Ich wurde in einen langen Flur gelotst. Links und rechts Türen aus Stahl und in regelmäßigen Abständen gangbreite Gittertore. Die Wände waren vollkommen kahl, und die Neonröhren an der Decke verbreiteten kaltes Licht. Mein Begleiter öffnete eine der ersten Türen und schob mich hinein.
Mitten in dem eher kleinen Raum stand eine Art Holztresen, dahinter eine Frau in Stasi-Uniform. Sie trug die Haare in einem strengen Knoten, und ihr Gesicht wirkte nicht minder streng.
»Ausziehen«, befahl sie.
Ungläubig starrte ich sie an. Sie schien aber nicht geneigt, mir eine Erklärung zu geben.
Also legte ich die Jacke ab und schlüpfte aus den Schuhen. Zog Rock, Pullover, Bluse und auch die Strumpfhose aus. Um Zeit zu gewinnen, keine Ahnung wofür, faltete ich die Sachen sorgfältig zusammen und legte sie neben mich auf den Boden. Dann stand ich in Unterwäsche vor der Frau. Fröstelnd, weil es ziemlich kühl war.
»Alles!«, sagte sie unwirsch.
Unterhemd, BH und Schlüpfer … ich versuchte, meine Blöße mit den Händen zu bedecken, was nicht gelang.
Die Frau musterte mich abschätzig und kam auf mich zu. Sie schaute mir in die Ohren, in den Mund und unter die Achseln. Dann stellte sie sich hinter mich und kommandierte: »Beine auseinander!«
Widerwillig tat ich, wie mir geheißen.
»Vorbeugen!«
Sie kontrollierte die übrigen Körperöffnungen und trat dann wieder hinter ihren Tresen.
»Jetzt drei Kniebeugen, die Arme vorgestreckt!«
Ich fand die Prozedur so peinlich und erniedrigend, dass mir Tränen in den Augen brannten. Aber weinen wollte ich auf keinen Fall, nicht vor dieser Frau. Also biss ich die Zähne zusammen und machte drei Kniebeugen. Kalt war mir inzwischen nicht mehr.
Nach der letzten Kniebeuge ging die Tür auf. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Sah einen jungen Mann, ebenfalls in Stasi-Uniform. Er ging zum Tresen, legte einen Stapel Kleidung darauf und nahm meine Sachen mit, als er den Raum wieder verließ.
Die Frau nickte zu den Kleidern hin. »Anziehen!«
Ich griff nach dem ersten Teil. Es war eine formlose weiße Männerunterhose. Fragend sah ich die Frau an, doch sie wiederholte nur ihre Aufforderung. Notgedrungen zog ich die Unterhose an. Ebenso die blaue Trainingshose, die blaue Jacke, die grob gestrickten Socken und die Filzhausschuhe. Die Hose war mir ein paar Nummern zu groß, ich musste sie über die Jacke ziehen, damit sie nicht rutschte. Die Frau fasste unter ihren Tresen und legte ein Nachthemd, ein Handtuch und einen Waschlappen vor mich hin. Dazu ein Stück Seife, Zahnbürste und Zahnpasta. Und schließlich noch einen Becher, eine Schüssel und einen Löffel, alles aus Plastik.
»Wofür ist das? Warum bin ich überhaupt hier?«, wagte ich zu fragen.
Sie gab keine Antwort, sondern ging zur Tür, öffnete sie und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, dass ich gehen könne.
Im Flur wartete ein Gefängniswärter auf mich.
»Umdrehen, in drei Schritten Abstand hinter mir hergehen!«, blaffte er mich an wie einen Rekruten.
Ich folgte ihm durch den Flur. Die Zellentüren beiderseits waren nummeriert und mit je zwei massiven Riegeln versehen. Jede Tür hatte eine Luke, die sich mit einer Klappe öffnen ließ, und daneben befand sich ein Lichtschalter. An der Wand entlang verlief ein Kabel.
Wir kamen an das erste Gittertor. Darüber brannte ein grünes Licht.
»Warten! Gesicht zur Wand, Beine auseinander!«, sagte der Mann zu mir.
Ich drehte mich zur Wand. Auf dem Boden war eine Linie gezogen; hinter die, so hieß es, solle ich mich stellen.
Ich hörte, wie das Tor aufgeschlossen wurde. Dann forderte der Wärter mich auf durchzugehen und verschloss es hinter uns wieder.
