5. Kapitel
Linda wischte die letzten Meter ihres Flures, wrang den Lappen aus und goss das Wischwasser in den Gully vor ihrem Haus. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Täuschte sie sich oder begann der Asphalt bereits zu flimmern? Mit zusammengekniffenen Augen checkte sie das Thermometer an ihrer Hauswand. Es war morgens um neun und der Zeiger bewegte sich rasend schnell auf die Fünfundzwanzig-Grad-Marke zu. Dabei hatten sie gerade erst Anfang Juni.
Seit einer Woche lag Hitze über der Stadt. Und es war keine Besserung in Sicht. Überall in den Nachbargärten liefen die Rasensprenger und Linda kam mit dem Gießen kaum hinterher.
Bereits gestern Abend war Kevin mit seinen Kumpels zu einer Motorradtour aufgebrochen. Angeblich, denn Linda wusste nicht, was er genau tat und vor allem, mit wem. Und eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, es war ihr vollkommen gleichgültig und das erschreckte sie am meisten.
Vor einigen Tagen hatte sie in seiner Hosentasche eine leere Kondompackung gefunden. Ganz still hatte sie vor ihrer Waschmaschine gestanden und das unschuldige Stück Plastik angeschaut. Lange hatte Linda in sich hineingespürt, nach Trauer, Wut oder Enttäuschung gesucht. Aber da war einfach nichts gewesen. Sie hatte die Verpackung in den Müllsack ganz nach unten gestopft und diesen in die Tonne geworfen.
Dann war sie in ihren Garten gegangen, hatte Unkraut gejätet und Wasser in Maries kleinem Bassin nachgefüllt. Diese alltäglichen Handgriffe beruhigten sie und schenkten ein wenig Ablenkung von den ewig gleichen Grübeleien über sich selbst und ihre Ehe. Kreischend war ihre Tochter im Planschbecken herumgehüpft und am Ende hatte Linda sich einfach mit dazugesetzt, während Marie ihr mit dem Plastikeimer Wasser über den Kopf geschüttet hatte.
Ihre Gedanken kreisten immer stärker um David. Sie hatte das Gefühl, er würde sie mit Blicken ausziehen. Und vermutlich tat er dies in Gedanken auch.
Annas Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Linda dachte über ihr Leben nach. Wollte sie wirklich die nächsten fünfunddreißig Jahre so weitermachen? Was war, wenn Marie eines Tages alt genug war und ihre eigenen Wege ging? Wenn der einzige Grund, wegen dem sie dies alles hier durchhielt, das Haus verließ? Wie sagte ihre Mutter immer: Die Zeit vergeht immer schneller, je älter du wirst. Das Jahr rast dahin und ruckzuck sind die Kinder groß.
Noch war Marie klein, aber die Uhr tickte bereits. Linda sehnte sich nach Zärtlichkeiten, nach der Berührung eines Mannes, nach Sex. Das war ihr in den letzten Tagen immer klarer geworden. Und dennoch konnte sie sich noch nicht dazu durchringen, David ein Signal zu senden. Linda wusste einfach nicht, wie. Anna hatte gut reden, ihm die Hand auf den Schenkel legen. Das wirkte so, so …
Im Inneren des Hauses läutete das Telefon. Linda eilte in die Küche und meldete sich.
„Hallo Linda, hier ist David.“
Ihr Herz machte einen kleinen Hopser. „Hallo David.“
„Ich hoffe, es geht euch gut?“
Linda lächelte. „Im Großen und Ganzen schon, wir leiden unter der Hitze. Marie konnte letzte Nacht kaum schlafen.“
„Stimmt, letzte Nacht war es wirklich schrecklich.“ Er machte eine kurze Pause. „Es ist so. Ich hab eine Frage. Na ja, eigentlich hat Jonas diese Frage. Ich bin also nur der Bote. Er möchte wissen, ob Marie vielleicht zum Baden zu uns kommen möchte? Wir haben doch den großen Pool und allein zu baden macht ihm keinen Spaß. Anscheinend bin ich auch nicht der geeignete Badepartner. Deswegen bat er mich, euch anzurufen, und das tue ich hiermit.“ David lachte auf und Linda schloss einen Moment die Augen. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, seine Augen, seinen Mund, diese kleine Narbe.
