevor ich antworten konnte, fügte sie hinzu: »Das ist für keinen von uns gut. Es ist nicht gut für das Mädchen, für keinen.«
Das war es also. »Ich verstehe«, sagte ich. »Dann ist es meine Schuld.«
»Niemand hat von Schuld gesprochen.«
»Es ist meine Schuld, dass die Kleine Angst vor dem Flur hat.«
»Das hat keiner behauptet.«
»Was für ein Schwachsinn, ich bitte dich. Als wäre die Angst erblich.«
»Erblich nicht«, sagte Aura. »Ansteckend.« Und gleich darauf: »Das wollte ich nicht sagen.« Und dann: »Du verstehst mich schon.«
Meine Hände schwitzten, vor allem die, in der ich das Telefon hielt, und ich hatte die absurde Befürchtung, dass mir der Apparat aus der schwitzenden Faust gleiten, zu Boden fallen könnte und die Verbindung unterbrochen wäre, ohne meinen Willen. Ein Unglück, Unglücke passieren. Aura sprach von unserer Vergangenheit, von den Plänen, die wir gemacht hatten, bevor eine Kugel mich getroffen hatte, die nicht meinen Namen trug, und ich hörte ihr aufmerksam zu, das schwöre ich, aber in meinem Kopf entstand keinerlei Erinnerung. Vor dem geistigen Auge, heißt es manchmal. Mein geistiges Auge versuchte, Aura vor Ricardo Laverdes Tod zu sehen, versuchte, mich selbst zu sehen, vergebens. »Ich muss auflegen«, hörte ich mich sagen, »das ist nicht mein Telefon.« Aura – daran erinnere ich mich gut – sagte, dass sie mich liebe, dass wir gemeinsam darüber hinwegkämen, dass wir daran arbeiten würden. »Ich muss auflegen«, sagte ich.
»Wann kommst du?«
»Ich weiß nicht. Hier gibt es Informationen, Dinge, die ich wissen muss.«
Schweigen in der Leitung.
»Antonio«, sagte Aura dann, »kommst du zurück?«
»Was ist das für eine Frage?«, sagte ich. »Natürlich komme ich zurück, wo denkst du, dass ich bin?«
»Ich denke gar nichts. Sag mir, wann.«
»Ich weiß es nicht. Sobald ich kann.«
»Wann, Antonio?«
»Sobald ich kann«, sagte ich. »Aber wein nicht, es gibt keinen Grund.«
»Ich weine nicht.«
»Es gibt keinen Grund. Die Kleine wird noch unruhig.«
»Die Kleine, die Kleine«, wiederholte Aura. »Fahr zur Hölle, Antonio.«
»Aura, bitte.«
»Fahr zur Hölle«, sagte sie. »Wir sehen uns, sobald du kannst.«
Danach ging ich auf die Terrasse. Dort unter der Hängematte ruhte wie ein Haustier die Korbtruhe, die über Papierstapel verteilt das Leben von Elena Fritts und Ricardo Laverde enthielt, die Briefe, die sie sich und anderen geschrieben hatten. Die Luft stand still. Ich machte es mir in der Hängematte bequem, die Maya Fritts letzte Nacht benutzt hatte, und den Kopf auf ein Kissen mit weißem Stickbezug gebettet, zog ich die erste Mappe heraus, legte sie mir auf den Bauch und nahm den ersten Brief. Es war ein grünliches, fast durchscheinendes Papier. »Dear Grandpa & Grandma«, lautete die Anrede. Dann kam die erste Zeile, losgelöst und einsam, die auf dem folgenden Absatz balancierte wie ein Selbstmörder auf dem Fenstersims:
Niemand hatte mich gewarnt, dass Bogotá sein würde, wie es ist.
Ich vergaß die feuchte Hitze, vergaß den Orangensaft, vergaß meine unbequeme Haltung (ohne auch nur zu ahnen, was für eine heftige Halsverrenkung sie mir bescheren würde). In Mayas Hängematte vergaß ich mich selbst. Später suchte ich in meinem Gedächtnis, wann ich zuletzt so etwas erlebt hatte, diese restlose Aufhebung der Welt ringsum, diese Beanspruchung des gesamten Bewusstseins, und kam zu dem Schluss, dass mir dergleichen seit meiner Kindheit nicht mehr passiert war. Aber diese Gedanken, diese Mühe machte ich mir erst später, während der Stunden, die ich mit Maya sprach, damit sie die Lücken füllte, die die Briefe hinterlassen hatten, damit sie mir alles erzählte, was die Briefe nicht erzählten oder nur vage andeuteten, alles, was sie nicht mitteilten, sondern verheimlichten oder verschwiegen. Das kam, wie gesagt, später, dieses Gespräch konnte erst stattfinden, nachdem ich die Dokumente mit ihren Offenbarungen bewältigt hatte. Dort in der Hängematte überkamen mich beim Lesen andere Gefühle, manche unergründlich, eins besonders verstörend: das Unbehagen darüber, dass diese Geschichte, in der mein Name nicht vorkam, in jeder Zeile von mir sprach. All das spürte ich, und am Ende mündeten meine Gefühle in einer überwältigenden Einsamkeit, einer Einsamkeit ohne sichtlichen Grund und deshalb unausweichlich. Der Einsamkeit eines Kindes.
Die Geschichte, soweit ich sie rekonstruieren konnte und mein Gedächtnis sie bewahrt hat, begann im August 1969, acht Jahre, nachdem Präsident John Fitzgerald Kennedy das Peace Corps ins Leben gerufen hatte, als Elaine Fritts, künftige Freiwillige mit der Nummer 139372, nach fünf Wochen Ausbildung an der Florida State University in Bogotá landete, im Gepäck mehrere Klischees: die Absicht, eine bereichernde Erfahrung zu machen, Spuren zu hinterlassen, ihr Scherflein beizutragen. Die Reise fing nicht gut an, denn Böen schüttelten ihr Flugzeug, eine alte DC-4 von Avianca, und zwangen sie, die Zigarette auszumachen und etwas zu tun, was sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr getan hatte: sich zu bekreuzigen. (Ein rasches Kreuzzeichen, kaum mehr als hingewischte Linien auf dem ungeschminkten Gesicht und der Brust, die zwei Holzperlenketten schmückten. Niemand hatte es gesehen.) Vor dem Abflug hatte ihr die Großmutter erzählt, dass im Vorjahr ein Passagierflugzeug aus Miami beim Anflug auf Bogotá zerschellt war, und während ihre Maschine jetzt dem Graugrün der Berge entgegensank und inmitten der Böen, die Fenster von dicken Regenbahnen gezeichnet, die niedrige Wolkenbank verließ, versuchte Elaine sich zu erinnern, ob in dem verunglückten Flugzeug alle Passagiere ums Leben gekommen waren. Sie umklammerte die Knie – ihre Hände hinterließen auf der Hose eine knittrige, schweißnasse Spur – und schloss die Augen, als das Flugzeug scheppernd aufsetzte. Sie hielt es für ein kleines Wunder, dass sie die Landung überlebt hatte, und nahm sich vor, ihren Großeltern den ersten Brief zu schreiben, sobald sie sich in ihrer Unterkunft an einen Tisch würde setzen können. Ich bin angekommen, es geht mir gut, die Leute sind nett. Es gibt viel zu tun. Alles wird prima klappen.
Die Mutter war bei Elaines Geburt gestorben und das Kind in Obhut der Großeltern aufgewachsen, seit ihr Vater bei einer Aufklärungsmission in der Nähe von Old Baldy den Fuß auf eine Tretmine gesetzt hatte und ohne rechtes Bein aus Korea zurückgekommen war, fürs Leben verloren. Ein knappes Jahr nach seiner Rückkehr wollte er Zigaretten holen und verschwand für immer. Man hörte nie wieder von ihm. Elaine war damals noch ein kleines Mädchen, so dass sie seine Abwesenheit nicht beschäftigte, und die Großeltern kümmerten sich so eifrig um ihre Erziehung und ihr Glück, wie sie die eigenen Kinder erzogen hatten, nun allerdings mit mehr Erfahrung. Diese beiden Wesen aus einer anderen Zeit waren die Erwachsenen in Elaines Leben, und so wuchs sie mit einem Verantwortungsgefühl auf, das anderen Kindern fremd war. Ihr Großvater gab in Gesellschaft eine Ansicht zum Besten, die Elaine mit Stolz erfüllte und zugleich traurig machte: »So hätte meine Tochter werden müssen.« Als Elaine beschloss, ihr Journalistikstudium abzubrechen, um sich dem Peace Corps anzuschließen, war der Großvater, der nach dem Kennedy-Mord neun Monate lang Trauer trug, der Erste, der sie unterstützte. »Unter einer Bedingung«, sagte er. »Dass du nicht dort bleibst, wie so viele andere. Helfen ist gut, aber dein Land braucht dich noch dringender.« Sie war einverstanden.
