FÜNF

»Ich hab dir noch ein paar Bananen eingepackt«, flüsterte Christiane mir zu, als ich die Kasse schloss.

Ich lächelte verschwörerisch. Unser Chef schätzte es ganz und gar nicht, wenn das Personal von Mangelware etwas abzweigte, so sie einmal vorrätig war. Er hatte es am liebsten, wenn die Kundenschlange sich bis auf den Alexanderplatz hinauszog und die Frauen mit ihren Einkaufstaschen aufeinander losgingen, damit unsere Filiale bessere Umsätze machte als andere. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass immer wieder mal Bananen, Melonen oder eine Flasche französischer Wein in die Taschen der Angestellten wanderten. Wir waren der Ansicht, dass wir einen kleinen Mitarbeitervorteil haben mussten; die Kollegen in der Schuh- und Textilabteilung hielten es auch so.

Als ich meine Einkäufe in der Kantine holte, sah ich, dass Christiane die Bananen unter dem Brot und dem Toilettenpapier versteckt hatte.

Auf dem Nachhauseweg ging ich im Kopf noch einmal Omas Liste durch, um sicher zu sein, dass ich nichts vergessen hatte. Falls doch, würden die Bananen sie entschädigen. Selbst Opa kapierte noch, dass Bananen etwas Besonderes waren.

Als ich in unsere Straße einbog, waren die Bananen schlagartig vergessen. Denn vor der Haustür stand ein Krankenwagen. Gerade eben kamen zwei Sanitäter mit einer Trage heraus. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus, dann rannte ich los. Die Tasche schlug mir dabei ans Bein, aber ich achtete nicht darauf.

Neben dem Hauseingang hatte sich ein Grüppchen neugieriger Nachbarn versammelt.

Einer der Sanitäter schloss gerade die Klappe des Krankenwagens, als ich ankam.

»Was ist passiert? Wer ist da drin?«, keuchte ich.

»Eine alte Dame aus dem vierten Stock«, sagte er.

Oma? Nein, das konnte nicht sein. Es musste sich um eine andere alte Dame handeln. Aber im vierten Stock gab es nur zwei Wohnungen und …

»Sybille!« Unsere Nachbarin, Frau Haußmann, stand plötzlich neben mir.

»Das war doch nicht meine Großmutter, die sie da gerade rausgetragen haben, oder?« Noch immer hoffte ich, das Ganze wäre ein Irrtum, aber Frau Haußmanns Gesicht nach zu urteilen, war es keiner.

»Sind Sie eine Verwandte?«, fragte der Sanitäter.

»Ich bin die Enkelin. Wo ist mein Großvater? Er kann nicht allein bleiben!«

»Dein Opa ist oben in der Wohnung«, sagte Frau Haußmann.

»Was genau ist passiert? Ich will es wissen!« In meiner Panik packte ich den Arm des Sanitäters.

»Dafür ist jetzt keine Zeit, Fräulein, wir müssen los.« Er zog seinen Arm weg.

»Moment! Ich fahr mit!«

Aber halt … ich konnte doch Opa nicht sich selbst überlassen.

»Könnten Sie wohl ein Weilchen bei meinem Großvater bleiben?«, wandte ich mich an Frau Haußmann. »Ich bin so schnell wie möglich zurück.«

Sie sah mich zweifelnd an. Eigentlich wollte sie Nein sagen, traute sich aber nicht.

»Bitte!«

»Na gut, aber nicht lange, schließlich hab ich selber auch was zu tun.«

Ich bedankte mich hastig und stieg dann vorn ein. Der Fahrer ließ den Motor an und gab Vollgas. Ich konnte weder ihn noch seinen Kollegen fragen, was geschehen war, weil die Sirene jedes Wort übertönte.

Die Charité, das größte Krankenhaus Ostberlins, kam in Sicht. Hieß das, dass es sehr schlimm um Oma stand?

Und dann hielt der Wagen auch schon. Der Fahrer schaltete die Sirene aus, dennoch klang sie mir weiter in den Ohren.

Er half seinem Kollegen, die Trage herauszuholen. Oma lag darauf – ich erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht: bleich, geschlossene Augen, eingefallene Wangen.

Rasch trugen die Sanitäter sie ins Gebäude, wo sie von zwei Männern in weißen Kitteln erwartet wurden. Die Trage kam auf einen Rollwagen und wurde durch den Flur fortgeschoben. Wie benommen stolperte ich hinterher.

Es ging durch eine Schwingtür in den nächsten Flur, und bald tauchte wieder eine Tür auf. Ein kräftiger behaarter Arm versperrte mir den Weg, als ich folgen wollte. »Bitte hier warten!«

Da stand ich nun, den Kopf voll wirrer Gedanken, und kein Mensch war da, der mir etwas sagen konnte. Es war totenstill.

