Ich kam vergnügt aus dem Seminarraum. Wir hatten gerade französische Grammatik gehabt. Französisch war eines der wenigen Fächer, bei dem Politik keine große Rolle spielte und die Partei keinen Einfluss auf die Inhalte nahm.
Florian, Bernd und Hans warteten auf mich. Ich lächelte meinen Bruder an und legte den Arm um seine Mitte. Er erwiderte das Lächeln, was meine Laune noch weiter hob.
»Hunger?«, fragte er.
Und ob! Ich nickte.
Wir ließen uns mit dem Strom der Studenten zur Mensa treiben. Hans erläuterte Florian und Bernd etwas. Ich hörte nicht hin, weil ich noch zu viel futur simple und futur antérieur im Kopf hatte. Der Französisch-Professor war ein umgänglicher Mensch. Ein älterer Franzose mit kleiner runder Brille und altmodischem Spitzbart. Er erzählte immer wieder einmal von seinen Erlebnissen im Spanischen Bürgerkrieg, wo er mit den Internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft hatte. Anders als viele seiner Kollegen unterrichtete er nicht so, als hielte er eine politische Rede vor Tausenden Zuhörern auf dem Alexanderplatz. Wir waren nur wenige im Fach Französisch – der Eignungstest für die Zulassung war extrem schwierig, weil die Partei insbesondere »illoyale Elemente« davon abhalten wollte, Westsprachen zu studieren. Aber ich hatte gebüffelt und es wie durch ein Wunder geschafft. Insgeheim hoffte ich, nach meinem Sprachmittlerstudium in Französisch und Russisch auf internationaler Ebene dolmetschen zu können und so einmal ins Ausland zu kommen, was ich beim Aufnahmegespräch jedoch nicht gesagt hatte. Dann könnte ich den Menschen im Westen vom Sozialismus berichten, ohne fliehen zu müssen. Begann die Versöhnung der Völker denn nicht mit gegenseitigem Verständnis? Vielleicht ließe sich sogar ein Atomkrieg abwenden, wenn der Westen einsähe, dass wir nicht der Feind schlechthin waren.
Aber ich mochte auch den Klang der französischen Sprache und hatte einiges an Literatur im Original gelesen.
In der Mensa war es voll und laut. Fader Gemüsedunst schlug uns entgegen. Korpulente Frauen in zu engen weißen Kitteln und mit Papierhauben auf dem Kopf schleppten Essen in Metallbehältern heran, andere befüllten Teller für die Schlange stehenden Studenten. Man aß, was einem vorgesetzt wurde – aber immerhin gab es drei Gerichte zur Auswahl. Heute waren es Gulasch, Bohnen im Speckmantel mit Kartoffeln und Spaghetti mit einer dubiosen Soße.
Florian stand bereits für die Spaghetti an, Bernd und Hans gesellten sich dazu.
Ich legte Besteck und eine Serviette auf mein Tablett und stellte mich für die Bohnen an. Die Frau, die die Teller füllte, kam kaum nach. Ihre Brille rutschte dauernd von der Nase, sie musste sie immer wieder zurechtrücken. Und sie schwitzte stark. Ich schaute weg, um nicht sehen zu müssen, ob womöglich Schweißtropfen auf den Tellern landeten, und versuchte schon einmal, einen freien Tisch zu erspähen.
Da sah ich ihn.
Kein Irrtum möglich: Er trug dieselbe braune Hose und dasselbe karierte Hemd wie beim letzten Mal. Der Student, der mich nach meinem Großvater gefragt hatte … Er stand an eine Wand gelehnt da, ohne Mappe, ohne Tablett, und beobachtete aufmerksam das Treiben ringsum, als würde er sich in Gedanken Notizen machen. Als er in meine Richtung schaute, wandte ich schnell den Kopf ab.
Hatte er mich entdeckt?
Ja! Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er sich in Bewegung setzte. Auf mich zukam …
Verdammt! Was wollte er?
Wenn ich jetzt aus der Schlange ausscherte, müsste ich mich nachher wieder hinten anstellen … und ich war gleich dran.
»Ohne Soße, bitte«, sagte ich zu der schwitzenden Frau. Sie nahm grummelnd einen anderen Teller.
»Hallo, Marthe«, klang es dicht hinter mir.
Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch. Als hätten seine Worte mir einen Hieb versetzt.
»Ich hab was für dich.«
Wenn ich ihn ignorierte, würde er sich vielleicht verziehen. Aber dann streifte sein Arm den meinen, und noch ehe ich ihn wegschubsen konnte, legte er etwas auf mein Tablett. Ein Foto.
»Ihr Essen!«, mahnte die schwitzende Frau.