Die Botschaftsabteilung, erzählte Elaine Fritts in ihrem Brief, hatte sie in einem zweistöckigen Haus bei der Pferderennbahn im Norden Bogotás untergebracht, eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt, in einer Gegend schlecht asphaltierter Straßen, die sich bei Regen in Morast verwandelten. Die Welt, in der sie die nächsten zwölf Wochen verbringen sollte, war eine graue Baustelle. Die meisten Häuser besaßen noch kein Dach, denn das war am teuersten, und man ließ es für den Schluss, der tägliche Verkehr bestand aus riesigen orangefarbenen Betonmischern, lärmend wie Bienen aus einem Albtraum, Kipplastern, die überall Berge von Steinkies abluden. Arbeiter mit Hefegebäck in der einen und einer Limonadenflasche in der anderen Hand pfiffen ihr obszön hinterher, wenn sie auf die Straße trat. Elaine Fritts – die hellgrünsten Augen, die man dort je gesehen hatte, langes hellbraunes Haar, das ihr wie ein glatter Vorhang über die Taille fegte, Brustwarzen, die sich in der Morgenkälte des Hochlands unter der geblümten Bluse abzeichneten – schaute starr auf die Pfützen, auf das Spiegelbild des grauen Himmels, und blickte erst wieder auf, wenn sie das leere Gelände erreichte, das ihr Viertel von der Nordautobahn trennte, in erster Linie, um sich zu vergewissern, dass sich die beiden weidenden Kühe in angemessener Distanz befanden. Dann ging es darum, einen gelben Bus mit zufälligem Fahrplan und zufälligem Halt zu besteigen und sich unverzüglich mit den Ellbogen einen Weg durch den zähen Brei der Passagiere zu bahnen. »Das Ziel ist einfach«, schrieb sie. »Rechtzeitig aussteigen.« Während der halben Stunde Fahrt musste Elaine vom Aluminiumdrehkreuz an der Vordertür (das sie freihändig mit einem Hüftschwung zu drehen lernte) bis zur Hintertür gelangen und aussteigen, ohne die zwei, drei Fahrgäste wegzufegen, die dort hingen, ein Bein in der Luft. All das erforderte eine Lehrzeit, und in der ersten Woche schoss sie in der Regel zwei, drei Kilometer über ihr Ziel hinaus und kam mehrere Minuten zu spät zu ihrem Acht-Uhr-Kurs im CEUCA-Institut, durchnässt vom hartnäckigen Nieselregen, durch Straßen wandernd, die sie nicht kannte.
Das Centro de Estudios Universitarios Colombo-Americano, ein langer, anmaßender Name für ein paar Klassenzimmer voller Leute, die Elaine Fritts bekannt vorkamen, allzu bekannt. Ihre Kameraden in dieser Ausbildungsphase waren Weiße wie sie, Anfang zwanzig wie sie und hatten wie sie genug vom eigenen Land, genug von Vietnam, Kuba und Santo Domingo, genug davon, an einem Morgen ahnungslos mit Eltern oder Freunden über banale Dinge zu reden und nachts mit dem Wissen ins Bett zu gehen, dass eben ein weiterer beispielloser, unrühmlicher Tag vergangen war, ein Tag, der sogleich in die Universalgeschichte der Niedertracht eingehen würde: der Tag, an dem eine abgesägte Schrotflinte Malcolm X tötete, eine Autobombe Wharlest Jackson, eine Bombe im Postamt Fred Conlon, eine Geschossgarbe aus Polizeigewehren Benjamin Brown. Und zugleich kamen immer mehr Särge aus Vietnam zurück von Operationen mit harmlosen, pittoresken Namen, Deckhouse Five, Cedar Falls, Junction City. Die Wahrheit über das Massaker von My Lai kam allmählich ans Licht, bald darauf sprach man von Thanh Phong, ein barbarischer Akt ersetzte und verdrängte den anderen, eine neue vergewaltigte Frau verdrängte eine frühere Vergewaltigung. Ja, in ihrem Land wachte man auf und wusste nicht, was einen erwartete, welch grausamen Scherz einem die Geschichte heute spielen, wie sie einem diesmal ins Gesicht spucken würde. Wann war es so weit gekommen mit den Vereinigten Staaten? Diese Frage, die sich Elaine Tag für Tag auf tausenderlei wirre Arten stellte, schwebte in der Luft der Klassenzimmer, über all den weißen Köpfen der Zwanzigjährigen, überflutete auch die Pausen, das Mittagessen in der Cafeteria, die Fahrten zwischen dem CEUCA und den Slums am Stadtrand, in denen die angehenden Freiwilligen Feldforschung betrieben. Die Vereinigten Staaten: Wer richtete sie zugrunde, wer war verantwortlich für die Zerstörung des Traums? Dort im Klassenzimmer dachte Elaine: Davor sind wir geflohen. Dachte: Wir sind alle auf der Flucht.
An den Vormittagen wurde Spanisch unterrichtet. Vier Stunden lang, vier zähe Stunden, von denen sie Kopfschmerzen bekam und ihre Schultern sich verspannten wie bei einem Lastträger, ergründete Elaine die Geheimnisse der neuen Sprache mit einer Lehrerin in Reitstiefeln und Rollkragenpullover, einer spröden Frau mit Augenringen, die ihren dreijährigen Sohn mit in den Unterricht nahm, weil sie zu Hause niemanden hatte, der auf ihn aufpasste. Auf jeden Schnitzer beim spanischen Konjunktiv, auf jeden falschen Artikel reagierte Señora Amalia mit der gleichen Rede: »Wie wollen Sie mit den Armen dieses Landes arbeiten, wenn Sie sie nicht verstehen?«, sagte sie und stützte sich mit geballten Fäusten auf den Holztisch. »Und wenn es Ihnen nicht gelingt, sich verständlich zu machen, wie wollen Sie das Vertrauen der Gemeindevorstände gewinnen? In drei, vier Monaten werden einige von Ihnen an die Küste oder ins Kaffeedreieck reisen. Glauben Sie, dass die vom Nachbarschaftskomitee warten, bis Sie eine Vokabel im Wörterbuch gefunden haben? Glauben Sie, die Bauern setzen sich auf den Boden, während Sie nachsehen, wie man sagt: Milch ist besser als Zuckerrohrwasser?« Aber nachmittags, während der Stunden auf Englisch, die im offiziellen Programm American Studies und World Affairs hießen, erhielten Elaine und ihre Kameraden Unterricht von Veteranen des Peace Corps, die aus dem einen oder anderen Grund in Kolumbien geblieben waren, und von ihnen lernten sie, dass die wichtigen Sätze nicht von Zuckerrohrwasser oder Milch handelten, sondern von etwas ganz anderem, und dass deren gemeinsame Zutat das Wort nein war: Nein, ich bin nicht von Alliance for Progress; nein, ich bin keine CIA-Agentin; und vor allem, nein, ich habe keine Dollar, es tut mir leid.
Ende September schrieb Elaine einen langen Brief, in dem sie ihrer Großmutter zum Geburtstag gratulierte, sie bedankte sich bei beiden für die Ausschnitte aus Time, fragte den Großvater, ob er schon den Film mit Newman und Redford gesehen habe, dessen Ruf bis Bogotá vorgedrungen sei (der Film würde noch etwas auf sich warten lassen). Dann erkundigte sie sich, plötzlich ernst, nach den Verbrechen in Beverly Hills. »Hier sprechen alle darüber, man kann sich nicht zum Mittagessen setzen, ohne dass das Thema aufkommt. Die Fotos sind entsetzlich. Sharon Tate war schwanger, wie kann jemand bloß so etwas tun. Die Welt, in der wir leben, macht einem Angst. Du hast noch entsetzlichere Dinge gesehen, Großvater. Bitte, sag mir, dass die Welt schon immer so war.« Dann wechselte sie das Thema. »Ich glaube, ich habe Euch schon von den Slums am Stadtrand erzählt«, schrieb sie. Sie erklärte, dass jede Klasse im CEUCA in Gruppen unterteilt war, jede Gruppe ein Viertel zugewiesen bekam und die anderen drei aus ihrer Gruppe aus Kalifornien stammten: alles Männer, die hervorragend Mauern hochziehen und mit den Führern der örtlichen Behörden verhandeln konnten (erklärte Elaine) und ebenso hervorragend im Stadtzentrum Marihuana aus Guajira oder Santa Marta beschafften, in Spitzenqualität zum Spitzenpreis (das erklärte sie nicht). Mit ihnen ging sie also einmal die Woche in die Berge rund um Bogotá, über schlammige Straßen, wo man nicht selten auf eine tote Ratte trat, zwischen Häusern aus Pappe und vermodertem Holz, neben Klärgruben, die allen Blicken (und Nasen) offen standen. »Es gibt viel zu tun«, schrieb Elaine. »Aber ich will Euch nicht weiter von der Arbeit erzählen, das spare ich mir für einen anderen Brief auf. Ich will Euch von einem glücklichen Zufall erzählen.«
Folgendes war geschehen: Eines Nachmittags, nach einer langen Sitzung mit dem Ausschuss des Viertels – man sprach über das verseuchte Wasser, der Bau eines Aquädukts war dringend notwendig, man kam überein, dass kein Geld dafür vorhanden war –, ging Elaines Gruppe am Ende ein Bier in einem fensterlosen Lokal trinken. Zwei Runden waren fällig (die braunen Glasflaschen drängten sich auf dem kleinen Tisch), bis Dale Cartwright die Stimme senkte und Elaine fragte, ob sie für ein paar Tage ein Geheimnis hüten könne. »Weißt du, wer Antonia Drubinski ist?«, fragte er. Wie alle wusste Elaine, wer Antonia Drubinski war, nicht nur, weil sie die Erfahrenste unter den Freiwilligen war, auch nicht, weil man sie bei öffentlichen Ausschreitungen zweimal verhaftet hatte – wobei man Ausschreitungen mit Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und öffentlich mit vor der Botschaft der Vereinigten Staaten übersetzen musste –, sondern weil Antonia Drubinskis Aufenthaltsort seit einigen Tagen unbekannt war.
»Von wegen unbekannt«, sagte Dale Cartwright. »Man weiß, wo sie ist, es soll bloß nicht in die Presse kommen.«
»Wer will das nicht?«
»Die Botschaft. Das CEUCA.«
»Weshalb? Wo ist sie?«
Dale Cartwright blickte sich um und senkte den Kopf.
»Sie ist in den Bergen«, sagte er fast flüsternd. »Will anscheinend Revolution machen. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ihr Zimmer frei wird.«
»Das Zimmer?«, fragte Elaine. »Dieses Zimmer?«
»Dieses Zimmer, ja. Auf das die ganze Klasse neidisch ist. Ich dachte, vielleicht hättest du es gern. Du weißt schon, zehn Minuten vom CEUCA entfernt, Warmwasserdusche.«
Elaine überlegte.
»Ich bin nicht hier, um es bequem zu haben«, sagte sie schließlich.
»Warmwasserdusche«, wiederholte Dale. »Dir nicht wie ein Quarterback den Weg aus dem Bus bahnen.«
»Aber da ist doch die Familie«, sagte Elaine.
»Was ist mit der Familie?«
»Sie bekommen siebenhundertfünfzig Pesos für meine Unterbringung«, sagte Elaine. »Das ist ein Drittel ihrer Einkünfte.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Ich will sie nicht um ihr Geld bringen.«
»Sag mal, für wen hältst du dich, Elaine Fritts«, sage Dale mit theatralischem Seufzer. »Du hältst dich wohl für einzigartig und unersetzlich, nicht zu fassen. Liebe Elaine, allein heute sind fünfzehn neue Freiwillige in Bogotá eingetroffen. Samstag kommt noch ein Flug aus New York. Im ganzen Land gibt es Hunderte, Tausende vielleicht, Amis wie du und ich, und viele werden in Bogotá arbeiten. Glaub mir, dein Zimmer wird wieder besetzt sein, bevor du deinen Koffer gepackt hast.«
Elaine nahm einen Schluck Bier. Später, nach all den folgenden Ereignissen, sollte sie sich an dieses Bier erinnern, an die düstere Atmosphäre im Lokal, das Abendlicht, das in den Spiegeln der Aluminiumtheke allmählich erstarb. Dort hat alles begonnen, dachte sie dann. Doch in dem Moment war da nur dieses einfache Angebot von Dale Cartwright, sie überschlug es schnell im Kopf, lächelte.
»Und woher weißt du, dass ich mich wie ein Quarterback bewege?«, fragte sie schließlich.
»Beim Peace Corps kommt alles ans Licht, meine Liebe«, sagte er. »Alles.«
So legte Elaine Fritts drei Tage später zum letzten Mal die Strecke von der Pferderennbahn zurück, diesmal jedoch mit Koffern. Sie hätte sich gefreut, wenn die Familie eine Spur Bedauern gezeigt hätte, das konnte sie nicht abstreiten, eine herzliche Umarmung hätte ihr gefallen, vielleicht ein Abschiedsgeschenk, wie sie es ihnen gemacht hatte, eine Spieldose, die beim Öffnen Scott Joplins Entertainer ausspuckte. Nichts dergleichen. Sie verlangten den Schlüssel und begleiteten sie zur Tür, eher aus Misstrauen denn aus Höflichkeit. Der Vater war schnell fort, so dass nur die Mutter, eine Frau, deren Gestalt die ganze Türöffnung einnahm, sie die Treppe hinuntergehen und auf die Straße treten sah und ihr in keinem Moment anbot, mit den Koffern zu helfen. In dem Augenblick erschien der kleine Junge (ein Einzelkind, das Hemd lose über der Hose, in einer Hand einen blauroten Holzlaster) und fragte etwas, was sie nicht verstand. Als Letztes hörte Elaine, bevor sie sich umdrehte, die Antwort ihrer Gastgeberin: »Sie geht fort, Liebling, geht in so ein reiches Haus. Undankbare Yankee.«
So ein reiches Haus. Das stimmte nicht, denn die Reichen nahmen keine Freiwilligen des Peace Corps auf, doch damals hatte Elaine noch keine Argumente, um sich auf eine Diskussion über die wirtschaftliche Situation ihrer zweiten Familie einzulassen. Zugegeben, ihre neue Unterkunft bot einen Luxus, der Elaine vor ein paar Wochen noch unvorstellbar vorgekommen wäre. Es war ein geräumiges Haus in der Avenida Caracas mit schmaler Fassade, dafür jedoch tief, mit einem kleinen Garten am Ende samt Obstbaum in einer Ecke neben einer Mauer mit kleinem Dach. Die Fassade war weiß, die Holzfenster grün gestrichen, und am Eingang musste man ein Eisentor öffnen, das den Vorgarten vom Gehweg trennte und wie ein Tier quiekte, wenn jemand hineinging. Die Haustür führte in einen dunklen, aber freundlichen Flur. Links vom Flur befand sich die doppelte Glastür zum Wohnzimmer und weiter hinten die zum Esszimmer, dann umrundete der Flur den engen Innenhof, wo in Ampeln Geranien hingen; rechts ging gleich hinter der Haustür eine Treppe hinauf. Elaine musste nur einen Blick auf die Holzstufen werfen und begriff alles. Der rote Läufer war einmal vornehm gewesen, doch nun verschlissen (auf manchen Stufen traten die grauen Fasern des Unterstoffs hervor), die Messingstangen, die ihn an die Stufen klemmten, hatten sich aus den Ringen gelöst oder die Ringe vielmehr vom Holzboden, und wenn man hastig hinauflief, spürte man manchmal ein kurzes Rutschen und das Klirren des losen Metalls. Die Treppe war für Elaine Zeichen oder Zeuge dessen, was die Familie einmal gewesen war und nicht mehr sein konnte. »Eine gute Familie, die auf den Hund gekommen ist«, hatte der Botschaftsbeamte gesagt, als Elaine den Papierkram für den Umzug erledigte. Auf den Hund gekommen: Elaine dachte viel über diesen Ausdruck nach, versuchte, ihn wörtlich ins Englische zu übersetzen und scheiterte. Doch sie musste sich nur den Teppichläufer ansehen und begriff es rein intuitiv, ohne es in zusammenhängende Sätze fassen, ohne eine wissenschaftliche Diagnose fällen zu können. Mit der Zeit sollte sich alles von selbst erklären, denn Elaine hatte im Leben schon ähnliche Fälle gesehen: Familien mit guter Vergangenheit, die eines Tages merkten, dass die Vergangenheit kein Geld bringt.
Die Familie nannte sich Laverde. Die Mutter war eine Frau mit gezupften Brauen und traurigen Augen, deren üppiges rotes Haar – exotisch in diesem Land oder das Ergebnis von Färbemitteln – ewig in einer perfekten Frisur erstarrt war, die nach frisch gesprühtem Haarspray roch. Doña Gloria war eine Hausfrau ohne Schürze. Elaine sah niemals einen Staubwedel in ihrer Hand, und doch war auf den Toilettentischen, den Nachtschränkchen, den Porzellanaschenbechern keine Spur von dem gelben Staub, den man einatmete, sobald man auf die Straße trat. Alles wurde mit der Besessenheit derer gepflegt, deren Leben vom Erscheinungsbild abhängt. Don Julio, der Vater, trug eine Narbe im Gesicht, keine gerade, schmale Linie wie bei einem Schnitt, sondern breit und asymmetrisch (Elaine dachte irrtümlicherweise an eine Hautkrankheit). In Wirklichkeit bedeckte sie nicht nur die Wange, sie erstreckte sich bis unters Kinn, war wie ein Klecks, der den Kiefer hinunterlief und sich über den Hals ergoss, man konnte kaum den Blick davon wenden. Don Julio war von Beruf Versicherungskaufmann, und eines seiner ersten Tischgespräche mit dem Gast, unter dem bläulichen Licht des Kronleuchters, drehte sich um Versicherungen, Wahrscheinlichkeiten und Statistiken.