„Hm, keine Ahnung, ich kann Marie ja mal fragen.“
Diese hatte ihren Namen bereits gehört und tauchte hinter Linda auf. „Hast du Lust bei Jonas zu baden, im Pool?“
Ein lauter Jubelschrei ertönte. Marie stürmte davon und begann ihre Sachen zusammenzusuchen. „Hast du es gehört?“, fragte Linda lachend in den Hörer. „Ich glaube, die Antwort ist klar.“
„Also kommt ihr vorbei? Wunderbar, wir beide freuen uns. Ach ja, vielleicht möchtest du deine Badesachen auch mitbringen. Daniela ist dieses Wochenende in New York.“ David zögerte kurz. „Aber nur wenn du willst, ich meine, ich will nicht ...“, stotterte er.
Linda hielt die Luft an. War jetzt die Situation gekommen, die Gelegenheit, ihm zu zeigen, was sie fühlte? Ihr Puls raste. „Schauen wir mal, ich bringe Marie vorbei und vielleicht packe ich wirklich meine Badesachen ein. Na dann, bis gleich.“
„Bis gleich“, sagte David freudig und legte auf.
Linda lief in ihr Schlafzimmer und zerrte den Schieber mit ihren Bikinis heraus. Unentschlossen legte sie die bescheidene Auswahl aus drei Modellen auf ihr Bett und entschied sich schließlich für den Pinkfarbenen, den sie zusammen mit Anna vor drei Jahren gekauft hatte. Für ihren Geschmack war das Oberteil ziemlich knapp geschnitten und ziemlich gewagt, doch Anna hatte nur gelacht. „He, du bist doch keine Großmutter. Wer Holz vor der Hütt’n hat, kann das ruhig zeigen. Da fällt deinem Kevin vielleicht mal auf, was für ein Geschoss du bist.“ Kevin war bei den wenigen Malen, da er sie im Bikini gesehen hatte, nichts aufgefallen. Und so war das Teil wieder in ihren Schieber gewandert und hatte dort herumgelegen.
Linda lief ins Bad, packte Badetücher und Sonnencreme ein. Mittlerweile fühlte sie unbändige Vorfreude in sich aufsteigen. Dieser Tag bot ein wenig Abwechslung zu dem üblichen Einerlei, was immer am Wochenende herrschte. Auch für ihr Kind, das viel zu oft zurückstecken musste.
Marie wartete bereits in ihrem knallbunten Badeanzug mit einem Sammelsurium verschiedener Schwimmutensilien und Spielsachen im Flur. Es schien, als hätte sie ihr halbes Kinderzimmer eingepackt. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sprang aufgeregt zwischen den Sachen hin und her.
„Das brauchen wir aber nicht alles mitzuschleppen. Wir nehmen nur die Schwimmflügel und den Teddy mit“, sagte Linda lachend. „Ich bin sicher, Jonas hat auch eine Luftmatratze und ganz viele Spielsachen.“
Dann kam Linda noch eine Idee. Sie hatte für den Abend einen bunten Salat zubereitet und diesen im Kühlschrank kaltgestellt. Schnell holte sie die Kühltasche, füllte den Salat in eine Dose und packte alles ins Auto.
Marie saß bereits erwartungsvoll in ihrem Sitz. Ihre Beine wackelten aufgeregt auf und nieder. „Weißt du denn überhaupt, wo Jonas wohnt, Mama?“
Linda nickte. Sie wusste es. Bei sonntäglichen Spaziergängen war sie bereits ein paar Mal an dem Haus vorbeigelaufen, das versteckt hinter hohen Büschen am Ende einer lang gezogenen Auffahrt lag. Ein schmiedeeisernes Tor mit einer Sprechanlage sorgte für Distanz, zusätzlich behielten Kameras jede Bewegung genau im Auge. Das Grundstück musste riesig sein, mit einem fantastischen Blick auf den Wald, der gleich dahinter begann. Linda war die lange Mauer entlanggeschlendert und hatte sich gefragt, wie es wohl dahinter aussehen würde.
