15. Kapitel
„Es war an einem herrlichen Frühlingstag, da waren wir mit der ganzen Familie im Zoo. Und jetzt dürfen Sie mal raten, wer dort anspaziert kam – die Linda und der David. Ich hab das Erschrecken in deren Augen gesehen. Anscheinend hatten sie nicht damit gerechnet, dass sie von jemandem gesehen werden. Und dann diese Ausrede, von wegen, die Ehepartner wären irgendwo Tische reservieren. Nie im Leben hab ich das geglaubt. Im Kindergarten haben die schon immer ewig miteinander rumgesessen und geredet und so vertraut getan. So was macht man doch nicht als verheiratete Frau, mit einem Mann, der auch verheiratet ist. Also ich hab da eins und eins zusammengezählt.“
In der folgenden Nacht schlief Linda erstaunlich gut. Kevin war erst um Mitternacht heimgekommen und sie hatten sich nicht mehr gesehen. Ihre Schwiegereltern hatten Marie aus dem Kindergarten abgeholt. Erst am späten Abend kamen sie mit ihr vom Spielplatz zurück.
Ihre Schwiegermutter hatte sie misstrauisch von oben bis unten gemustert. „Du meine Güte, du siehst furchtbar erschöpft aus, Kind. Du solltest dringend wieder auf die Beine kommen.“ Prüfend hatte sie sich im Haus umgesehen. „Und die Fenster müssten auch mal wieder geputzt werden.“
Linda hatte nur mild gelächelt. „Ja, sicher, du hast recht.“ Es war immer besser, ihrer Schwiegermutter zuzustimmen. Egal was man sagte, man zog immer den Kürzeren. „Sollen wir Marie noch ins Bett bringen?“
Linda hatte abgewunken. „Nein, danke für eure Hilfe. Den Rest schaffe ich schon allein.“ Erleichtert hatte sie festgestellt, dass ihr Schwiegervater augenblicklich aufgestanden und zur Tür gelaufen war. Weitere langwierige Diskussionen hätte Linda nicht durchgestanden. Zum Glück war Marie mit einer Gute-Nacht-Geschichte zufrieden gewesen und auf der Stelle eingeschlafen. Dann war Linda auf ihre Couch gesunken und in einen unruhigen Schlaf gefallen. Kurz vor Mitternacht war sie erwacht und todmüde in ihr Bett gewankt.
Als sie aufwachte, war es bereits kurz nach neun. In der Küche lag ein Zettel.
Bring Marie in den Kindergarten. Hab dich schlafen lassen, Kevin.
Unsicher starrte Linda die wenigen Worte an. Immer noch war es ihr schier unmöglich, zu glauben, dass ihr Mann diese Mails geschrieben haben sollte. Doch eine andere Erklärung gab es nicht. Da fiel ihr wieder der kleine Zettel ein, den sie gestern in der Zigarettenpackung gefunden hatte.
Mit ihrer Kaffeetasse in der Hand setzte sie sich auf die Terrasse und musterte das Stück Papier. Linda ergriff ihr Handy, tippte die Nummer ein und wartete. Der Ruf ging ab, es bimmelte endlos lange. Dann schaltete sich eine Mailbox ein.
Laut und deutlich ertönte Danielas Stimme durch die Leitung. Erschrocken zuckte Linda zusammen und legte auf. Mit zitternden Händen legte sie ihr Telefon auf den Tisch und starrte es an. Ihr Herz klopfte wie verrückt und sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie nur eine Bandansage gehört hatte.
Nach einigen Minuten drückte sie entschlossen die Wahlwiederholung und lauschte. Da war sie wieder - Danielas Stimme. Sie nannte eine kurze Adresse und verstummte dann.
Linda lief nach drinnen, holte Zettel und Stift, hörte die Ansage erneut ab und notierte alles auf einem Zettel.
„Schmaler Weg 35a, Porschstein, Sächsische Schweiz.“ Das war’s, mehr kam nicht.
Was sollte das bedeuten? Musste sie die Polizei informieren oder zumindest David Bescheid geben? Doch irgendein Grund musste dahinterstecken, dass Daniela ausgerechnet ihr die Schachtel samt Zettel in die Tasche gesteckt hatte. Vielleicht machte Linda sich vollkommen lächerlich, wenn sie die Polizei anrief.