»Woher weiß man, was jemand für eine Lebensversicherung bezahlen soll?«, fragte der Vater. »Das interessiert die Versicherungsgesellschaften natürlich, es ist nicht gerecht, dass ein gesunder Dreißigjähriger das Gleiche bezahlt wie ein alter Mann nach zwei Herzinfarkten. Da komme ich ins Spiel, Señorita Fritts. Ich werfe einen Blick in die Zukunft. Ich bin derjenige, der sagt, wann der eine oder der andere sterben wird oder mit welcher Wahrscheinlichkeit der und der Wagen auf der und der Straße verunglückt. Meine Arbeit ist die Zukunft, Señorita Fritts, ich bin der Mann, der weiß, was geschehen wird. Es ist eine Frage der Zahlen: Die Zukunft steckt in den Zahlen. Die Zahlen erzählen alles. Sie erzählen mir zum Beispiel, ob vorgesehen ist, dass ich noch vor fünfzig sterbe. Und Sie, Señorita Fritts, wissen Sie, wann Sie sterben werden? Ich kann es Ihnen sagen. Wenn Sie mir Zeit, Stift, Papier und eine gewisse Fehlerspanne geben, kann ich Ihnen sagen, wann Sie aller Wahrscheinlichkeit nach sterben werden und wie. Unsere Gesellschaft ist allzu besessen von der Vergangenheit. Aber Sie, die Yankees, interessiert die Vergangenheit nicht, Sie schauen nach vorn, Sie interessiert nur die Zukunft. Sie haben es besser verstanden als wir, besser als die Europäer: Den Blick muss man in die Zukunft richten. Nun, das tue ich, Señorita Fritts, ich verdiene mir den Unterhalt damit, dass ich den Blick in die Zukunft richte, ich ernähre meine Familie, indem ich den anderen sage, was passieren wird. Natürlich sind diese anderen heute noch die Versicherungsgesellschaften, aber morgen wird es mehr Menschen geben, die sich für dieses Talent interessieren, das Gegenteil ist undenkbar. In den Vereinigten Staaten hat man das besser verstanden als anderswo. Darum sind sie allen voraus, Señorita Fritts, und darum hinken wir hinterher. Sagen Sie, wenn ich mich irre.«
Elaine sagte nichts. Von der anderen Seite des Tischs musterte sie der jüngste Sohn der Familie mit schiefem, spöttischem Lächeln und langen, dichten Brauen, die seinen schwarzen Augen einen femininen Anstrich gaben. So hatte er sie von Anfang an betrachtet, mit einer Unverfrorenheit, die ihr aus irgendeinem Grund schmeichelte. Niemand hatte sie in Kolumbien bisher so angesehen. Monate war Elaine schon im Land und hatte nur mit Nordamerikanern geschlafen, hatte nur englische Orgasmen gehört.
»Ricardo glaubt nicht an die Zukunft«, sagte Don Julio.
»Natürlich glaube ich daran«, sagte der Sohn. »Aber meine Zukunft wird nicht verpfändet.«
»Fangt nicht wieder damit an«, sagte Doña Gloria mit einem Lächeln. »Was soll denn unser Gast denken, wo sie gerade erst angekommen ist.«
Ricardo Laverde: zu viele r für Elaines schwerfälligen Akzent. »Na los, Elena, sagen Sie meinen Namen«, hatte ihr Ricardo befohlen, als er ihr das Badezimmer zeigte, das sie benutzen sollte, und das Zimmer, in dem sie wohnen würde, das pastellfarbene Nachtschränkchen, die Kommode mit den drei Schubladen, das Bett mit Baldachin, alles von der älteren Schwester, die geheiratet hatte (es gab ein Atelierfoto von ihr als kleinem Mädchen: der gerade Mittelscheitel, der in der Ferne verlorene Blick, die verschnörkelte Unterschrift des Fotografen). Das Gästezimmer: Scharen von Yankees hatten hier Station gemacht. »Sagen Sie dreimal meinen Namen, und ich gebe Ihnen noch eine Decke«, sagte dieser Ricardo Laverde. Es war ein Spiel, aber kein freundliches. Voll Unbehagen ließ sich Elaine darauf ein.
»Ricardo«, sagte sie, und ihre Zunge verhedderte sich. »Laverde.«
»Schlecht, ganz schlecht«, sagte Ricardo. »Aber macht nichts, Elena, Ihr Mund sieht hübsch dabei aus.«
»Ich heiße nicht Elena«, sagte Elaine.
»Ich verstehe Sie nicht, Elena«, sagte er. »Sie werden üben müssen. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen dabei.«
Ricardo war zwei Jahre jünger als sie, benahm sich aber, als hätte er ihr alle Erfahrung der Welt voraus. Anfangs begegneten sie einander abends, wenn Elaine vom Unterricht im CEUCA kam, wechselten ein paar Sätze im kleinen Wohnzimmer im zweiten Stock, unter dem Käfig des Kanarienvogels Paco: Wie geht’s, wie war’s, was haben Sie heute gelernt, sagen Sie dreimal meinen Namen, ohne sich zu verhaspeln. »Die Leute in Bogotá sind Meister im Reden, ohne etwas zu sagen«, schrieb Elaine ihren Großeltern. »I’m drowning in small talk.« Aber eines Nachmittags trafen sie sich mitten auf der Carrera Séptima und hielten es für einen bemerkenswerten Zufall, dass sie beide den Vormittag über vor der Botschaft der Vereinigten Staaten Parolen gerufen, Nixon einen Verbrecher genannt und im Chor gesungen hatten: End it Now, End it Now, End it Now! Sehr viel später erfuhr Elaine, dass die Begegnung alles andere als zufällig gewesen war. Ricardo Laverde hatte vor dem CEUCA-Institut auf sie gewartet und war ihr stundenlang gefolgt, hatte ihr aus der Distanz nachspioniert, sich in der Menge versteckt, hinter Spruchbändern mit Aufschriften wie Calley = Murderer und Proud to be a Draft Dodger und Why are We There, Anyway?, hatte ein paar Meter hinter Elaine die Sprechchöre über sich ergehen lassen, all das, während er sich mehrere Versionen zurechtlegte, mehrere Tonfälle für die Worte, die er ihr schließlich sagte: »Na, ist das nicht ein komischer Zufall? Kommen Sie, wir trinken etwas, ich lade Sie ein, dann können Sie sich nach Herzenslust über meine Eltern beschweren.«
Außerhalb des Laverde-Hauses, fern vom ordentlich aufgereihten Porzellan und dem Blick eines in Öl gemalten Offiziers, fern vom nervtötenden Pfeifen des Kanarienvogels, änderte sich die Beziehung zum Sohn ihrer Gastgeber oder begann von neuem. Mit einer heißen Schokolade in der Hand erzählte ihm Elaine so einiges und hörte sich an, was Ricardo ihr zu erzählen hatte. So erfuhr sie, dass Ricardo sein Abitur auf einer Jesuitenschule gemacht und begonnen hatte, Betriebswirtschaft zu studieren – Wunsch oder Auflage seines Vaters –, das Studium jedoch vor ein paar Monaten aufgegeben hatte, um sich dem Einzigen zu widmen, was ihn wirklich interessierte: Flugzeuge zu fliegen. »Papa gefällt das natürlich gar nicht«, sollte ihr Ricardo viel später sagen, als die Zeit reif für solche Bekenntnisse war. »Von Anfang an war er dagegen. Aber ich zähle auf meinen Großvater, der ist auf meiner Seite. Vater kann da gar nichts tun. Gegen einen Kriegshelden kommt man schwer an. Auch wenn es nur ein Minikrieg war, ein Amateurkrieg, verglichen mit dem, der vorher und nachher die Welt heimgesucht hat, es war ein Krieg der Zwischenkriegszeit. Aber Krieg ist Krieg, und alle Kriege haben ihre Helden, nicht wahr? Der Wert des Schauspielers bemisst sich nicht nach der Größe des Theaters, sagt mein Großvater. Das war natürlich ein Glück für mich. Was das Fliegen angeht, konnte ich immer auf die Unterstützung meines Großvaters zählen. Als ich mich für Flugstunden zu interessieren begann, hat mich mein Großvater als Einziger nicht für verrückt, unreif und übergeschnappt erklärt. Er hat mich ganz offen unterstützt, hat meinem Vater die Stirn geboten, und einem Kriegshelden der Luftwaffe schlägt man schwerlich etwas ab. Mein Vater hat es versucht, das weiß ich noch genau, aber ohne Erfolg. Zwei Jahre ist das her, aber ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Da saßen sie, mein Großvater, wo Sie jetzt sitzen, unter dem Käfig, und mein Vater, wo ich jetzt sitze. Großvater fuhr Vater mit der Hand über die Narbe im Gesicht und sagte, er solle mir nicht die eigenen Ängste aufbürden. Erst viel später begriff ich die Grausamkeit dieser Geste. Ein gealterter, müder Mann, der nicht so wirkt, tätschelt einem jungen, starken Mann, der nicht so wirkt, die Wange. Aber das war es nicht allein, versteht sich, es war die Narbe, die Tatsache, dass er die Narbe tätschelte … Sie werden sagen, meinem Vater kann man schwer die Wange tätscheln, ohne die Narbe zu berühren, ja, mag sein, denn mein Großvater war Rechtshänder, und ein Rechtshänder tätschelt die linke Wange, die versehrte Wange meines Vaters.«
Das Gespräch über den Grund der versehrten Wange würde erst viel später folgen, als sie bereits ein Liebespaar waren, nicht mehr nur neugierig auf den Körper, sondern auf das Leben des anderen. Der Sex kam nicht überraschend für sie, er war wie ein Möbelstück, das die ganze Zeit über dagestanden hatte, ohne dass es einem aufgefallen war. Jeden Abend nach dem Essen unterhielten sich Gastgeber und Gast eine Weile, dann sagten sie gute Nacht, stiegen gemeinsam die Treppe hinauf, und im zweiten Stock ging Elaine auf dem Flur weiter, trat ins Bad, schob den Riegel vor und kam ein paar Minuten später in einem weißen Nachthemd heraus, das Haar zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. An einem verregneten Freitag – die Tropfen platzten aufs Vordach und erstickten die Geräusche – kam Elaine wie immer aus dem Bad, sah vor sich aber nicht den dunklen Flur und den Widerschein der Straßenlaternen, der über die Dachluken aus dem Innenhof hereinfiel, sondern die Umrisse von Ricardo Laverde, der am Treppengeländer lehnte. Im Gegenlicht war sein Gesicht kaum zu sehen, doch aus seiner Haltung, seinem Tonfall las Elaine die Lust.