Heute würde sie es erfahren. Minuten später bog sie in die schmale Straße ein und fuhr zum allerletzten Grundstück. Auf der gegenüberliegenden Seite fegte ein Mann den Fußweg und beobachtete ihr Fahrzeug. Also waren die Nachbarn hier genauso neugierig wie bei ihr daheim. Wobei Linda vermutete, dass der Mann nur ein Angestellter, vielleicht der Gärtner war. Als sie an ihm vorbeifuhr, lüftete er höflich seinen Strohhut und nickte ihr knapp zu. Linda winkte zurück, rollte weiter und parkte den Wagen vor dem hohen Tor. Sie drückte auf den seitlich angebrachten Klingelknopf und gleich darauf schwang das Tor lautlos wie von Zauberhand zur Seite.
„Wow, Mama, hast du das gesehen? Das ging ganz von allein auf. Jonas oder sein Papa waren gar nicht zu sehen.“ Marie machte kullerrunde Augen, die immer größer wurden. „So ein schöner Garten, schau doch mal.“
Linda konnte es ihr nicht verdenken. Das Grundstück war wirklich riesig und wurde von gärtnerisch fachkundiger Hand gehegt und gepflegt. Einen Moment stellte sie sich Daniela vor, wie diese mit ihren perfekt manikürten Fingern in der Erde wühlte. Es gab keine Vorstellung, die unpassender war.
Die lang gezogene, mit Kies bestreute Auffahrt machte eine kleine Kurve und endlich lag das Haus vor ihnen.
Es war ungemein groß, dazu kamen weitere Nebengebäude, wie Garagen und andere Anbauten. An fast allen Fenstern hatte man zum Schutz vor der Sonne die Jalousien heruntergelassen. Die Fassade war klassisch weiß gestrichen, die anthrazitfarbenen Fensterumrahmungen und Türen passten perfekt dazu. Große Solarelemente schmückten das Dach. Alles wirkte modern und durchgestylt.
Die breite Haustür öffnete sich und Jonas kam herausgelaufen. Er trug bereits eine Badehose und ein Handtuch unter dem Arm. Eine hochgewachsene, exotisch anmutende Frau folgte ihm. Sie trug ein langes buntes Wickelkleid und hatte ihre schwarzglänzenden Haare streng nach oben gebunden.
Winkend sprang Jonas vor dem Auto herum. „Hallo Marie, komm, ich zeig dir alles.“ Er ergriff die Hand ihrer Tochter und ließ die unbekannte Frau einfach vor Linda stehen. Unsicher blickte diese auf Linda und Marie und schien nicht zu wissen, was sie nun tun sollte. Doch dann schien Jonas sich doch zu besinnen, ließ Marie stehen und kam noch einmal zurück zum Auto. „Ach so, das ist Juanita, mein Kindermädchen“, sagte er im altklugen Tonfall zu Linda. „Sie passt auf mich auf, wenn Mama und Papa arbeiten sind.“
Juanita gab Linda die Hand und nickte leicht. „Hallo“, flüsterte sie kaum hörbar. Verschüchtert musterte sie die beiden Kinder, die soeben um die nächste Hausecke verschwanden.
Linda nahm ihr die Entscheidung ab. „Gehen Sie ruhig, nicht dass den beiden noch etwas passiert.“ Juanita lächelte erleichtert und verschwand wie der Blitz. Ihre braungebrannten festen Waden wirkten durchtrainiert, wie bei einem Menschen, der viel in seinem Leben gelaufen war. Linda selbst konnte nur staunen. Wofür brauchte man ein Kindermädchen, für einen Jungen, der tagsüber in einem Kindergarten war?
Sie holte kopfschüttelnd ihre Badetasche und die Kühlbox aus dem Kofferraum und sah sich um. Von David war noch immer nichts zu sehen. Sie lief langsam zum Eingang und schob sich durch den schmalen Türspalt, den Jonas hatte offen stehen lassen.
Im Inneren des Gebäudes herrschte durch die herabgelassenen Jalousien Dämmerlicht. Glänzende Fliesen schmückten den Boden und verbreiteten eine angenehme Kühle. Seitlich führte eine breite Treppe mit Marmorstufen und einem Geländer aus Edelstahl in den ersten Stock. Zu ihrer Linken erkannte Linda eine Küche. Genau gegenüber der Eingangstür schien das Wohnzimmer zu liegen. Eine breite, weit geöffnete Glastür führte in den Raum. Mitten im Flur stand ein riesiges buntes Blumenbouquet auf einem Podest. Einen winzigen Moment tauchte Linda ihr Gesicht hinein. Da waren Rosen, Freesien und Geranien, die mit fachkundiger Hand arrangiert worden waren. Dann umrundete sie die Blumen und warf einen knappen Blick in die Küche. Auch dort war niemand zu sehen.
