ZWEIUNDZWANZIG

Opa hatte für Überraschungen nichts übrig, auch nicht für die allerkleinsten. Dass Oma ihn an seinem Geburtstag ins Schlepptau nahm, ohne zu sagen, wohin es ging, ärgerte ihn gewaltig. Seine Laune besserte sich auch nicht, als sie bei uns ankamen und er die Familie versammelt vorfand. Die Krone, die Sybille für ihn gebastelt hatte, wollte er nicht aufsetzen. Oma bemühte sich, sein unwilliges Gegrummel durch besondere Herzlichkeit auszugleichen und seine Gewitterstimmung zu mildern.

Florian und ich tauschten einen raschen Blick – auch wir waren entschlossen, uns den Tag nicht von seiner Übellaunigkeit verderben zu lassen. Oma hatte sich so auf die Feier gefreut, Sybille hatte gebastelt, Mutter sich in der Küche verausgabt und Vater Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ein Paar erstklassige Schuhe als Geschenk für ihn aufzutreiben.

Bei Tisch erzählte Sybille von ihrer Klassenfahrt, und wir stellten allerhand Fragen, damit das Gespräch nicht verstummte. Mutter trug die Suppe auf, die Opa schmeckte, und er wurde ein bisschen zugänglicher. Wahrscheinlich dachte er, dass es auch ein stinknormaler Samstagmittag sein könnte.

Die Krone aus Goldpapier lag ungetragen auf dem Sofa, auf das Geburtstagsständchen hatten wir wohlweislich verzichtet, und Sybille hatte sogar mit Opa den Platz getauscht, sodass sie auf dem girlandenbekränzten Stuhl saß. Das Album befand sich, in Geschenkpapier eingeschlagen, in einer Kommodenschublade. Ich wollte es Opa erst nach dem Essen geben und die Gelegenheit nutzen, ihn zu fragen, was es mit diesem Jawnewitsch auf sich hatte.

Als wir gegessen hatten und Mutter in der Küche Kaffee kochte, ging ich zur Kommode.

»Siebzig Jahre sind eine ganz schön lange Zeit«, begann ich und nahm das Päckchen aus der Lade. »Vielleicht zu lange, als dass man sich noch an alles erinnert. Darum haben wir ein Album für dich zusammengestellt, Opa.« Ohne zu ahnen, welche Erinnerungen ihm lieb waren und welche nicht, hatte ich meine Auswahl getroffen, und nun sollte er das Ding auch haben. Und es war ein guter Auftakt für mein Anliegen.

Oma rückte näher heran, als ich das Geschenk vor Opa hinlegte. Er warf einen Blick darauf, fing aber erst nach einer kleinen Weile mit dem Auspacken an.

Dann legte er das Album vor sich auf den Tisch.

Ob er sich freute? Anzusehen war es ihm nicht …

Mutter kam mit dem Kaffee und schenkte allen ein.

Opa sah kurz zu mir her.

»Nun guck doch mal rein!« Oma stieß ihn an und schaute über seinen Arm hinweg mit, als er das Album aufschlug.

Ich ließ Opa nicht aus den Augen.

Erst kamen die unverfänglichen Bilder. Mit Sybille, Florian und mir. Danach ging es weiter in die Vergangenheit. Ich biss mir auf die Lippe, als die ersten Fotos aus Mutters Backfischzeit kamen. Dann ein Bild von Rolf. Ein Lächeln huschte über Opas Gesicht – oder bildete ich mir das nur ein?

Mutter wurde auf den Fotos jünger … gleich kamen die Kriegsjahre.

Und da war es. Das Foto, das der Student mir gegeben hatte. Das Opa in Wehrmachtsuniform zeigte. Und das nicht in Afrika entstanden war.

Er schaute es an, aber ohne es richtig wahrzunehmen, wie mir schien. Vielleicht, weil er alle Fotos nur oberflächlich betrachtete, weil er das Album nur der Form halber durchsah und keine Erinnerungen zulassen wollte. Jedenfalls hatte er sich bisher noch zu keinem Bild geäußert. Oma hingegen hatte immer wieder »Ach« und »Oh« gerufen und die Namen der Abgebildeten genannt.

Gerade wollte er die Seite umblättern, da fasste ich über den Tisch und legte den Finger auf das Foto.