»Gehen Sie schlafen?«, fragte Ricardo.
»Noch nicht«, sagte sie. »Kommen Sie herein und erzählen Sie mir von Flugzeugen.«
Es war kalt, die Bettlatten ächzten bei jeder Bewegung, dazu war es das Bett eines jungen Mädchens, zu eng und kurz für derlei Spiele, so dass Elaine mit einem Ruck die Überdecke herunterriss und auf dem Teppich ausbreitete, neben ihren Plüschpantoffeln. Auf der wollenen Decke, halb tot vor Kälte, hatten sie ohne Umschweife ihre erste schnelle Begegnung. Elaine hatte das Gefühl, dass ihre Brüste in Ricardo Laverdes Händen kleiner wurden, sprach es aber nicht aus. Sie zog ihr Nachthemd wieder an, um ins Bad zu gehen, und auf der Toilette dachte sie, dass Ricardo genug Zeit haben würde, in sein Zimmer zurückzukehren. Sie dachte auch, dass sie gerne mit ihm geschlafen hatte, es bei nächster Gelegenheit wieder tun würde und dass in den Statuten des Peace Corps derlei gewiss verboten war. Sie wusch sich im Bidet, betrachtete sich im Spiegel und lächelte, löschte vor dem Hinausgehen das Licht im Bad, und als sie im Dunkeln ganz langsam, um nicht zu stolpern, ihr Zimmer wieder erreichte, sah sie, dass Ricardo nicht gegangen war, sondern das Bett gemacht hatte und sie darin erwartete, auf der Seite liegend, den Kopf in die Hand gestützt wie ein Liebhaber aus irgendeiner Hollywood-Schmonzette.
»Ich will allein schlafen«, sagte Elaine.
»Ich will nicht schlafen, ich will reden«, sagte er.
»Okay. Worüber reden wir?«
»Worüber Sie wollen, Elena Fritts. Sie wählen das Thema, ich folge.«
Sie sprachen über alles, nur nicht über sich. Beide waren nackt, Ricardo ließ seine Hand über Elaines Bauch wandern, seine Finger kämmten ihr glattes Schamhaar, sie sprachen über Absichten und Pläne, überzeugt, wie es nur frische Liebende sein können, dass man bloß seine Sehnsüchte erklären muss und damit erklärt, wer man ist. Elaine sprach von ihrer Mission in der Welt, von der Jugend als Waffe des Fortschritts, von der Pflicht, gegen die Mächte dieser Erde aufzubegehren. Und sie stellte Ricardo Fragen: Ob er gern Kolumbianer sei? Ob er lieber anderswo auf der Welt leben würde? Ob er die Vereinigten Staaten ebenfalls hasse? Ob er den New Journalism kenne? Aber in den nächsten zwei Wochen mussten sie noch siebenmal vögeln, bis Elaine es wagte, die Frage zu stellen, die sie vom ersten Tag an beschäftigt hatte: »Was ist Ihrem Vater im Gesicht passiert?« »Wie vorsichtig die Señorita ist«, sagte Ricardo. »Noch nie hat jemand so lange mit dieser Frage gewartet.« Sie fuhren gerade mit der Seilbahn hinauf zum Monserrate. Ricardo hatte sie vor dem CEUCA erwartet und gesagt, nun sei es Zeit fürs Besichtigen, man könne nicht nur zum Arbeiten nach Kolumbien kommen, jetzt sei Schluss mit dem protestantischen Arbeitsethos, Himmel noch mal. Und jetzt klammerte sich Elaine an Ricardo (drückte den Kopf an seine Brust, umklammerte die Flicken an seinen Ellbogen), wenn eine Windböe die Gondel am Seil schüttelte und die Touristen einstimmig aufschrien. An diesem Nachmittag, ob sie über dem Abgrund schwebten, auf der Kirchenbank saßen, durch die Gärten der Kapelle spazierten oder sich Bogotá aus dreitausend Metern Höhe ansahen, hörte Elaine die Geschichte einer Flugschau im fernen Jahr 1938, hörte von Piloten und Kunstflügen, von einem Unfall und den über fünfzig Toten, die der Unfall verursacht hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erwartete sie ein Päckchen neben dem aufgetragenen Frühstück. Elaine riss das Geschenkpapier auf und fand darin eine spanischsprachige Zeitschrift mit einem ledernen Lesezeichen zwischen den Seiten. Sie hielt erst das Lesezeichen für das Geschenk, schlug jedoch die Zeitschrift auf und sah den Namen ihrer Gastgeber sowie eine Notiz von Ricardo: »Damit Sie verstehen.«
Elaine machte sich ans Verstehen. Sie stellte Fragen, und Ricardo beantwortete sie. Das verbrannte Gesicht seines Vaters, erklärte Ricardo im Verlauf mehrerer Gespräche, diese Landkarte aus Haut, dunkel, faltig und rau wie das Ödland von Villa de Leyva, war eine Landschaft, die ihn sein ganzes Leben lang umgeben hatte. Aber nicht einmal als Kind, wenn man nach allem fragt und nichts für selbstverständlich nimmt, hatte Laverde sich für die Hintergründe dieser Narbe interessiert, für den Unterschied zwischen dem Gesicht seines Vaters und dem der anderen. Obwohl es auch möglich war (sagte Laverde), dass ihm seine Familie keine Zeit gelassen hatte, diese Neugier zu entwickeln, denn die Geschichte vom Unfall bei Santa Ana schwebte seit damals über ihnen, ohne sich je zu verflüchtigen, und wurde bei den verschiedensten Anlässen und von den verschiedensten Erzählern vorgetragen. Laverde erinnerte sich an Versionen bei Weihnachtsnovenen, an freitägliche Teestubenversionen und sonntägliche Stadionversionen, an abendliche Zubettgehversionen und morgendliche Schulwegversionen. Über den Unfall wurde sehr wohl geredet, in jedem erdenklichen Tonfall, mit jeder erdenklichen Absicht, um zu zeigen, dass Flugzeuge gefährlich und unberechenbar sind wie tollwütige Hunde (nach Worten des Vaters) oder dass sie wie griechische Götter sind, einen jeden in seine Schranken verweisen und nicht den Hochmut der Menschen dulden (nach Worten des Großvaters). Viele Jahre später sollte auch Ricardo Laverde von dem Unfall erzählen, ihn ausschmücken oder verfälschen, bis er merkte, dass das gar nicht nötig war. In der Schule zu erzählen, warum das Gesicht seines Vaters verbrannt war, erwies sich als der beste Weg, die anderen neugierig zu machen. »Ich hatte es schon mit den Kriegstaten meines Großvaters versucht«, sagte Laverde. »Dann merkte ich, dass die anderen keine Heldengeschichten hören wollen, sondern lieber von fremdem Unglück.« Nie würde er die Gesichter seiner Klassenkameraden vergessen, als er ihnen vom Santa-Ana-Unfall erzählte und ihnen dann Fotos von seinem Vater zeigte, von seinem verbrannten Gesicht, damit sie sahen, dass er nicht log.
»Jetzt bin ich mir sicher«, sagte Laverde. »Wenn ich jetzt unbedingt Pilot werden will und mich nichts auf der Welt mehr interessiert, dann ist Santa Ana daran schuld. Und sollte ich einmal abstürzen, wird auch Santa Ana daran schuld sein.«
Schuld war diese Geschichte, sagte Laverde. Sie war schuld daran, dass er die ersten Einladungen des Großvaters annahm. Sie war schuld daran, dass er zur Startbahn des Aeroclub de Guaymaral ging, um mit dem Helden und Veteranen mitzufliegen und sich lebendig zu fühlen, lebendiger denn je. Er strich zwischen den kanadischen Sabres umher und erreichte, dass er sich in die Kabine setzen durfte (sein Nachname öffnete ihm alle Türen), erreichte ebenso (wieder der Nachname), dass ihm die besten Fluglehrer des Aeroclubs mehr Stunden Unterricht gaben, als er bezahlt hatte. An all dem war die Geschichte von Santa Ana schuld. Niemals mehr sollte er so unmittelbar spüren, was es heißt, ein Thronfolger zu sein, ein Quäntchen geerbte Macht zu besitzen. »Ich habe die Chance genutzt, Elena, das schwöre ich Ihnen. Ich habe tüchtig gelernt, war ein guter Schüler.« Sein Großvater hatte immer wieder betont, dass es ihm im Blut steckte. Auch seine Lehrer waren Veteranen, vor allem aus dem Krieg mit Peru, aber der eine oder andere war ebenso in Korea geflogen und von den Amis dekoriert worden, wie er zumindest behauptete. Und alle waren der Ansicht, dass der Junge begnadet war, dass er eine seltene Intuition und ein goldenes Händchen besaß und, was am wichtigsten war, dass die Flugzeuge ihm gehorchten. Flugzeuge irren sich nie.