Unschlüssig stellte sie ihre Tasche ab. Linda scheute sich, die weiteren Räume zu betreten. Das Beste wäre vermutlich, wenn sie sich irgendwie bemerkbar machen würde. „Hallo David“, rief sie schließlich mit zaghafter Stimme.
Augenblicklich ertönten Schritte in der oberen Etage.
Ein Männerkopf schob sich über die Brüstung, die die obere Etage einmal umrundete. „Linda, du bist schon da?“ Erstaunt sah David sie an und strahlte über das ganze Gesicht. Seine Haare schimmerten feucht, ein Handtuch lag locker über seinen Schultern, der Oberkörper war nackt. Von hier sah Linda deutlich die dunklen Haare, die sich auf seiner Brust ringelten. Augenblicklich wurde ihr Mund trocken und sie schluckte heftig. „Ich hab euch gar nicht kommen hören“, rief David nach unten. „Ich war gerade ein paar Bahnen schwimmen und wollte mir nur schnell etwas anziehen. Vermutlich hat Jonas euch das Tor geöffnet, dieser Schlingel. Geh ruhig schon mal in die Küche. Dort steht eine Karaffe mit Wasser und mach’s dir bequem, ich bin gleich bei dir.“
Die Küche war so groß wie das gesamte Erdgeschoss ihres eigenen Hauses. Mit ihrer Hand strich Linda andächtig über den riesigen Herd, der neben den üblichen Kochfeldern noch eine Grillzone und weitere Spielereien aufwies. Der Kühlschrank nahm eine halbe Wandfläche ein. Alles wirkte modern und beinahe schon steril. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Daniela hier kochte. Doch die meisten der zahlreichen Gerätschaften wirkten, als würden sie nie oder kaum benutzt werden.
Wie David gesagt hatte, stand auf dem Küchentresen eine Karaffe mit Wasser. Linda goss sich ein Glas ein und schlenderte weiter Richtung Wohnzimmer. Eine bis zum Dach reichende, atemberaubende Fensterfront gab den Blick auf den Garten frei.
Jonas und Marie sprangen bereits im Pool herum. Beide ordnungsgemäß mit ihren Schwimmärmeln. Juanita saß am Rand und ließ ihre Beine im Wasser baumeln. Das Becken hatte aus Lindas Sicht olympische Ausmaße. Kein Wunder, dass David von einigen Bahnen gesprochen hatte, die er geschwommen war.
Sie dachte an Maries kleines aufblasbares Schwimmbecken und ihre selbst gebastelte Gartendusche daheim. War sie neidisch? Natürlich war es hier wunderschön, aber irgendwie auch kalt. Linda fehlte die Gemütlichkeit eines Zuhauses, Dinge die herumlagen. Sachen, die zeigten, dass hier Menschen lebten.
Da waren die weiße Ledercouch, die modernen Kunstdrucke an den Wänden und die Skulpturen, die an exponierten Stellen im Raum standen. Exotisch anmutende Grünpflanzen, die Linda noch nie gesehen hatte, rundeten das Ensemble ab. Alles wirkte wie ein Museum oder ein Musterhaus für potente Kunden.
Auf einem Sideboard aus weißglänzendem Material, gepaart mit Chrom, fand sie dann doch noch ein paar persönliche Spuren der Bewohner. Es waren Bilder. Da war Jonas als Baby bei einem Fotoshooting, oder Daniela in einem langen nachtblauen Abendkleid, die sich kühl lächelnd an David schmiegte. Am meisten stach ihr das Hochzeitsfoto von Daniela und David ins Auge. Es schien irgendwo an einem südlichen Strand aufgenommen worden zu sein. Verschwommen erkannte man im Hintergrund einige Palmenwedel. Beide standen mit den Füßen im Wasser und umarmten sich. David hatte seine Hose bis zum Knie hochgekrempelt. Daniela trug ein hauchzartes Kleid, welches in einer südlichen Brise wehte. Ihre langen Haare waren offen, blonde Locken schmeichelten ihrem Gesicht. Wären die kalten Augen nicht gewesen, hätte man sie für einen Engel halten können. Sie strahlte, genau wie David und doch sah für Linda Glück anders aus.