»Wo ist das Bild gemacht worden?«

Opa verzog keine Miene. »Das weiß ich nicht mehr. Im Krieg eben.«

»Aber wo genau? Wie Afrika sieht der Hintergrund nicht aus.« Er zuckte mit den Schultern.

»Könnte Russland sein. Warst du denn auch an der Ostfront?«

Florian trat mir unter dem Tisch ans Schienbein.

»Ich bin im Krieg weit herumgekommen«, sagte Opa. Ruhig und gelassen, aber sein Blick war jetzt stechend. »Woher das Bild ist, weiß ich nicht mehr.«

Ich zögerte. Sollte ich es wagen? Den Namen nennen …

»Gut hast du ausgesehen in deiner Uniform«, sagte Oma, und dann an uns gewandt: »Ja doch, die Uniform hat ihm wirklich gestanden.« Ich durchschaute ihr Manöver: Sie wollte ablenken. Weil auch sie von der Sache wusste?

»Könnte es in Jawnewitsch gewesen sein?« Ich bemühte mich um einen arglosen Tonfall.

Wieder ein Tritt von Florian.

»Jawnewitsch?«, wiederholte Opa. »Sagt mir nichts. Ich hab mir nicht jeden Ortsnamen gemerkt.« Und er blätterte resolut um.

»Ach, schau mal, Gudrun, da bist du!«, rief Oma entzückt.

Aber so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. »Warum hast du immer nur von Afrika erzählt?« Mein Ton war anklagend, aber das war mir jetzt egal.

»Ich erzähl doch nicht nur von …«

»Doch! Immer nur diese Kamelgeschichte aus der Wüste! Warum nie von anderen Orten, wo du warst?«

»Weil ich darüber nicht reden will!«, gab Opa scharf zurück. »Du hast ja keine Ahnung, was im Krieg alles passiert ist! Glaubst du, ich hab Lust, immer und immer wieder davon zu reden? Über die Geschichte mit dem Kamel kann man wenigstens ein bisschen lachen. Wer will denn hören, wie meine Kameraden von Granaten zerfetzt wurden? Oder wie ein Mensch schreit, wenn er unter Panzerketten gerät? Das vergisst man sein Lebtag nicht mehr. Oder willst du vielleicht hören, wie …«

»Es reicht!«, unterbrach Oma plötzlich. Und Florian versuchte, mich zu beschwichtigen: »Lass es gut sein, Marthe.« Aber ich wollte nicht beschwichtigt werden.

»Nein, ich lass es nicht gut sein!«, rief ich. »Warum wird in unserer Familie alles verschwiegen? An nichts darf gerührt werden, niemand sagt je was über früher. Die Vergangenheit begraben, indem ihr nicht drüber sprecht – das wollt ihr!«

»Marthe …«, sagte nun auch Mutter warnend. Aber ich war nicht mehr zu bremsen.

»Was ist mit Julian passiert? Und mit Rolf? Warum darf über sie nicht geredet werden? Warum verbannt ihr eure eigenen Söhne aus der Erinnerung? Was hat Julian so Schreckliches getan, dass er für euch nicht mehr existiert?«

»Marthe!« Wieder Mutter, jetzt lauter.

»Er ist dein Bruder!«, rief ich. »Warum schweigst du ihn tot?«

Sie funkelte mich an, dann traten ihr Tränen in die Augen, und sie presste die Lippen zusammen. Aber sie sagte kein Wort.

»Und du: Warum sagst du uns nicht, was in Jawnewitsch passiert ist?«, wandte ich mich wieder an Opa. »Warum muss ich von einem wildfremden Menschen …«

»Hör auf, Marthe! Schluss damit!«

Noch nie hatte Oma mich derart angeschrien.

Ich blickte in die Runde. Opa saß regungslos da und fixierte mich, als wollte er mich mit dem Blick durchbohren. Mutter war schockiert. Florian hatte Angst. Und Vater hielt sich heraus, wie immer, wenn es Konflikte gab; schließlich ging es nicht um seine Familie. Von keinem konnte ich Unterstützung erwarten, das stand fest.

»Ich hab die Nase voll! Von eurem ewigen Schweigen und Vergessenwollen!«, rief ich und stand so abrupt auf, dass mein Stuhl umkippte.

Ich rannte aus der Wohnung und knallte die Tür hinter mir zu.