Sie gab die Adresse in ihr Handy-Navi ein. Die Fahrt war nicht allzu weit. In etwas mehr als einer Stunde könnte sie am Ziel sein. Und schon stand ihr Entschluss fest.
Linda zog bequeme Sachen an. Dann packte sie einen kleinen Rucksack mit einer Flasche Wasser und einer Packung Tabletten für alle Fälle.
Die Fahrt begann, die Route führte sie auf der Autobahn bis Pirna und dann immer Richtung Elbsandsteingebirge. In der Ferne tauchten die markanten Tafelfelsen auf, einer von ihnen war der Königstein. Deutlich konnte sie die Festungsanlagen erkennen. Linda spürte, wie sie schneller atmete. Wie wunderbar hatten sie alles zusammen organisiert, und am Ende dieses Tages war nichts mehr gewesen wie vorher.
Das Navi lotste sie kurz vor Königstein von der Hauptstraße weg und führte Linda durch verschlafene Dörfer, die friedlich im Schein der Herbstsonne lagen. Blätter zeigten sich in Rot- und Gelbtönen und feuerten ein Farbfeuerwerk ab. Katzen streunten durch Gärten, Rentner warteten an Bushaltestellen, Bauern tuckerten ein letztes Mal mit ihrem Traktor übers Feld. Linda öffnete das Fenster und ließ die kühle Luft in ihr Auto. Sie fuhr langsamer, genoss die Gerüche und den Fahrtwind. Friedlich war es hier, ganz anders als in Dresden. Fast ein wenig so, als wäre die Zeit in diesen Ortschaften stehen geblieben, und es könnte einem hier nichts Böses widerfahren.
Dann war Porschstein erreicht, ein Fünfzig-Seelen-Dorf, mehr schien es nicht zu sein. Mitten im Ort führte ein schmaler Fahrweg hinüber zum Rand eines Waldes. Dort erkannte sie eine kleine Bungalowsiedlung. Linda stellte ihr Auto auf dem angelegten Parkplatz ab und folgte dem Weg, zwischen den Häuschen empor. Er war schmal, von Unkraut bewachsen und schien nicht mehr so häufig begangen zu werden.
Die meisten der Bungalows wirkten unbewohnt, einige regelrecht verfallen. Da waren Dächer eingestürzt, Türen und Fenster fehlten. Viele der Gärten waren mit Unkraut bewuchert und hatten den Kampf gegen die Natur bereits verloren. Über allem lag ein Hauch vergangener Zeiten.
Eines der allerletzten Häuser trug die Nummer 35a. Es stand schon mitten im Wald und war dadurch relativ schattig gelegen. Ein altes verblichenes Holzschild hing schief am verwitterten Gartenzaun. Sämtliche Fensterläden des Hauses waren geschlossen.
Prüfend schaute Linda sich um, doch nur die Vögel zwitscherten leise in den Zweigen über ihr. Behutsam öffnete sie das Gartentor und schlich den mit Blättern bestreuten Weg hinauf zur Hütte. Es gab eine kleine Terrasse, auf der Gartenmöbel standen. Sie waren älter, aber dennoch sauber. Dicke Moosflechten wuchsen auf dem Dach.
Ein Blumentopf mit Herbstastern stand neben der Tür. Die verblühten Stellen hatte jemand sorgfältig entfernt.
Linda klopfte am Eingang, doch nichts geschah. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten, aber die Tür war verschlossen. Sie drehte eine Runde ums Haus, einen anderen Zugang gab es nicht. Keiner der Fensterläden ließ sich von außen öffnen.
Unentschlossen stand Linda vor der Tür. Was sollte sie hier? Spontan hob sie den Blumenkübel an – nichts. Suchend sah sie sich um. Eine alte Wäscheleine spannte sich von Baum zu Baum. Sie hing durch, einige Klammern rotteten vor sich hin. Und doch hing dort ein nagelneuer Klammerbeutel. Er war rot und hatte kleine weiße Punkte. In gewisser Weise wirkte er wie ein Fremdkörper in diesem verwilderten Garten und stach ihr augenblicklich ins Auge.