„Sag es ruhig, ein schönes Paar.“ Erschrocken fuhr Linda herum und stellte das Bild hastig zurück.
David stand lässig, an eine Säule gelehnt, ein paar Meter hinter ihr. Seine Arme waren verschränkt, die Augen lagen im Dunkel. Er hatte sich angezogen, trug Shorts und ein weißes Shirt.
„Zumindest sagen das alle anderen immer an dieser Stelle. So Sachen wie: Ein schönes Paar und es sieht so glücklich aus, so perfekt.“ Er lachte kurz auf und kam dann näher.
Gedankenverloren betrachtete er das Bild, als würde er es in diesem Moment das erste Mal sehen. „Perfekt, das war es wirklich. Ein karibischer Traum auf Aruba. Daniela hat alles organisiert und mich dort hingeschleift, obwohl sie wusste, wie sehr ich die Karibik hasse. Dieses eintönige Einerlei aus Meer und Strand und Palmen und blauem Himmel. Zum Glück konnte ich mich seitdem mit Händen und Füßen dagegen wehren, noch einmal da hinzumüssen. Wie war deine Hochzeit?“
Linda musste lachen. „Oje, nicht halb so perfekt wie deine und ein paar Nummern kleiner. Ich wurde in einem Motorradbeiwagen zum Standesamt gekarrt, von einem von Kevins Motorradkumpels. Dabei flog mir eine Fliege ins Auge. Den Rest des Tages hatte ich ein dickes tränendes Auge. Unsere Fotos sehen dementsprechend aus. Ansonsten war es ein lustiger Tag im Vereinslokal der Kleingartensparte gleich nebenan. Es gab belegte Brote und Bier vom Fass.“
„Klingt bodenständig.“ David schmunzelte kurz, dann wurde er wieder ernst. „Warst du damals glücklich?“
Glücklich, wenn sie ehrlich war, wusste sie das nicht. Was war Glück? Vielleicht wusste man das erst, wenn man es tatsächlich einmal gefunden oder wieder verloren hatte. „Vermutlich ja, ich war der festen Meinung, wir würden uns wahnsinnig lieben – gegenseitig“, meinte sie vage. „Vielleicht haben wir das auch getan, keine Ahnung.“ Linda fühlte sich bei diesen Themen irgendwie unwohl. Sie strich mit dem Finger über die spiegelglatte Oberfläche des Sideboards und zuckte dann mit ihren Schultern. „Was soll’s, es ist lange her. Man kann die alten Zeiten nicht zurückholen.“
„Ich war damals schon nicht glücklich. Ich habe es gehasst, diesen ganzen Hochzeitsrummel, diese Rolle, die man spielen muss. Diese unzähligen Verpflichtungen, die angeblich einzuhalten waren.“ David seufzte und holte tief Luft. „Aber du hast recht, die Vergangenheit ist vorbei.“
Einen kleinen Moment musste Linda an das heimlich beobachtete Treffen an der Frauenkirche denken. Es hatte nicht gespielt gewirkt, sondern immer noch wie ein verliebtes Paar, das sich in der Stadt traf. Sollte es wirklich vorbei sein?
David trat noch einen Schritt näher und stand nun direkt vor ihr. Unsicher sah er sie an. „Darf ich dich zur Begrüßung umarmen? Ich frage nur, wegen unserer Abmachung.“
Linda nickte, augenblicklich begann ihr Herz zu hämmern. David zog sie sanft in seine Arme, sein Mund näherte sich ihrem Gesicht. Oh Gott, da war ein Gefühl, als würde sie jeden Moment umfallen. Er roch so gut, nach Duschbad und nach Frische und nach Sommer. Linda schloss die Augen und hielt die Luft an. Doch er drückte ihr nur einen hauchzarten Kuss auf die Wange und schob sie dann wieder sanft von sich.
„Willkommen in meinem Zuhause, ich freue mich, dass du da bist.“ Sein Kopf deutete Richtung Diele. „Im Flur bin ich beinahe über eine Kühltasche gestolpert und ich frage mich, was wohl darin ist?“
„Ein wenig Salat“, meinte Linda lachend. „Er war eigentlich für heute Abend daheim gedacht. Aber damit ich nicht ganz mit leeren Händen komme, hab ich ihn eingepackt.“
„Soll das heißen, du willst nicht gleich wieder verschwinden?“ Seine Augen leuchteten so unbeschreiblich, dass sich in Lindas Kopf alles drehte. Was hatte Anna gesagt, gib ihm ein Zeichen, irgendwas. Deswegen nickte sie sanft und lächelte.