»So ging es bis heute«, sagte Laverde. »Mein Vater dreht durch, aber ich bin jetzt Herr meines Lebens, mit hundert Flugstunden ist man Herr seines Lebens. Er verbringt seine Tage damit, die Zukunft zu erraten, aber es ist die Zukunft anderer, Elena, mein Vater weiß nicht, was die meine bringen wird, das können ihm weder seine Formeln noch seine Statistiken sagen. Ich habe viel Zeit gebraucht, um es herauszubekommen, und erst in den letzten Tagen habe ich die Verbindung zwischen meinem Leben und Vaters Gesicht verstanden, zwischen dem Santa-Ana-Unfall und dem, der hier vor Ihnen steht, der Großes im Leben erreichen wird, der Enkel eines Helden. Ich werde dieses mittelmäßige Leben hinter mir lassen, Elena Fritts. Ich habe keine Angst und werde den Namen Laverde für die Luftfahrt zurückerobern. Ich werde Hauptmann Abadía übertreffen, und meine Familie wird stolz auf mich sein. Ich werde dieses mittelmäßige Leben, dieses Haus hinter mir lassen, in dem es schon eine Tragödie ist, wenn uns eine Familie zum Essen einlädt, weil wir sie dann ebenfalls einladen müssen. Ich werde keine Münzen mehr zählen, wie meine Mutter es jeden Morgen tut, werde keine Yankees beherbergen, damit meine Familie zu essen hat, Verzeihung, wenn Sie das kränkt, es ist nicht böse gemeint. So ist es nun mal, Elena Fritts, ich bin der Enkel eines Helden, ich bin für anderes bestimmt. Für Großes, ganz genau, das sage und dabei bleibe ich. Ob es den anderen gefällt oder nicht.«
Hinunter fuhren sie ebenfalls mit der Seilbahn, wie beim Aufstieg. Es wurde Abend, der Himmel über Bogotá hatte sich in einen gewaltigen violetten Schleier verwandelt. Die Pilger unter ihnen, die zu Fuß hinaufgegangen waren und zu Fuß wieder hinuntergingen, wie bunte Reißnägel auf der Steintreppe. »Wie seltsam ist das Licht in dieser Stadt«, sagte Elaine Fritts. »Man schließt eine Sekunde die Augen, und schon ist es Nacht.« Eine Böe erschütterte die Gondel, doch diesmal schrien die Touristen nicht. Es war kalt. Der Wind wisperte bei seinem Weg durch die Kabine. Elaine hielt Ricardo Laverde umschlungen, lehnte an der Stange vor dem Fenster und sah sich plötzlich im Dunkeln. Die Köpfe der Passagiere hoben sich schwarz auf schwarz vor dem Himmel ab. Ricardos Atem erreichte sie in Wellen, ein Geruch nach Tabak und frischem Wasser, und dort über den Westhängen, während die Stadt vor ihren Augen die nächtlichen Lichter entzündete, wünschte Elaine, die Gondel würde niemals unten ankommen. Sie dachte, vielleicht zum ersten Mal, dass jemand wie sie in einem Land wie diesem leben konnte. In mehr als einer Hinsicht stand dieses Land, dachte sie, noch am Anfang, entdeckte gerade erst seinen Platz in der Welt, und sie wollte Teil dieser Entdeckungsreise sein.
Der stellvertretende Direktor des Peace Corps in Kolumbien war ein schlanker, kühler kleiner Mann mit Kissinger-Hornbrille und Strickkrawatte. Er empfing Elaine in Hemdsärmeln, nicht weiter bemerkenswert, wäre das Hemd nicht kurzärmelig gewesen, als befände er sich in der drückenden Hitze Barranquillas oder Girardots, anstatt sich in diesem öden Hochland zu Tode zu frieren. Er tat so viel Brillantine ins schwarze Haar, dass seine Schläfen im Licht der Neonröhren vorzeitig ergraut wirkten und sich der Haaransatz am soldatisch geraden Scheitel weiß färbte. Es ließ sich nicht feststellen, ob er Nordamerikaner oder Einheimischer war oder ein Nordamerikaner, der von Einheimischen abstammte, oder ein Einheimischer, der von Nordamerikanern abstammte, es gab keine Hinweise, keine Poster an den Wänden, keine Musik, keine Bücher im Regal, die Mutmaßungen über sein Leben, seine Herkunft zugelassen hätten. Er sprach perfekt Englisch, doch sein Nachname – der lange Nachname, der Elaine vom Schreibtisch aus anstarrte, in eine Fahne geprägt, die aus massiver Bronze zu sein schien – war lateinamerikanischer oder zumindest spanischer Herkunft, Elaine wusste nicht, ob es da Unterschiede gab. Es war ein Routinegespräch. Jeder Freiwillige des Peace Corps war einmal in dieses dunkle Büro gekommen, hatte auf diesem unbequemen Stuhl gesessen, auf dem Elaine jetzt den langen aquamarinfarbenen Rock unter ihrem Po glatt zog. Hier, vor dem schlanken, kühlen Mr. Valenzuela, saßen früher oder später alle Ausgebildeten des CEUCA-Instituts und hörten einen kleinen Vortrag darüber, dass nun das Ende der Ausbildung in Sicht sei und die Freiwilligen bald an den Ort ihrer Mission reisen würden. Vorträge über Entsagung und Verantwortung und die Gelegenheit, etwas zu bewirken. Es fiel der Ausdruck permanent site placement, und dann kam die immer gleiche Frage: »Haben Sie Vorlieben?« Die Freiwilligen nahmen jüngst erlernte Namen unbekannten Inhalts in den Mund: Bolívar, Valledupar, Magdalena, Guajira. Oder Quindío (das sie Kwindio aussprachen). Oder Cauca (das sie wie Coca aussprachen). Dann schickte man sie an einen Ort in der Nähe ihrer endgültigen Bestimmung, eine Art Zwischenhalt, wo sie drei Monate zusammen mit einem erfahrenen Freiwilligen arbeiteten. Field training nannte man das. Alles entschied sich in der halben Stunde dieses Gesprächs.
»Gut, what’s it gonna be?«, fragte Valenzuela. »Cartagena geht nicht, auch Santa Marta nicht. Die sind voll. Alle Welt will dorthin, das ist an der Karibikküste.«
»Ich will keine Städte«, sagte Elaine Fritts.
»Nein?«
»Ich glaube, auf dem Land kann ich mehr lernen. Der Geist eines Volkes steckt in den Menschen auf dem Land.«
»Der Geist«, sagte Valenzuela.
»Und dort kann man besser helfen«, sagte Elaine.
»Gut, das auch. Mal sehen, in der kalten oder heißen Gegend?«
»Wo ich am besten helfen kann.«
»Hilfe wird überall benötigt, Señorita. Dieses Land ist noch nicht fertig gebacken. Überlegen Sie auch, was Sie können, was Sie beherrschen.«
»Was ich kann?«
»Natürlich. Sie werden keine Kartoffeln anbauen, wenn Sie noch nicht mal ein Bild von einer Hacke gesehen haben.« Valenzuela öffnete eine braune Mappe, die die ganze Zeit unter seiner Hand gelegen hatte, blätterte um, blickte auf. »George Washington University. Journalismusstudentin, nicht wahr?«
Elaine nickte. »Aber ich habe schon eine Hacke gesehen«, sagte sie. »Und ich lerne schnell.«
Valenzuela zog eine ungeduldige Grimasse.