»Guten Tag, Sie sind eine Verwandte?« Eine ältere Krankenschwester kam durch die Tür auf mich zu.

Ich nickte.

»Würden Sie das hier bitte ausfüllen?« Sie reichte mir ein Klemmbrett mit einem Fragebogen. Erst starrte ich verständnislos darauf, dann wurde mir klar, was sie von mir wollte. Und jetzt nahm ich auch wieder Geräusche um mich herum wahr und sah, dass noch andere Menschen da waren: Ein Patient wurde im Rollstuhl vorbeigeschoben, zwei Pfleger gingen mit quietschenden Gummisohlen auf einen Tresen in einer Flurnische zu. Die Schwester folgte ihnen. Nicht weit davon standen ein paar Stühle an der Wand.

Ich setzte mich auf einen davon und nahm mir das Formular vor. Es ging um persönliche Angaben von Oma wie Geburtsdatum und Anschrift und ob sie Allergien und so weiter hatte. Fragen, die für einige Minuten die anderen drängenden Fragen vertrieben.

Als ich fertig war, ging ich zum Tresen und reichte der Schwester das Klemmbrett.

»Wissen Sie vielleicht, was passiert ist?«, fragte ich aufgeregt. »Ich meine, was meine Großmutter hat?«

Mit einem »Schscht« gebot sie mir, leiser zu sein. »Ich weiß leider nichts Genaues. Ihre Großmutter wird gerade reanimiert. Wenn ein Arzt herauskommt, erfahren Sie Näheres.« Ihr Tonfall und ihre Miene waren nicht unfreundlich, aber irgendwie gelangweilt, wahrscheinlich weil sie zigmal am Tag das Gleiche gefragt wurde.

Ich war zu unruhig, um mich wieder hinzusetzen. Also ging ich den Flur entlang – hin und zurück, hin und zurück – und versuchte, der Panik Herr zu werden, die wie überkochende Milch in mir hochstieg.

Warum dauerte es so lange? War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Die Bananen!, dachte ich plötzlich, ich hab die Einkaufstasche vor dem Hauseingang stehen lassen! – Was für ein blödsinniger Gedanke in solch einer Situation, wo es doch um Omas Leben ging.

Schließlich ließ ich mich doch auf einem Stuhl nieder, streckte die Beine von mir und starrte auf die Wanduhr. Sie stand, stellte ich fest. Die Zeit dehnte sich ins Unendliche.

Als die Tür aufging und ich einen weißen Kittel sah, sprang ich auf. Eine Ärztin steuerte auf mich zu, mit ruhigem Blick, aber einem besorgten Zug um den Mund.

Eine kalte Hand schloss sich um mein Herz.

Ich rannte der Frau entgegen.

»Meine Oma …«, stieß ich hervor.

»Die Patientin ist Ihre Großmutter?«

Ich nickte.

»Sie hatte einen Schlaganfall. Wir haben sie reanimiert und ihr Blutverdünner gespritzt. Momentan besteht keine Lebensgefahr. Sie ist stabil, allerdings nicht bei Bewusstsein. Und leider lässt sich nicht sagen, wann sie aufwacht. Wir werden auf jeden Fall Untersuchungen vornehmen, um festzustellen, ob sie bleibende Schäden davontragen wird.«

Ich sah, wie ihr Mund sich bewegte, und hörte ihre Stimme, erfasste aber kaum, was sie mir mitteilte.

»Sie wird auf ein Zimmer im Intensivbereich gebracht. Wenn Sie möchten, können Sie gern eine Weile bei ihr bleiben. Aber vielleicht gehen Sie besser nach Hause, jetzt ist ohnehin Warten angesagt. Haben Sie den Fragebogen schon ausgefüllt?«

»Ja.«

»Gut, dann halten wir Sie auf dem Laufenden, auch was die Befunde betrifft.«

Sie nickte mir zu und entfernte sich dann.

Ich überlegte. Eigentlich wollte ich bleiben. Aber wenn ich nichts tun konnte außer warten … Mein Blick streifte die Wanduhr. Sie zeigte immer noch die gleiche Zeit an.

Mir fiel ein, dass Frau Haußmann gesagt hatte, sie habe selber auch etwas zu tun. Wie lange war das her?

Mir blieb keine Wahl: Ich musste nach Hause.

Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Opa vor dem Fernseher und Frau Haußmann mit sauertöpfischer Miene in einem Sessel neben ihm. Ich bedankte mich bei ihr, sie erhob sich und verließ, vor sich hinbrummelnd, die Wohnung.

Meine Einkaufstasche stand auf dem Esstisch. Ich trug sie in die Küche und stellte beim Auspacken fest, dass die Bananen fehlten.