„Ich freue mich, sehr sogar“, sagte David lachend. „Diese Wochenenden sind manchmal so furchtbar. Man grübelt herum, denkt nach und unternimmt mit Jonas alleine etwas. Aber das Kind ersetzt keinen Partner.“ Linda schwieg, sie fand sich in seinen Worten wieder. David sprach ihr aus der Seele. Er sagte das, was sie dachte. „Wobei ich eigentlich gehofft hatte, heute Mittag mit dir und den Kindern gemeinsam etwas kochen zu können. Du bist bestimmt eine wunderbare Köchin. Da würde unsere Küche wieder mal benutzt werden. Daniela kann nicht kochen, zumindest hat sie es noch nie probiert.“ Ihre Überraschung wurde immer größer, David schien der perfekte Mann zu sein. „Lass uns deinen Salat kühl stellen, wir können ihn ja als Vorspeise essen.“
Er musterte ihre Badetasche. „Und die Badesachen hast du auch dabei. Da kann ich ja wirklich auf ein wenig mehr als nur einen kleinen Besuch hoffen.“ Seine Augen waren dunkel. Es schien Linda, als würde ein Schleier über ihnen liegen, so wie morgens manchmal Nebel über der Elbe.
„Mal sehen.“ Sie schlang die Arme um ihren Körper und schaute nach draußen Richtung Pool. „Den Kindern gefällt’s schon mal ziemlich gut, würde ich sagen.“ Marie sprang gerade mit Jonas gemeinsam in den Pool. Wasser spritzte auf und Juanita ergriff hastig die Flucht einige Meter nach hinten. Ihr lautes Kreischen drang bis zu ihnen nach drinnen.
„Jonas ist glücklich, er hasst es, allein zu spielen. Und Juanita ist anscheinend auch kein Ersatz für seine Marie. Hast du sie schon kennengelernt, unser Au-pair-Mädchen?“ Fragend sah er sie an und Linda nickte. „Eine Brasilianerin, ziemlich jung und naiv, keine Ahnung, was Daniela sich dabei gedacht hat.“ David winkte stöhnend ab. Anscheinend schien er von der jungen bildhübschen Frau nicht sonderlich begeistert zu sein. „Lust auf eine kleine Gartenführung?“
Linda nickte erneut und David schob eine der Terrassentüren auseinander. „Ich muss dich aber warnen. Bitte keine Fragen zu irgendwelchen Pflanzen. Ich habe vermutlich so einige Talente, Gartenarbeit gehört sicher nicht dazu. Dafür haben wir unser Personal.“
„Es sieht traumhaft aus. Alles ist so perfekt, so …“ Linda suchte nach Worten, doch David ging bereits voraus.
Marie winkte ihr fröhlich aus dem Pool zu. „Oh Mama, es ist so toll, schau doch bloß mal, wie groß alles ist.“
Linda hockte sich an den Beckenrand und hielt eine Hand ins Wasser. Es war angenehm temperiert und kühlte ihre erhitzte Haut.
Ihre Tochter war vor Begeisterung kaum zu halten. „Da drüben kann man sogar einen Sprudel anmachen. Nita braucht nur auf diesen Knopf zu drücken. Ist das nicht toll?“
Einen Moment musste sie überlegen, wer Nita wohl wäre. Dann fiel ihr ein, dass das sicher die Kurzform von Juanita war. Linda nickte. „Das ist ein großartiger Pool. Da hast du recht. Wir gehen uns mal ein bisschen den Garten anschauen.“
Marie winkte ab und meinte. „Hm, okay, wir spielen hier. Und Nita hat uns dann versprochen, ein wenig Melone zu holen.“
Die Terrasse des Hauses lag angenehm im Schatten, den die etwas vorgezogene erste Etage warf. Große Sitzecken luden zum Verweilen ein. Es gab eine Dusche und gleich daneben ein Poolhaus, in dem man sogar eine Art Sommerküche eingerichtet hatte. Danach begann der tiefgrüne Rasen, der vermutlich gerade beregnet worden war, denn frische Wassertropfen schimmerten wie Millionen Brillanten. Linda streifte ihre Schuhe ab und schlenderte barfuß weiter, immer hinter David her. Hinter hochgewachsenen Hecken lag ein Tennisplatz und daneben ein weiteres kleines Haus.