»Sie haben drei Wochen«, sagte er. »Sie lernen, oder Sie werden allen zur Last fallen und sich lächerlich machen.«
»Ich werde niemandem zur Last fallen«, sagte Elaine. »Ich …«
Valenzuela kramte in seinen Papieren, zog eine neue Mappe hervor. »Hören Sie, in drei Tagen treffe ich mich mit den Regionalleitern. Dann werde ich wissen, wer was benötigt und wo Sie Ihr field training machen können. Mit Sicherheit weiß ich jedoch, dass es einen Platz in der Nähe von La Dorada gibt, sagt Ihnen das etwas? Das Flusstal des Magdalena, Señorita Fritts. Es ist ein Stück weit weg, aber man ist nicht aus der Welt. An dem Ort ist es nicht ganz so heiß wie in La Dorada, denn er liegt etwas höher in den Bergen. Man nimmt den Zug in Bogotá, er ist leicht zu erreichen, während die Busse hier, wie Sie gemerkt haben werden, eine Gefahr für die Allgemeinheit sind. Es ist ein guter Platz, der wenig verlangt wird. Reiten sollte man können. Und einen kräftigen Magen haben. Man muss dort viel mit den Nachbarschaftskomitees zusammenarbeiten, Gemeindeentwicklung, Sie wissen ja, Alphabetisierung, Ernährung, derlei Dinge. Es sind nur drei Wochen. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie noch einen Rückzieher machen.«
Elaine dachte an Ricardo Laverde. Auf einmal hielt sie es für einen guten Einfall, Ricardo ein paar Zugstunden entfernt zu wissen. Sie sprach im Geist den Namen aus, La Dorada, und übersetzte es sich: The Golden One.
»La Dorada«, sagte Elaine Fritts, »ist mir recht.«
»Erst der andere Ort, dann La Dorada.«
»Ja, der andere auch. Danke.«
»Gut«, sagte Valenzuela. Er öffnete eine Metallschublade und holte ein Papier hervor. »Hier, bevor ich es vergesse. Das müssen Sie ausfüllen und im Sekretariat abgeben.«
Es war ein Fragebogen oder besser der Durchschlag eines Fragebogens. Oben stand mit Schreibmaschine geschrieben in Großbuchstaben nur eine einzige Frage: Worin unterscheidet sich Ihr Zuhause in Bogotá von Ihrem Herkunftsort? Unter der Frage befanden sich mehrere großzügig bemessene Rubriken, die von den Freiwilligen offensichtlich so detailliert wie möglich ausgefüllt werden sollten. Elaine beantwortete den Fragebogen in einem Motel im Viertel Chapinero, bäuchlings auf dem zerwühlten, nach Sex riechenden Bett, als Unterlage das Telefonbuch und ein Laken über ihren Po gezogen, das ihn vor Ricardos Hand schützen sollte, vor deren dreisten Exkursionen und obszönen Erkundungen. Unter der Rubrik Physische Unannehmlichkeiten und Beschwerden, schrieb sie: »Die Männer im Haus klappen beim Pinkeln nie die Klobrille hoch.« Ricardo sagte, sie sei zimperlich und verzogen. Unter Einschränkungen der persönlichen Freiheit schrieb sie: »Nach neun wird innen der Riegel vorgeschoben, und dann muss ich meine Señora wecken.« Ricardo sagte, sie sei eine Nachtschwärmerin. Unter Verständigungsprobleme schrieb sie: »Ich begreife nicht, warum man hier die Kinder siezt.« Ricardo sagte, sie habe noch viel zu lernen. Unter Betragen der Familienmitglieder schrieb sie: »Der Sohn der Familie beißt gern in meine Brustwarzen, wenn er kommt.« Ricardo sagte nichts.
Die ganze Familie begleitete sie zum Zug, zur Estación de la Sabana. Es war ein großes, erhabenes Gebäude mit kannelierten Säulen und einem steinernen Kondor oben auf der Fassade, der die Flügel ausbreitete, als flöge er gleich mit dem Dachgeschoss in den Krallen los. Doña Gloria hatte Elaine einen Strauß weißer Rosen geschenkt, und als sie nun mit dem Koffer in der Hand durch die Bahnhofshalle ging, die Handtasche quer über der Brust, waren ihr die Blumen zu einem verhassten Ärgernis geworden, eine Art Staubwedel, der die Passanten streifte, auf dem Steinboden eine Spur trauriger Blütenblätter hinterließ und dessen Dornen sich jedes Mal in Elaines Hand bohrten, wenn sie versuchte, ihn besser zu packen oder vor der feindlichen Umwelt zu schützen. Der Vater wartete dagegen, bis sie den zentralen Bahnsteig erreicht hatten, um sein Geschenk hervorzuholen, und erklärte ihr dort, inmitten all der Menschen, der sich anbietenden Schuhputzer, der herandrängenden Bettler, dass es das Buch eines Journalisten sei, vor zwei Jahren erschienen, aber immer noch in den Läden, der Autor sei zwar ein grober Kerl, das Buch solle aber nicht übel sein. Elaine riss das Geschenkpapier auf, sah auf dem Umschlag neun blaue Kästchen mit stumpfen Ecken, in den Kästchen Glocken, Sonnen, Jakobinermützen, Blumen, Monde mit Frauengesicht, Totenköpfe vor gekreuzten Knochen, tanzende Teufelchen, und all das kam ihr unsinnig und beliebig vor und der Titel Hundert Jahre Einsamkeit übertrieben und melodramatisch. Don Julio deutete mit seinem langen Fingernagel auf das E des letzten Wortes, das verkehrt herum gedruckt war. »Ich habe es erst nach dem Kauf gemerkt«, entschuldigte er sich. »Wenn Sie wollen, können wir es umtauschen.« Elaine sagte, das spiele keine Rolle, wegen eines dummen Druckfehlers werde sie sich nicht um ihre Zuglektüre bringen. Und einige Tage später schrieb sie in einem Brief an ihre Großeltern: »Schickt mir Lesestoff, bitte, abends langweile ich mich zu Tode. Ich habe hier bloß ein Buch, dass mir mein Señor geschenkt hat, und habe versucht, es zu lesen, das schwöre ich, doch es ist so schwierig auf Spanisch, und alle Personen darin heißen gleich. So etwas Langweiliges habe ich schon lange nicht mehr gelesen, es hat sogar einen Druckfehler im Titel. Kaum zu glauben, vierzehn Auflagen, und sie haben ihn nicht korrigiert. Ihr lest jetzt sicher das letzte Buch von Graham Greene. Wie ungerecht!«
Der Brief ging so weiter:
Jetzt erzähle ich Euch, wo ich gelandet bin und die nächsten beiden Wochen sein werde. In Kolumbien gibt es drei Gebirgsketten: die östliche Kordillere, die zentrale und (ja, Ihr habt es erraten) die westliche. Bogotá liegt auf der ersten, auf einer Höhe von 8500 Fuß. Mein Zug fuhr den Berg hinab bis zum Magdalena-Fluss, dem wichtigsten im Land. Er fließt durch ein schönes Tal, ich glaube, eine hübschere Landschaft habe ich mein Lebtag nicht kennengelernt, wirklich ein Paradies. Auch die Fahrt war beeindruckend. Noch nie habe ich so viele Vögel und Blumen gesehen. Wie ich Onkel Philip beneidet habe! Um seine Kenntnisse, versteht sich, aber auch um seinen Feldstecher. Er hätte seine wahre Freude hier! Richtet ihm schöne Grüße von mir aus.
Also, ich war beim Fluss stehen geblieben. Früher kamen hier Passagierdampfer aus Mississippi an, aus London sogar, so bedeutend war der Fluss. Immer noch sieht man Schiffe, die Huckleberry Finn entsprungen sein könnten, ohne jede Übertreibung. Der Zug brachte mich bis zu einem Dorf mit Namen La Dorada, wo ich auf Dauer stationiert sein werde. Aber das Peace Corps sieht vor, dass wir Freiwilligen drei Wochen lang eine Art site training an einem anderen Ort, in Begleitung eines anderen Freiwilligen machen müssen. Eigentlich soll die Zwischenstation in der Nähe der endgültigen liegen, aber das ist nicht immer so. Und eigentlich sollte der andere Freiwillige mehr Erfahrung haben, aber auch das ist nicht immer so. Ich hatte Glück. Sie haben mich in einer Gemeinde untergebracht, die nur wenige Kilometer vom Fluss entfernt ist, an den Hängen der Kordillere. Sie heißt Caparrapí, ein Name, dessen einziger Sinn zu sein scheint, dass ich mich lächerlich mache, wenn ich ihn ausspreche. Es ist heiß und sehr feucht, aber man hält es aus. Und der Freiwillige, den ich erwischt habe, ist ein unheimlich netter Kerl, er weiß einen Haufen Dinge, vor allem über das, worin ich mich überhaupt nicht auskenne. Er heißt Mike Barbieri, ist ein drop-out der Universität von Chicago. Einer dieser Menschen, bei denen man sich sofort wohlfühlt, nach zwei Sekunden hast du das Gefühl, du kennst ihn dein ganzes Leben. Es gibt so Leute, mit Ausstrahlung. Das Leben im Ausland ist einfacher für sie, das habe ich gemerkt. Solchen Leuten gehört die Welt, überall können sie problemlos überleben. Ich wünschte, ich wäre selbst ein bisschen so.