Ich hob den Kopf, nahm meinen Teller entgegen und stellte ihn auf das Bild. Die paar Sekunden vorher hatten genügt, um zu sehen, was darauf war: zwei lachende junge Männer in Wehrmachtsuniform. Den Mann links kannte ich. Vom Hochzeitsfoto meiner Großeltern.
Meine Wangen glühten. Ich zwängte mich an den Wartenden vorbei, vergaß, mir ein Getränk zu nehmen, zahlte hastig und ging so schnell wie möglich und ohne mich noch einmal umzusehen in den Sitzbereich, wo ich nach den anderen Ausschau hielt. Da! Ein hochgereckter Arm.
Sie saßen an einem langen Tisch ganz hinten. Ich eilte hin und konnte mich – ein Glück – mit dem Rücken zu den Warteschlangen setzen.
Florian unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann, der ihm gegenübersaß. Auch Hans beteiligte sich und nickte jedes Mal mit vollem Mund, wenn der andere etwas sagte.
Das Foto lag nach wie vor unter meinem Teller, keine Ecke schaute hervor. Nachher, wenn ich allein war, würde ich es mir ansehen. Die Frage, warum der Bursche mir ein Foto von meinem Großvater gegeben hatte und woher er es hatte, ließ mir aber keine Ruhe. »Das ist meine Schwester Marthe«, hörte ich Florian plötzlich sagen. »Marthe, das ist Andreas, von dem Hans uns kürzlich erzählt hat.«
»Nett, dich kennenzulernen.« Ich nickte ihm zu und steckte rasch ein großes Stück Kartoffel in den Mund, denn mir war nicht nach Plaudern. Aber um nicht weiter an das Foto denken zu müssen, lauschte ich dem Gespräch der vier.
Es ging um unsere Leseklubtreffen. Auch von 1984 von George Orwell war die Rede, wobei sie weder den Titel noch den Autor erwähnten, um bei Außenstehenden keinen Verdacht zu erregen. Hörte man ihnen zu, konnte es genauso gut um Das Kapital von Karl Marx gehen.
Ich versuchte, mir ein Bild von diesem Andreas zu machen. Er wirkte ziemlich selbstgefällig. Jede von Florians Äußerungen parierte er mit Einwänden, als wäre es ein Duell. Er wollte Eindruck schinden, keine Frage.
»Werdet ihr eigentlich nicht von der Stasi überwacht?«, fragte er auf einmal.
Mir blieb fast der Bissen im Hals stecken. Zum Glück saßen an unserem Tisch keine anderen Leute mehr. Dennoch meinte ich, in Florians Augen einen Anflug von Panik zu sehen.
»Wir glauben nicht«, sagte er vorsichtig.
Warum stellte Andreas so eine Frage in aller Öffentlichkeit? Woher kannte Hans ihn gleich noch mal? Arbeitete er womöglich selbst für die Stasi und wollte Florian aus der Reserve locken, indem er sondierte, wie viel er über Orwell wusste und wie er dessen Botschaft auffasste? Florian ging nicht groß auf das Thema ein, und das Gespräch plätscherte weiter. War er denn gar nicht misstrauisch? Ich wollte, dass er mich ansah, damit ich ihm meine Bedenken signalisieren konnte. Aber er widmete sich ganz Andreas. Von dem Foto unter meinem Teller ahnte er nichts, und auch nicht von dem unheimlichen Kerl, der mich verfolgte. Ich würde ihm das Foto zeigen – schließlich ging die Sache auch ihn an. Es ärgerte mich maßlos, dass er so unbefangen redete und blind für die falschen Signale war, die Andreas aussandte.
Das Essen schmeckte mir ohnehin nicht, darum legte ich die Gabel weg und schob meinen Stuhl zurück.
»Ich geh dann mal. Das Seminar fängt gleich an.« Ich nahm mein Tablett und stand auf. Ohne mich umzuschauen, verließ ich die Mensa.
»Warte doch, Marthe!« Florian war mir nachgekommen und hatte mich eingeholt. »Alles in Ordnung?«
Ich zuckte mit den Schultern und wollte weiter.
Er hielt mich am Ellbogen fest.
»Alles in Ordnung?«, wiederholte er mit besorgtem Blick.
Ich tastete nach dem Foto in meiner Tasche. Sollte ich es ihm jetzt erzählen? Ach, vielleicht machte ich mir Gedanken um nichts …
»Findest du nicht, dass Andreas seltsame Fragen stellt?«, sagte ich stattdessen.
»Schon. Ich glaube, er ist ein bisschen unsicher und will das überspielen. Im Grunde scheint er ein netter Kerl zu sein. Hans vertraut ihm. Und ich vertraue Hans.«
»Dann werde ich das auch tun«, gab ich mich geschlagen.
Florian lächelte mich strahlend an, und ich zog die Hand ohne Foto aus meiner Tasche.