„Unser Gästehaus, zumindest hat Daniela es so konzipiert.“ Es wirkte wie eine verkleinerte Ausgabe des Haupthauses. Weiße Fassaden, große Fenster, Betonstelen mit irgendwelchen Skulpturen darauf.
Staunend schaute sie sich um. Noch nie hatte Linda ein solches Anwesen live gesehen, immer nur in Filmen.
„Entschuldige, ich will nicht angeben.“ Unsicher schaute David sie an. „Es wirkt immer so protzig, ich weiß.“
„Nein, nein, es ist wunderschön. Na ja …“ Linda musste lachen. „Es ist vielleicht ein wenig riesig, zumindest für meinen Geschmack. Wenn ich an meinen kleinen Rasen daheim denke, einmal Rasenmäher angeschmissen und ruckzuck ist man fertig, aber hier?“ Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich jeden Moment auf dem Grundstück verlaufen.
David lachte mit. „Da hast du recht. Bei uns musste alles eine Nummer größer sein als bei den anderen. Aber jetzt würde ich dir gern etwas zeigen, was ganz allein meine Sache ist. Daniela hasst es, deswegen müssen wir in die äußerste Ecke des Gartens. Dahin bin ich nämlich verbannt worden.“
Er ergriff ihre Hand und zog sie einfach hinter sich her. Über verschlungene Pfade bewegten sie sich vorwärts. Riesige Rhododendrenbüsche versperrten die Sicht und gaben immer nur den Blick auf eine kleine Wegstrecke frei. Sie liefen Richtung Wald, und langsam änderte sich das Gesicht des Gartens. Allmählich wich das perfekt gestaltete Grün einer natürlichen Bepflanzung.
Hinter den Zweigen eines Strauches tauchte ein weiteres Haus auf. Wenn man einen ersten Blick darauf warf, schien es in keiner Weise in diesen Garten und diese perfekt gestaltete Welt zu passen. Es lag am Ufer eines Fischteiches, war aus Holz erbaut und wirkte wie eine Schrebergartenlaube. Sogar kleine Fensterläden hingen vor den Fenstern.
„Mein Gartenhaus und mein Teich“, meinte David stolz. „Alles allein gebaut und entworfen. Na, was sagst du?“ Gespannt schaute er sie an.
Linda trat näher, ganz bis an den Rand des Teiches. Riesige Kois, die in verschiedenen Farben schimmerten, bewegten sich im Wasser träge auf und ab. Seerosen blühten, Schilfgras wiegte sich, sie glaubte sogar, am anderen Ende der Anlage, einen Frosch quaken zu hören. Es gab einen kleinen Steg über dem Wasser, auf dem eine winzige Bank stand. Linda holte tief Luft und lauschte dem Rauschen der Bäume.„Schön, sehr schön, hier gefällt es mir.“ Entspannt hob sie die Arme.
„Wirklich? Ich liebe dieses Haus und Jonas liebt es auch. Wenn Daniela nicht da ist, schlafe ich oft mit ihm dort. Es ist kleiner und gemütlicher als im Haupthaus. Wenn es regnet, hört man die Tropfen aufs Dach oder in den Teich plumpsen. Es erinnert mich an meine Kindheit. Meine Großmutter hatte einen kleinen Garten und ich war in den Ferien immer bei ihr zu Gast. Das war eine schöne Zeit und ich denke gerne daran zurück“, sagte er schlicht.
Langsam umrundeten sie den Teich. Linda ließ ihre Hand über das raue Holz des Geländers gleiten und trat dann auf den Steg. Eine Libelle schwirrte durch die Luft und ließ sich anmutig nieder. Ihre hauchzarten Flügel schimmerten im Schein der Sonne. Das war ein friedlicher Platz, ein Zauberort, an dem alle Zweifel zu verschwinden schienen. Linda spürte, wie ihr Herz ganz leicht und frei wurde. Plötzlich war sie überzeugt davon, genau das Richtige zu tun.