Weiter ging es, wieder an Türen entlang. Vor der mit der Nummer 112 musste ich erneut mit dem Gesicht zur Wand warten.
Der Wärter öffnete die Zelle und hieß mich eintreten.
Dann fiel die Tür mit einem dumpfen Knall hinter mir zu, der Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die Riegel vorgeschoben.
Es war totenstill. Der kleine Raum – ich schätzte ihn auf drei mal zwei Meter – hatte der Tür gegenüber ein Fenster, allerdings aus dicken Glasbausteinen. Keine Möglichkeit, ins Freie zu schauen. Häuser, Bäume, den Himmel zu sehen. Nur gefiltertes Licht drang herein. An der Decke hing eine Neonlampe und in einer Aussparung über der Tür eine nackte Glühbirne, mit Drahtgeflecht gesichert. An der rechten Wand stand eine Holzpritsche mit dünner Matratze und ordentlich zusammengefaltetem Bettzeug. Daneben ein Holztisch mit Hocker. Links an der Wand ein kleines Waschbecken und eine Toilette.
Ich legte meine Sachen auf den Tisch.
Warum redete hier keiner mit mir, abgesehen von den knappen Befehlen? Was hatten sie mit mir vor? Sie konnten mich doch nicht einfach einsperren! Nein, das würde ich mir nicht gefallen lassen! Ich ging zur Tür.
»He!«, schrie ich laut und schlug mit der Faust dagegen. »Lassen Sie mich raus! Das Ganze ist ein Irrtum!« Weil keine Reaktion kam, hämmerte ich mit beiden Fäusten an die Tür und trat mit dem Fuß dagegen.
Plötzlich hörte ich die Riegel knarren. Ich trat ein paar Schritte zurück.
Dann stand der Wärter vor mir, das Gesicht rot angelaufen.
»Ruhe!«, herrschte er mich an.
»Aber Sie können mir doch wenigstens sagen, warum …«
»Ruhe! Der für Sie zuständige Offizier lässt Sie später zum Verhör rufen.«
Er schlug die Tür zu und verschloss sie wieder.
Ich ließ mich auf die Pritsche sinken. Der für mich zuständige Offizier – was sollte das heißen? Mit einem Mal überkam mich eine namenlose Müdigkeit. Am besten, ich schlief; bestimmt würde sich die Sache morgen früh klären. Ich legte mich hin und machte die Augen zu.
»112/1! Aufstehen!«, tönte eine laute Stimme.
Ich fuhr zusammen und begriff erst dann so richtig, dass ich gemeint war.
»Tagsüber auf dem Bett liegen und sitzen ist verboten!« In der jetzt offenen Luke war das rote Gesicht des Wärters zu sehen.
Rasch stand ich auf. Die Klappe wurde zugeknallt, und am Spion erschien ein Auge. Ein warnender Blick, dann verschwand es wieder.
Eine volle Minute starrte ich die Tür an, aber das Auge tauchte nicht wieder auf.
Hinzulegen traute ich mich nicht mehr, darum setzte ich mich auf den Hocker, das Gesicht zur Tür gewandt. Kurze Zeit später kontrollierte der Wärter mich wieder durch den Spion, fand aber offenbar nichts auszusetzen. Auf dem Hocker sitzen war also erlaubt.
Nach einer Weile erhob ich mich, um die Sachen, die man mir gegeben hatte, aufzuräumen. Zahnbürste, Zahnpasta und Seife kamen auf den Waschbeckenrand, Handtuch und Waschlappen an die Haken daneben, das Nachthemd legte ich auf das Bettzeug, und das Essgeschirr ordnete ich auf dem Tisch an. Obwohl ich meine Sachen – die gar nicht meine waren – nun verteilt hatte, wirkte der Raum so unpersönlich, kalt und leer wie zuvor.
Ich maß den Abstand von der Tür zum Fenster mit Schritten. Vier Schritte waren es. Vier Schritte hin, vier zurück.
Warum war ich hier? Was wollte man von mir? Hätten sie mich nicht längst zum Verhör holen müssen? Oder würde gleich die Tür aufgehen und der Wärter zerknirscht sagen: »Ein bedauerlicher Irrtum, Fräulein Lentz.« Und dann dürfte ich das Gefängnis verlassen und draußen am Tor würde Vater auf mich warten.
