Herbstblues
Darius sitzt wie so oft mit einer Tasse Kaffee in seiner Küche. Normalerweise ist er zufrieden mit dem, was er derzeit hat und was er sich seit etlichen Monaten leisten kann, doch an diesem grauen Tag Mitte Oktober verfällt er mehrfach in trübe Gedanken. Irgendwie lässt ihn eine gewisse Zukunftsangst nicht los, sobald er daran denkt, dass sich dieses für ihn einigermaßen denkwürdige Jahr langsam dem Ende entgegenneigt.
Was wird geschehen, wenn die Verlängerung des Vertrages mit Luzifer ansteht und dieser einer Fortführung nicht zustimmen sollte? Nicht, dass Martin oder der Sir etwas in der Art angedeutet hätten, bloß man kann ja nie wissen. Was soll er in dem Fall tun? In sein altes Leben zurückkehren und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten? Klingt nicht wirklich verlockend.
Glücklicherweise hat er jeden Monat einen Teil seines Salärs sparen können. In einem langen Gespräch, das er kürzlich mit Martin führen konnte, hatte er diesbezüglich nachgefragt und ihm war einen Tag darauf positiv beschieden worden, dass nichts dagegenspräche, wenn er sich den jeweils verbliebenen Rest zur Seite legen würde.
Nachdenklich erinnert sich Darius an diesen gewissen Abend vor ungefähr drei Wochen. Martin hatte anscheinend Langeweile oder Redebedarf – oder sogar beides und war unangemeldet bei ihm hereingeplatzt, als Darius sich gerade einen alten Film im Fernsehen anschauen wollte. Irgendwie waren sie an diesem Abend von einem Thema ins nächste gerutscht, vom Hundertsten ins Tausendste gekommen und hatten dabei sogar zwei Flaschen Wein geleert, eine gute Sorte versteht sich. Martin hatte einige Zigarillos geraucht, seine kunstvollen Kringel in die Luft geblasen und dabei unter anderem davon erzählt, wie er seinen Tag unter Luzifer gestaltet und welche Aufgaben er zu erledigen hat.
Ein leichtes Lächeln umspielt Darius’ Augenwinkel, als er daran denkt, wie sich Martins Stimme unter dem Einfluss des genossenen Alkohols verändert hatte und er zunehmend lockerer geworden war. Sogar gelacht hatte er, etwas, dass man sich sonst bei ihm kaum hätte vorstellen können. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass Martin sich einen ganzen Abend lang mit ihm unterhalten hatte.
Darius hatte auf seine vorsichtige Nachfrage hin erfahren, dass Martin einmal im Vierteljahr ein freier Tag zusteht, den er im Normalfall mit Höllenmutter Magdalene in der Küche bei Tee oder Kaffee und Keksen verbringt, ihm an jenem denkwürdigen Abend jedoch eher der Sinn nach einem Gespräch unter Männern gestanden hatte und Magdalene zudem anderweitig beschäftigt gewesen war.
An dem betreffenden Abend hatte Darius Martin gefragt, was dieser davon hielte, wenn er neben der Beschaffung von Seelen für den Sir wenigstens einer kleinen, sinnvollen Beschäftigung nachginge, denn täglich aufs Neue nur herumzuflanieren, zu faulenzen, gut auszusehen und Männer aufzureißen, das würde ihn auf Dauer irgendwie nicht gänzlich ausfüllen. Darius kann ihn fast noch hören, den besonnenen Assistenten des Teufels, wie der mit leicht verwaschener, aber dennoch ernster Stimme zu ihm sprach.
„Interessant, dass du das erwähnst. Ich hatte mich ohnehin schon des Öfteren gefragt, wie du es aushältst, ständig überhaupt nichts zu tun. Versteh mich bitte nicht falsch, es liegt mir fern, zu urteilen, aber … kann es einem jungen Mann tatsächlich genügen, einfach nur da zu sein un d in den Tag hineinzuleben? Sicher, du hast dein Auskommen und es mangelt dir an nichts. Ich rede auch nicht davon, dass du nun jeden Tag in die Tretmühle sollst, die die meisten Erdlinge frühzeitig kaputt macht und dafür sorgt, dass fast alle müde und grau im Gesicht herumlaufen. Nein, das musst und sollst du gar nicht, allerdings hast du doch irgendwann einmal etwas gelernt oder zumindest eine Lehre angefangen, wie ich in deinem Lebenslauf gesehen habe. Ich bin mir jetzt nicht sicher, was es genau war, verzeih einem alten Mann, der ein Glas zu viel getrunken hat, doch eventuell kannst du ja in dem Bereich einen oder zwei Tage die Woche tätig werden. Versuch es einfach, was kann schon groß passieren, außer, dass man dich nicht braucht? Auf das Geld bist du schließlich nicht angewiesen. Und Zeit genug, um deinen vertraglichen Pflichten nachzukommen, wird dir sicher auch noch bleiben.“
Mit diesen Worten hatte Martin Darius einen Denkanstoß gegeben. Es stimmte, Darius hatte nach seiner mittleren Reife tatsächlich eine Ausbildung angefangen, sie allerdings nicht beendet. Der schwere Autounfall seiner Eltern und ihr daraus resultierender früher Tod hatten ihn damals aus der Bahn geworfen und dafür gesorgt, dass er zusammenbrach, einige Wochen in einer Klinik verbringen musste und sich hinterher nicht mehr in der Lage fühlte, sich den Anforderungen seiner Ausbildung erneut zu stellen. Doch eventuell konnte er ja trotzdem irgendwo einen kleinen Job finden, er war immerhin nicht dumm.
Gleich an dem auf das Gespräch folgenden Tag hatte er seine Fühler ausgestreckt und war recht schnell fündig geworden, interessanterweise jedoch in einem gänzlich anderen Bereich, denn seit dieser Zeit hilft er zweimal die Woche ehrenamtlich in einer Einrichtung aus, in der Kinder betreut werden, die aus sozial schwachen Familien kommen. Dort können sie sowohl ihre Hausaufgaben machen als auch eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Obwohl er früher mit Kindern nicht sonderlich viel am Hut gehabt hat, so freut er sich von Woche zu Woche mehr auf „seine“ Tage in der Einrichtung, auf die leuchtenden Augen der kleinen Geschöpfe, wenn er ihnen nach der Erledigung ihrer Hausaufgaben vorliest, mit ihnen spielt oder an manchen dieser Tage auch mal eine Kleinigkeit mitbringt. Eine einfache Tafel Schokolade, ein Stofftier oder ein kleines Kleidungsstück. Kaum eines dieser Kinder hat mehr als das, was sie von wohltätigen Organisationen erhalten, von daher strahlen ihre Gesichter vor Glückseligkeit, wenn er ihnen etwas Gutes tut.
Seufzend stellt Darius seinen Kaffeebecher in die Spülmaschine. Langsam wird es wirklich Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob er die Verlängerung der teuflischen Übereinkunft wünscht und somit beantragen soll. Da ist einerseits das sorgenfreie Leben, das er seit etwa einem Dreivierteljahr führt, andererseits sind da die einsamen Nächte, in denen er wach liegt, keinen seiner heißen Typen neben sich hat und sich danach sehnt, am nächsten, übernächsten und jedem folgenden Tag neben einer geliebten Person aufzuwachen. Es ist leider traurige Tatsache, dass er sich nicht fest binden kann, da jede Seele sofort an Luzifer fallen würde und er zwangsläufig fremdgehen müsste, um seinen Vertrag weiter zu erfüllen.
Es ist zwar definitiv nicht so, dass er unter sexuellem Notstand leidet, im Gegenteil, selbst Pete oder Matteo sehen ab und zu vorbei und bleiben anschließend meist über Nacht, aber dennoch … irgendetwas fehlt. Etwas namens Liebe.