Andreas bot an, mich nach Hause zu begleiten. Unterwegs sprachen wir kaum. Ich sah mich mehrmals um, ob uns auch niemand folgte. Er merkte es, äußerte sich aber nicht dazu. Je weiter wir uns vom Leninplatz entfernten, desto ruhiger wurde ich. Keiner hat uns gesehen, sagte ich mir immer wieder, und als wir in unsere Straße einbogen, hatte ich meine Sicherheit wiedergefunden. »Magst du noch kurz mit zu mir kommen?«, fragte Andreas.
Ich blieb abrupt stehen. Was sollte das denn?
»Nur auf ein Glas. Ich kann jetzt ohnehin nicht schlafen«, sagte er. »Wir könnten unseren Erfolg ein bisschen feiern.«
Ob Florian schon zu Hause war? Und auf mich wartete? Wenn ich mit jemandem feiern wollte, dann mit ihm.
»Nur auf einen Sprung«, sagte Andreas.
Ich überlegte. Die Uni war ein ganzes Stück weiter von hier als der Leninplatz, sodass Florian wahrscheinlich noch nicht zurück war. Und irgendwie hatte Andreas recht: Schlafen würde ich jetzt auch nicht können.
»Na gut«, sagte ich, noch ehe ich mich so recht entschieden hatte. »Wo wohnst du?«
Zu meinem Erstaunen wohnte Andreas in dem Haus hinter unserem. Als wir in seiner Wohnung waren und ich aus dem Fenster schaute, fiel mir auf, dass er direkt in unser Zimmer blicken konnte. Dort brannte kein Licht, also war Florian noch nicht da. Andreas holte zwei Fläschchen Club-Cola aus dem kleinen Kühlschrank neben seinem Bett.
»Warst du vorhin zu Hause? Ich meine, bevor wir uns getroffen haben?« Ich wandte mich halb um.
Er zog die Brauen hoch und griff nach dem Flaschenöffner.
»Ja klar.«
»Florian hat sich Sorgen gemacht, weil in einem Fenster gegenüber unserer Wohnung noch Licht war. Ich glaube, er hat befürchtet, da wohne ein Spitzel, der nicht schlafen kann.«
»Schlafen konnte ich nicht, das stimmt.« Er gab mir ein Fläschchen und stellte sich neben mich ans Fenster. »Auf unsere Aktion!« Er prostete mir zu und nahm einen tüchtigen Schluck.
»Auf unsere Aktion«, wiederholte ich leise.
Ob bei Florian und Hans auch alles gut gelaufen war? Was, wenn sie ertappt worden waren? Ich wurde wieder unruhig.
Im Grunde wollte ich nichts lieber als nach Hause, zumal ich mich in Andreas’ Wohnung leicht unbehaglich fühlte. Aber schon nach zehn Minuten wieder gehen, wäre unhöflich. Also trank ich von meiner Cola und fragte dies und das in der Hoffnung, ein wenig mehr über ihn zu erfahren.
Er gab neutrale, unpersönliche Antworten, was es nicht gerade einfach machte, das Gespräch in Gang zu halten.
Mit einem Mal wurde mir der Grund für mein Unbehagen klar: Andreas’ Wohnung war genau wie seine Antworten: neutral und unpersönlich. Und seltsam kahl. Ein Bett, ein Schrank, eine Kommode, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Waschbecken und der kleine Kühlschrank mit einer Schreibmaschine darauf – das war die ganze Einrichtung.
Das Bett war ordentlich gemacht. Nirgends lagen Kleider herum oder standen Schuhe. Kein Buch, keine Zeitschrift neben dem Bett. Kein benutztes Geschirr auf dem Waschbeckenrand. Kein Handtuch am Halter. Kein Bild an der Wand.
»Wohnst du schon länger hier?«, fragte ich.
»Seit zwei Monaten«, kam es ohne Zögern.
»Und vorher?«
»Da habe ich in Rostock gewohnt.«
Stimmt, das hatte Hans ja erwähnt.
»Was hat dich hierher verschlagen?«
»Ich hab einen Studienplatz an der Kunstakademie bekommen.«
»Wirklich? Dann müsstest du meine Mutter kennen. Sie ist dort Dozentin. Sie heißt Gudrun Lentz.«
Er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Aber ich kenne natürlich noch nicht alle Dozenten.«
»Egal. Ist jedenfalls ein komischer Zufall. Und womit beschäftigst du dich so?«
»Derzeit mache ich Skizzen mit Holzkohle. Und modelliert habe ich auch schon.«
»Warum hast du nichts an der Wand hängen?«
Andreas blickte sich in seinem Zimmer um, als käme ihm erst jetzt so recht zu Bewusstsein, wie kahl die Wände waren.
»Was mir gefällt, hänge ich lieber nicht auf«, sagte er. »Weil es nicht sozialistisch genug ist.«
Ich lachte. Und wollte schon sagen, dass meine Mutter es genauso mache, dass ihre besten Bilder sich ebenfalls nicht zum Herzeigen eigneten. Aber ich verkniff mir die Bemerkung – solche Dinge behielt man besser für sich.
Weil er mir seine Skizzen nicht zeigen und ich nicht weiter über meine Mutter reden wollte, ging uns bald der Gesprächsstoff aus. Ich nahm noch einen Schluck Cola.
»Ich dachte erst, du bist an der Uni«, sagte ich, um die Stille zu durchbrechen. »Weil wir dich in der Mensa …«
»Hans hatte mich gebeten hinzukommen, damit ich euch kennenlerne.«
»Ach so.« Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Jetzt muss ich aber gehen. Florian kommt bestimmt bald nach Hause. Danke für die Cola.« Und ich ging zur Tür, ehe er einen Einwand machen konnte.