David beobachtete sie und öffnete dann die Tür des Hauses. Neugierig trat Linda ein, hölzerne Dielen knarrten unter ihren Füßen. Es gab nur einen Raum, in dem ein großes Bett, ein Tisch und ein Kühlschrank mit Kochplatte standen. „Viel ist es nicht, wie du siehst. Wer auf die Toilette will oder duschen, muss einmal rund ums Haus herum.“
War es möglich, dass zeitgleich ihre beider Blicke das Bett musterten? Eine kuschelige Decke lag darauf und ein blau-weiß-kariertes Kissen. Linda spürte, wie Hitze in ihre Wangen stieg und trat zurück ins Freie.
Das Lachen der Kinder klang von sehr weit her. Es schien, als wären sie nicht nur am Ende des Grundstücks angekommen, sondern in einer ganz anderen Welt. Da war das Rauschen der hohen Bäume hinter ihr, das Wiegen des Grases, das Flattern der Schmetterlinge. Hier war keine Perfektion, hier war nichts steril, hier glaubte sie, David wirklich erfassen zu können. Das war seine Welt, und die von Daniela war da oben, hinter den Büschen.
Lindas Blut pulsierte durch ihren Körper. Sie hatte das Gefühl, als würde ihre Stimme den Dienst verweigern. Leise räusperte sie sich. „Ich glaube, wir sollten zurück zu den Kindern gehen. Nicht, dass die uns noch suchen.“
„Ich glaube nicht, Juanita ist bei ihnen und passt auf. Ich glaube eher, wir sollten uns gar keine Gedanken machen.“ David stand vor ihr, seine Arme hingen lose herab. Da war nichts, keine Berührung, nur seine Augen, die sie gefangen nahmen und nicht mehr losließen. Sein Blick sank tiefer und tiefer – bis in ihre Seele und Linda konnte einfach nicht wegschauen.
Alles um sie herum schien zu verschwimmen, so als hätte sie Watte in den Ohren. Da waren nur sie und er und ein Zwang. Sie musste es einfach tun. Denn alles andere war vergessen, Daniela, Kevin und sogar Marie.
Linda hob ihre Hand und berührte leicht seine Wange. David schmiegte sein Gesicht förmlich in ihre Handfläche und schloss die Augen. Er tastete nach ihr und zog sie zu sich. Schweigend standen sie beieinander und lauschten dem Atem des anderen. Sie spürte die Bewegungen seines Brustkorbes, wenn er sich hob und senkte. Linda spürte seinen harten Bauch, der sich angespannt hatte. Da war ein Zittern, eine Erregung in seinem Körper.
Und da wusste sie, was sie tun wollte, tun musste. Linda umfasste seinen Körper. David beugte sich herab, immer näher kam sein Gesicht. Bis ihre Lippen sich endlich berührten. Er schmeckte köstlich, neu und dennoch vertraut, aufregend, wie etwas, nach dem sie immer gesucht hatte. Lindas Mund öffnete sich, nahm ihn auf, wie einen Ertrinkenden. Sie umklammerte seinen Hals und zog ihn noch näher an sich. Da war nur noch pure Leidenschaft, kein Verstand mehr.
Hastig strichen ihre Finger über seinen Körper, streiften das Shirt nach oben und berührten Davids nackte Haut. Er stöhnte und begann sie langsam ins Innere des Hauses zu schieben.
Linda versuchte, die Alarmglocke in ihrem Kopf zu hören, doch ihr Herzschlag übertönte alles.
Sie sanken auf das Bett, immer noch küssend. Wild umkreisten ihre Zungen sich, saugten aneinander, versuchten den anderen zu erschmecken. Da war nackte Haut an nackter Haut, heiß und erregend. In Windeseile zogen sie sich aus und konnten dabei ihre Augen nicht voneinander lassen. Oh Gott, wie schön er war, dachte Linda, noch ehe ihr Verstand vollkommen abschaltete. Immer wieder berührten sie sich. Es fühlte sich an, als wären Flammen auf ihrem Körper, die nur er löschen konnte.
Und dann endlich drang David in sie ein. Linda stöhnte unterdrückt, sie zerwühlte seine Haare, drückte sich an ihn und versuchte, seinem Tempo zu folgen. Immer schneller drehte sich der Strudel in ihrem Inneren, bis sie schließlich gemeinsam hineinstürzten.