Barbieri war seit zwei Jahren beim Peace Corps in Kolumbien, hatte vorher bereits zwei weitere in Mexiko verbracht, wo er mit den Bauern im Gebiet zwischen Ixtapa und Puerto Vallarta gearbeitet hatte, und war davor ein paar Monate in den Armenvierteln von Managua gewesen. Er war hochgewachsen, sehnig, blond, doch braungebrannt, und nicht selten traf man ihn ohne Hemd an (über seiner Brust baumelte unweigerlich ein Holzkruzifix), nur mit Bermudas und Ledersandalen bekleidet. Er hatte Elaine mit einem Bier in der Hand und einem Teller voll kleiner Maisfladen begrüßt, die für sie eine ganz neue Konsistenz besaßen. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so gesprächig und zugleich aufrichtig war, und wusste nach wenigen Minuten bereits, dass er bald siebenundzwanzig werden würde, dass seine Mannschaft die Cubs waren, er Schnaps hasste, was in der Gegend ein Problem sei, dass er Angst, nein, einen wahren Horror vor Skorpionen habe und Elaine rate, sich offene Schuhe zuzulegen und sie jeden Tag vor dem Anziehen zu überprüfen. »Gibt es hier viele Skorpione?«, fragte Elaine. »Kann sein, Elaine«, sagte Barbieri mit der Stimme einer Wahrsagerin. »Kann sein.«
Die Wohnung hatte zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, war kaum möbliert und befand sich im ersten Stock eines Hauses mit himmelblauen Mauern. Das Erdgeschoss nahm ein Lokal mit zwei Aluminiumtischen und einer Theke ein – Karamellkuchen, Buttergebäck, Pielroja-Zigaretten –, und hinter dem Lokal, wo die Welt wie von Zauberhand häuslich wurde, lebte das Paar, das das Lokal führte. Ihr Familienname lautete Villamil, sie waren über sechzig. »Meine Señores«, sagte Barbieri, als er sie Elaine vorstellte, und fügte in fließendem Spanisch hinzu, als er merkte, dass die Señores den Namen der neuen Untermieterin nicht verstanden hatten: »Sie ist auch eine Yankee, heißt aber Elena.« Und so nannten die Villamils sie, riefen sie mit diesem Namen, wenn sie fragten, ob sie genug Wasser habe, oder wenn sie hinaussehen sollte, um den Betrunkenen zuzuwinken. Elaine ertrug es stoisch, sie vermisste das Haus der Laverdes und schämte sich, wie ein verwöhntes Mädchen zu denken. Dennoch ging sie den Villamils so oft wie möglich aus dem Weg. Über eine Betontreppe an der Außenwand konnte sie ungesehen hinaufgehen. Der bis zur Aufdringlichkeit freundliche Barbieri benutzte sie nie. Kein Tag verging, an dem er nicht ins Lokal trat, von seinen Erlebnissen, seinen Erfolgen und Misserfolgen erzählte, sich die Geschichten der Villamils anhörte, ja sogar die ihrer Kunden, und sich bemühte, den alten Bauern die Lage der Schwarzen in den Vereinigten Staaten zu erläutern oder das Thema eines Songs von The Mamas & the Papas. Elaine sah zu und musste ihn einfach bewundern. Sie brauchte länger als nötig, bis sie den Grund herausfand: Auf seine Art erinnerte sie dieser extrovertierte, neugierige Mann, der sie so frech ansah und redete, als wäre die Welt ihm etwas schuldig, an Ricardo Laverde.
Zwanzig Tage lang, die zwanzig heißen Tage, die ihre Ausbildung auf dem Land dauerte, arbeitete Elaine Seite an Seite mit Mike Barbieri, aber auch mit dem Führer des Nachbarschaftskomitees, einem kleinen, stillen Mann, dessen Schnurrbart eine Hasenscharte verdeckte. Er hatte zur Abwechslung einen einfachen Namen, er hieß Carlos, bloß Carlos, und etwas Verschlossenes, Drohendes steckte in dieser Einfachheit, im fehlenden Nachnamen, in der gespenstischen Art, in der er sie morgens abholte und abends, nachdem er sie zurückgebracht hatte, wieder verschwand. Elaine und Barbieri aßen, wohl eine alte Vereinbarung, jeden Tag bei Carlos zu Mittag, ein Intermezzo zwischen zwei intensiven Arbeitsschichten mit den Bauern der angrenzenden Bezirke, dazu Gespräche mit den Lokalpolitikern und stets fruchtlose Verhandlungen mit den Großgrundbesitzern der Gegend. Elaine entdeckte, dass die wirkliche Arbeit auf dem Land im Reden bestand. Wollte man den Bauern zeigen, wie man Hühner mit zartem Fleisch züchtete (indem man sie einsperrte, anstatt sie frei herumlaufen zu lassen), wollte man die Politiker überzeugen, eine Schule mit regionalen Mitteln zu errichten (da von der Zentralregierung nichts zu erwarten war), oder wollte man durchsetzen, dass die Reichen sie nicht nur als antikommunistische Kreuzfahrer sahen, musste man sich erst an einen Tisch setzen und trinken, trinken, bis nur noch gelallt wurde. »Also sitze ich entweder auf dahinsiechenden Pferden oder rede mit halb besoffenen Leuten«, schrieb Elaine an ihre Großeltern. »Aber mir scheint, ich lerne dabei, auch wenn ich es selbst nicht merke. Die Kolumbianer sagen dann, wie Mike mir erklärt hat, sie haben bei etwas Maß genommen. Das heißt, man begreift, wie die Dinge laufen, hat sie verinnerlicht, den Dreh raus. Ich bin gerade dabei. Ach ja, eins noch: Schreibt mir nicht mehr hierher, schickt den nächsten Brief nach Bogotá. Von hier geht es nach Bogotá, dort bekomme ich einen Monat lang die letzten Instruktionen. Dann nach La Dorada. Dort beginnt der Ernst des Lebens.«
Am letzten Wochenende kam Ricardo Laverde. Es war ein Überraschungsbesuch, er hatte sich allein beholfen, allein den Zug nach La Dorada und von dort den Bus nach Caparrapí genommen und hatte sich dann durchgefragt, sich nach der Adresse erkundigt, die beiden Yankees beschrieben, von deren Existenz natürlich alle in der Gegend wussten. Elaine war ganz und gar nicht erstaunt, dass Laverde und Mike Barbieri sich so gut verstanden. Barbieri gab Elaine den Nachmittag frei, damit sie ihrem Liebsten aus Bogotá (so nannte er ihn, »Liebster aus Bogotá«) den Ort zeigen konnte, sie würden sich abends zum Essen sehen. Und an dem Abend, binnen weniger Stunden – allerdings Stunden mitten auf einer Pferdekoppel, rund um ein Feuer, zwischen ihnen ein Krug mit Guarapo –, entdeckten Ricardo und Barbieri, wie viel sie gemeinsam hatten, denn Barbieris Vater war Postpilot und Ricardo mochte keinen Schnaps, sie umarmten sich, sprachen von Flugzeugen, Ricardos Augen wurden groß, als er von seinem Flugunterricht, seinen Lehrern erzählte, und Elaine gab ihr eigenes Loblied auf Ricardo zum Besten, ebenso das Loblied der anderen auf sein Fliegertalent, und dann redeten Ricardo und Mike über Elaine, in ihrer Gegenwart, was für ein tolles Mädchen sie sei und wie hübsch, ja, hübsch auch, diese Augen, sagte Mike, ja, besonders die Augen, sagte Ricardo, und sie lachten laut und erzählten sich Geheimnisse, als hätten sie sich nicht eben erst kennengelernt, sondern wären alte Fraternity-Freunde, sangen For she’s a jolly good fellow und bedauerten, dass Elaine ihre site wechseln musste, this site should be your site, fuck La Dorada, fuck The Golden One, fuck her all the way, sie stießen auf Elaine an und auf das Peace Corps, for we’re jolly good fellows, which nobody can deny. Und am nächsten Tag, obwohl ihm der Schädel vom Guarapo dröhnte, brachte Mike Barbieri sie zum Bus. Zu dritt erreichten sie per Pferd den Dorfplatz, wie Siedler früherer Zeiten (auch wenn ihre Tiere dürre Klepper waren und niemals Siedlern früherer Zeiten gehört hätten), und Elaine sah in Ricardos Gesicht, der ritterlich ihr Gepäck trug, etwas, was sie noch nie gesehen hatte: Bewunderung. Bewunderung für sie, dafür, wie gewandt sie sich im Dorf bewegte, wie sehr man sie in nur drei Wochen ins Herz geschlossen hatte, wie natürlich und zugleich entschieden sie sich den Dorfbewohnern verständlich machte. Elaine sah diese Bewunderung in seinem Gesicht und spürte, dass sie ihn liebte, dass sie unversehens neue, intensivere Gefühle für diesen Mann empfand, der auch sie zu lieben schien, und zugleich war ihr, als hätte sie diesen glücklichen Punkt erreicht, an dem der Ort sie nicht mehr allzu sehr überraschen konnte. Gewiss, Unvorhergesehenes gab es immer, in Kolumbien brachten es die Leute fertig, unberechenbar zu bleiben (in ihrem Verhalten, ihren Umgangsformen: nie wusste man, was sie wirklich dachten). Doch Elaine fühlte sich als Herrin der Lage. »Frag mich, ob ich hier Maß genommen habe«, sagte sie zu Ricardo, als sie in den Bus stiegen. »Hast du hier Maß genommen, Elena Fritts?«, fragte er. Und sie antwortete: »Ja. Ich habe Maß genommen.«
Sie konnte nicht wissen, wie sehr sie sich täuschte.