EINUNDDREISSIG

Fröstelnd und schwitzend zugleich und mit einem schier unerträglichen Stechen im Kopf verharrte ich in meiner geduckten Haltung.

Ich hörte, wie die Stahltür ins Schloss fiel. Das Licht am Tunnelende trübte sich. Weil ich Tränen in den Augen hatte. Ich konnte keinen Gedanken mehr fassen, in meinem Kopf herrschte Dunkelheit, so wie in diesem Tunnel. Meine Beine hatten sich verkrampft, ich war unfähig, mich aufzurichten.

Er ist tot … glaub ich jedenfalls.

Minutenlang war ich völlig weggetreten. Bis ich ein Vibrieren wahrnahm, leise, aber unverkennbar. Es wurde lauter und intensiver.

Schlagartig wurde mir wieder klar, wo ich mich befand. In einem U-Bahn-Tunnel. In den gleich ein Zug einfahren würde. Meine Starre löste sich, und ich fing an zu rennen. Aber schon bald begriff ich, dass ich es niemals bis zur nächsten Station schaffen würde. Trotzdem rannte ich weiter. Ich hörte, wie die Bahn verlangsamte, um die Station zu durchfahren.

Liegt Rolf noch auf dem Bahnsteig?, dachte ich. Dann sehen der Zugführer und die frühen Fahrgäste ihn … Oder haben die Soldaten ihn bereits fortgeschleift?

Kurz entschlossen drehte ich mich um und stellte mich mitten aufs Gleis. Ich musste es riskieren. Und mir war inzwischen egal, ob es klappte oder nicht. Wenn der Zug mich frontal erfasste, hätte ich es wenigstens rasch hinter mir.

Ich breitete die Arme aus, winkte und schloss die Augen.

Erst spürte ich einen Luftschwall. Dann hörte ich ein Sausen, als die Bahn wieder beschleunigte. Ich sah Helligkeit hinter den Lidern, machte die Augen aber nicht auf, sondern erwartete den Aufprall, den Schmerz, das große Nichts.

Plötzlich Stille.

Ich öffnete die Augen und blickte in das erschrockene Gesicht des Zugführers hinter der Scheibe. Einen Meter vor mir.

Er fasste sich erstaunlich schnell. Machte die Tür auf, zwängte sich zwischen Zug und Tunnelwand nach vorn. Im selben Augenblick gaben meine Knie nach, und ich sackte zusammen. Ich stürzte aber nicht zu Boden, denn der Mann fing mich auf.

Dass er mich in den Führerstand schleppte, bekam ich wie durch einen Nebelschleier mit.

Kaum eine Minute später fuhr die Bahn wieder an. Ich lag hinter dem Fahrer auf dem Boden. Er wandte sich halb zu mir um: »Bleib liegen, damit dich keiner sieht.«

Wie gut, dass ich ihm nichts zu erklären brauchte …

Ich schloss die Augen und hatte das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Nur noch das Rattern der Bahn war da, ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers.

Irgendwann hörte ich die Türen aufgehen. Schritte. Dann war es still. Plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Eine Hand, die mich sanft schüttelte.

Ich machte die Augen auf und sah das Gesicht des Fahrers vor mir.

»Wir sind da. Du bist im Westen.« Er half mir beim Aufstehen und wiederholte dabei: »Du bist im Westen.«

Ich wollte ihm danken, brachte aber keinen Ton heraus, nicht einmal ein Nicken bekam ich zustande.

Dann stolperte ich auf die Tür zu. Der Mann fasste mich kurz am Arm und deutete zur Treppe. »Du bist im Westen«, sagte er ein letztes Mal. »Jetzt hast du nichts mehr zu befürchten.« Und mit einem Zischen gingen die Türen der Bahn wieder zu.

Stufe um Stufe schleppte ich mich empor und trat dann ins Freie. Es war noch ziemlich dunkel. Die Straßenlaternen warfen ihre Lichtkreise auf den Bürgersteig. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Das blaue U-Bahn-Schild über dem Zugang war beleuchtet. U-Bhf Leinestraße.

Im Osten der erste Streifen Helligkeit. Erst jetzt spürte ich die eisige Kälte und fröstelte. Ein Auto fuhr vorbei. Ein Peugeot. Ich war im Westen. Allein.