Linda kämpfte sich durch hochgewachsene Brennnesseln, ergriff den Beutel und schüttete seinen Inhalt auf die Wiese. Zwischen bunten Klammern fiel ein einfacher Schlüssel zu Boden.
„Na bitte.“ Triumphierend hielt sie ihn vor ihre Nase. Der Schlüssel passte perfekt, leicht drehte er sich im Schloss und die Tür öffnete sich.
In der Hütte herrschte Dämmerlicht, deswegen öffnete Linda zunächst einen der hinteren Rollläden und zog dann die Tür hinter sich zu.
Es gab ein Bett mit Decken und Kissen, einen Tisch, mehrere Stühle. Da war eine einfache Kochplatte auf einem Küchenschrank, neben der Dosen mit Fertiggerichten standen. Linda warf einen Blick in die Schränke, die meisten waren leer – ein wenig Geschirr, Packungen mit Kerzen und Stapel von alten Zeitungen – mehr gab es nicht. Nichts deutete darauf hin, dass Daniela irgendetwas mit dieser Hütte zu tun hatte. Und trotzdem war Linda sicher, dass sich hier zumindest zeitweise jemand aufhalten musste. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, nach einem schweren Parfüm, was sie glaubte, Daniela zuordnen zu können. Doch wo war sie und warum war sie hier?
Entmutigt ließ Linda sich auf einen der Stühle fallen und holte ihre Flasche Wasser aus dem Rucksack. Sie drehte den Verschluss auf, der Inhalt brodelte und ergoss sich als Schwall auf ihre Hose.
„So ein Mist.“ Linda griff sich eines der angegrauten Handtücher, die an einer Hakenleiste neben der Tür hingen. Dabei fiel ihr Blick auf den rot umrandeten Spiegel über dem Waschbecken.
Er war nagelneu und wirkte genauso fremdartig, wie der Klammerbeutel im Garten. Der Spiegel hing schief, und nicht nur das, er stand an einer Seite sogar ein wenig von der Wand ab. Linda versuchte dahinterzuschauen, ergriff ihn schließlich und nahm ihn ab. Ein dicker Umschlag war mit Klebestreifen auf seiner Rückseite befestigt.
Und nicht nur das. Hinter dem Spiegel gab es einen kleinen Hohlraum, in dem sich eine Tasche befand. Es war eine Make-up-Tasche und sie gehörte Daniela. Da war Linda sich ganz sicher. Bei ihrem Besuch im Eiscafé hatte Daniela eine Puderdose aus genau dieser Tasche gezogen und sich damit die Nase gepudert.
Linda setzte sich an den Tisch, öffnete den Umschlag und warf einen Blick hinein. In seinem Inneren war ein dicker Stapel Papiere – unmöglich, die alle zu überfliegen. Da waren Zahlen und Begriffe, die ihr nichts sagten. Des Weiteren fand sie einen Pass. Danielas Gesicht schaute sie an, doch der Name darin war ein anderer. In einem separaten Umschlag lagen Geldscheine in verschiedenen Währungen.
Ratlos betrachtete Linda den Inhalt des Umschlages. Eigentlich hatte sie sich Klarheit erhofft, doch stattdessen war sie noch verwirrter.
Plötzlich hielt sie den Atem an. Hatte sie sich getäuscht oder war da nicht gerade ein Schatten vor dem Fenster gewesen? Linda stand auf, drückte sich an die Wand und lauschte. Außer dem Zwitschern der Vögel war nichts zu hören.
Zentimeter für Zentimeter öffnete sie die Haustür und schielte um die Ecke. Der Garten war leer, niemand zu sehen. Vielleicht war Daniela gekommen und versteckte sich.
„Daniela, bist du es?“, fragte Linda mit unterdrückter Stimme, doch keine Antwort kam.
Sie lief wieder ins Innere der Hütte und packte alles an Ort und Stelle. Gerade als Linda den Umschlag wieder am Spiegel befestigen wollte, kam ihr eine Idee. Sie nahm den Pass noch einmal heraus und schoss ein Foto von der Innenseite. Dann griff sie in ihren Rucksack, suchte ihren Lippenpflegestift und legte diesen in die Kosmetiktasche.
Linda ließ den Rollladen wieder herab und drehte sich um. Alles wirkte vollkommen unverändert – so, als wäre sie nie hier gewesen. Der Schlüssel kam wieder in die Klammertasche und sie lief durch den Garten hinunter Richtung Ausgang.
Vor dem Tor stutzte sie. Linda war sicher, das Türchen hinter sich zugezogen zu haben. Einfach, damit niemand bemerkte, dass sie sich hier aufhielt. Jetzt stand das Tor weit offen.
Mit angehaltenem Atem musterte sie ihre Umgebung. Der Wald mit seinen hohen Bäumen, der vorhin noch so friedlich ausgesehen hatte, wirkte jetzt beinahe bedrohlich mit seiner Dunkelheit. Einsam war es hier, abgelegen. Sollte ihr hier etwas zustoßen, würde niemand ihre Hilferufe hören. Linda spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete.
Sie setzte den Rucksack auf ihren Rücken, verschloss das Gartentor und marschierte, so schnell sie konnte, zurück zum Parkplatz. Die letzten Meter rannte sie beinahe, mit dem Fahrzeugschlüssel bereits in der Hand. Ihr kleines Auto stand immer noch einsam in der Septembersonne, die Schattenbilder durch das Blattwerk der Bäume auf den Boden zeichnete.
Fast schon erleichtert stieg Linda ein und machte sich auf den Heimweg. Bei den ersten Häusern des Dorfes atmete sie auf. Die Zivilisation hatte sie wieder. Von Zeit zu Zeit blickte sie in den Rückspiegel, doch die Straße hinter ihr blieb leer. Die Fragen in ihrem Kopf waren jetzt noch drängender geworden als vorher. Warum hatte Daniela ausgerechnet sie dorthin gelotst? Wollte Daniela sich tatsächlich absetzen, irgendwo ein neues Leben beginnen? Der Pass und das viele Geld wiesen daraufhin. Aber warum vertraute sie ausgerechnet ihr? Und welche Rolle spielte David in dieser ganzen Geschichte? Er schien ahnungslos zu sein, was die Pläne seiner Frau betraf, obwohl auch er von Geldern gesprochen hatte, die Daniela abgehoben hatte.
Linda dachte an ihren Besuch zurück. Seine Verzweiflung über Danielas Verschwinden hatte echt geklungen. Aber war sie das wirklich?
Sie musste unbedingt zur Polizei gehen und ihre Entdeckungen mitteilen. Schon bei dem bloßen Gedanken bekam Linda Kopfschmerzen. Während sie auf Dresden zufuhr, verschob sie den Besuch auf den morgigen Tag. Es war gleich drei. Auf ein paar Stunden mehr würde es ganz sicher nicht ankommen. Jetzt würde sie in den Kindergarten fahren, ihre Tochter abholen und endlich wieder zurück in den Alltag finden.
Als sie das Kindergartengelände betrat, spürte sie die neugierigen Blicke der anderen Mütter. Diese saßen wie immer auf Bänken und schwatzten miteinander. Linda drückte ihren Rücken durch und marschierte tapfer zum Klettergerüst, auf dem Marie gerade herumturnte.
Mit einem Jubelschrei stürmte ihre Tochter ihr entgegen und schlang die Arme um Lindas Körper. „Mama, endlich holst du mich wieder ab.“
Linda ging in die Hocke und presste Marie an sich. Das Getuschel hinter ihr war nicht zu überhören. Mit einem Ruck drehte sie sich um und starrte das Grüppchen Mütter an.
„Marie, wartest du kurz hier? Ich bin gleich wieder da.“
Mit großen Schritten lief Linda auf die Gruppe zu. Nacheinander schaute sie den Frauen in die Augen. Die meisten mieden ihren Blick und sahen verlegen zu Boden. „Gibt es irgendein Problem? Wenn ja, solltet ihr es jetzt sagen.“ Sie hielt kurz inne. Verblüfft schauten sich die Frauen an, schwiegen aber. Selbst Rebecca schluckte nur heftig. „Hat niemand etwas zu sagen? Nein? Gut, dann haltet endlich den Mund und lasst mich in Frieden.“
Dann ergriff Linda die Hand ihrer Tochter. Bei jedem Schritt fühlte sie sich besser. Es war eine Befreiung, es war eine Wohltat. Und einen Moment glaubte sie, Danielas Stimme in ihrem Kopf zu hören. „Gut gemacht.“