Aber es handelte sich nicht um einen Irrtum, das war mir klar. Sie wussten etwas über uns. Nur was? Ging es um die Flugblatt-Aktion? Oder um den Leseklub? Oder um Florians Referat an der Uni? Aber mit dem hatte ich doch nichts zu tun! Hatten sie es eventuell nur auf Florian abgesehen und mich mitgenommen, weil ich gerade bei ihm war? Nein, so durfte ich nicht denken! Wir trugen gemeinsam die Verantwortung! Auf keinen Fall durfte er allein zur Rechenschaft gezogen werden. Hatten sie Beweise – wofür auch immer –, oder mussten sie uns freilassen, wenn wir nicht gestanden? Und wo war Florian überhaupt? In einer der anderen Zellen? Hatte auch er solch eine entwürdigende Leibesvisitation über sich ergehen lassen müssen? Wussten unsere Eltern inzwischen, wo wir waren? Würde man sie benachrichtigen? Vielleicht ließen sie mich ja schreiben. Ob das Stasi-Auto noch immer vor unserem Haus herumstand? Oder war der Auftrag nun, da man uns verhaftet hatte, erledigt? Würde es Mutter auffallen, wenn der Wagen weg war?
Schluss damit! Ich atmete tief ein und dann ganz langsam aus. Das wiederholte ich mehrmals, bis ich etwas ruhiger geworden war.
Ich setzte mich wieder auf den Hocker. Das Hin- und Hergehen tat mir nicht gut, dabei waren die vielen Fragen hochgekommen. Und weil es keine Antworten gab, war es sinnlos, sie zu stellen. Ich hatte keine Ahnung, was man von mir wollte, was sie sagen, fragen, tun würden. Ich konnte mir einzig überlegen, wie ich mich verhalten wollte. Es war ein bisschen wie beim Schach: Ihren nächsten Zug kannte ich nicht, den meinen aber konnte ich vorbereiten.
Klar war, dass sie mich verunsichern wollten. Und einschüchtern. Das Ausziehen, die barschen Befehle, die hässliche Gefängniskluft, die ständige Überwachung … schon wieder ging die Klappe des Spions auf, und ein Auge schaute herein.
Keine verbotene Tätigkeit.
Das Auge verschwand wieder, die Verschlussklappe ging zu.
Ich musste ihr Spiel mitspielen, wohl oder übel, aber weiterhin demütigen ließ ich mich nicht. Mich kriegten sie nicht klein. Ich wollte meine Würde wahren. Wenn sie mir drohten, würde ich keine Angst zeigen. Und im Verhör nichts zugeben. In keine Falle tappen, weil ich das Spiel durchschaute. Mich konnten sie nicht in die Knie zwingen!
Nun, da ich einen Plan gefasst hatte, war ich auf einmal ganz ruhig. Es war kein sehr durchdachter Plan, aber einer, der mir helfen würde, wenn sie mich zum Verhör holten. Kommt nur!, dachte ich kämpferisch, kommt nur!
Doch niemand kam.
Es wurde dunkel, die Neonlampe ging an und tauchte die Zelle in kaltes Licht. Das Abendessen schien ich verpasst zu haben, denn als es schon eine ganze Weile dunkel war, ertönte ein Klingelzeichen.
»Nachtruhe, ausziehen!«, schallte es durch die Luke, nachdem ich nicht auf den Ton reagiert hatte.
Ich zog die Trainingshose und die Jacke aus, legte sie über den Hocker, schlüpfte ins Nachthemd und richtete die Pritsche für die Nacht her.
Endlich schlafen, was war ich froh!
Aber kaum hatte ich mich zur Wand gedreht, wurde die Luke auch schon wieder geöffnet: »Auf den Rücken legen! Hände über die Decke! Kopf nicht abwenden!«
Eine ganze Kaskade von Befehlen!
Ich drehte mich auf den Rücken und legte die Arme auf die Decke.
Daraufhin wurde die Klappe geschlossen und das Deckenlicht gelöscht.
Schlafen konnte ich aber nicht. Zum einen, weil ich es nicht gewohnt war, auf dem Rücken zu liegen, und außerdem leuchtete alle vier Minuten die Glühbirne über der Tür kurz auf, und der Wärter vergewisserte sich mit einem Blick durch den Spion, dass ich nichts Verbotenes tat.
Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus.
So ging es die ganze Nacht. Ich fühlte mich immer matter, konnte nicht mehr zusammenhängend denken, aber auch nicht einschlafen. Ich lauschte den Stiefelschritten im Flur, und wenn sie verklungen waren, wartete ich darauf, dass sie sich wieder näherten.
Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus.