Es wurde ein Spagat. Ein unmöglicher Spagat. Ich wollte möglichst viel Zeit im Krankenhaus verbringen, denn es konnte ja sein, dass Oma plötzlich aufwachte. Aber ich konnte Opa nicht allein in der Wohnung lassen. Ihn mitzunehmen kam nicht in Betracht. Seine innere Unruhe war so ausgeprägt, dass er nicht lange an Omas Bett würde sitzen bleiben. Außerdem musste ich zur Arbeit. Zwei Tage hatte ich mich krankgemeldet, länger durfte ich nicht fehlen. Ich hatte bei Hermann angerufen, aber er war nicht drangegangen. Ich war dort gewesen, aber er hatte nicht aufgemacht. Ich hatte bei seiner Arbeitsstelle angerufen und erfahren, dass er gekündigt hatte. Wo er steckte, ahnte ich nicht. Und außer ihm wusste ich niemanden, den ich ansprechen konnte.
Am zweiten Tag hatte eine Schwester im Krankenhaus mir geraten, mich um eine Hauspflegerin zu bemühen. Und das klappte tatsächlich, sogar kurzfristig.
Sie hieß Claudine. Tagsüber, wenn ich bei der Arbeit war, kümmerte sie sich um Opa und um den Haushalt und kochte auch das Abendessen. Manchmal blieb sie länger, damit ich nach Feierabend noch ein, zwei Stunden bei Oma sein konnte.
War ich zu Hause, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht im Krankenhaus war, und war ich bei Oma, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Claudine ausnutzte.
»Ist doch meine Arbeit«, sagte sie nur, wenn ich mich wieder einmal bei ihr entschuldigte. »Ich mach das gern und werd ja auch dafür bezahlt. Du brauchst nicht alles allein zu schultern. Du hast deine Arbeit, ich meine.« Trotzdem wollte ich ihre Gutmütigkeit nicht überstrapazieren, zumal sie selbst Familie hatte.
Mir wurde erst jetzt klar, wie schwer Oma es in letzter Zeit mit Opa gehabt hatte. Die ein, zwei Stunden, die ich manchmal auf ihn aufgepasst hatte, damit sie beispielsweise zum Friseur gehen konnte, waren ein Klacks gegen die dauernde Verantwortung. Opas Betreuung erforderte nicht nur Zeit, sondern auch viel Kraft, und man musste ihn ständig im Auge behalten.
Oft saß er auf dem Sofa und sah fern oder hörte Radio. Das heißt, ob er von den Sendungen etwas mitbekam, wusste ich nicht, aber zumindest beruhigte ihn die Geräuschkulisse. Dann wieder suchte er nach etwas – einem Gegenstand, einer Erinnerung, einem bestimmten Wort – und fand es nicht, und das machte ihn zornig. So gebrechlich er aussah, wenn er zusammengesunken auf dem Sofa saß, in solchen Momenten kam sein früheres Wesen wieder hervor: heftig, streng und unduldsam. Mitunter sprach er mit sich selbst oder mit jemandem, der gar nicht da war. Dann befand er sich in einer anderen Welt, in der Vergangenheit, nahm ich an, aber weil ich so gut wie nichts von seiner Vergangenheit wusste, konnte ich nicht darauf eingehen. Wenn er eine solche Stimmung an den Tag legte, war ich froh um Claudines Unterstützung. Sie gab mir Ratschläge und zeigte mir, wie man auf etwas reagiert, auf das man eigentlich nicht reagieren kann. Ich tat mein Bestes, aber es gab Stunden, in denen ich ebenso wirr war wie Opa.
Das Piepsen von Omas Herzmonitor war meist das einzige Geräusch im Zimmer. Einerseits hatte es in seiner Eintönigkeit etwas Beruhigendes und bedeutete ja auch, dass alles soweit in Ordnung war. Andererseits aber wirkte es zermürbend, weil es einem bewusst machte, wie langsam die Zeit verstrich.
Vorhin hatte eine Schwester gesagt, die Ärztin wolle mit mir sprechen. Aber bisher war sie nicht aufgetaucht.
Ich ging hin und her, setzte mich ans Bett, stand auf und fing wieder an zu gehen. Die Charité stand dicht an der Mauer, und Omas Zimmer hatte ein Fenster nach Westen hin. Weil das nicht anging – es sollte ja niemand in den Westen schauen –, war das Fenster ein blauer Fleck, so wie Westberlin auf dem Stadtplan ein gelblicher Fleck war. Ich versuchte mir vorzustellen, was man hier, vom achten Stock aus, alles sehen könnte. Aber ich konnte es mir nicht vorstellen. Der Westen – das waren für mich ein paar alte Fotos und die Karten, die ich im Briefkasten gefunden hatte; inzwischen waren zwei weitere gekommen. Jede mit demselben Text, der mir nichts sagte, und ohne Absender. Aber mit Ansichten von Westberlin. Ich hatte sie unter die Matratze meines Betts gesteckt, weil es mir besser schien, wenn niemand sie sah.
Ich erschrak, als die Ärztin eintrat. Sie kam ans Bett und kontrollierte die Infusion und die Apparate, an die Oma angeschlossen war. Dann erst wandte sie sich an mich. »Wir haben inzwischen einige Tests und Untersuchungen vorgenommen, und es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir nichts tun können. Das Blutgerinnsel hat sich nicht aufgelöst. Es sieht ganz so aus, als würde Ihre Großmutter Lähmungen zurückbehalten, wenn sie wach wird. Wobei sich nicht sagen lässt, ob das je der Fall sein wird.«
Das klang gar nicht gut, aber vor allem die letzten Worte, wie beiläufig dahingesagt, schockierten mich.
»Ob das je der Fall sein wird …?«, stammelte ich.
»Wir geben die Hoffnung natürlich nicht auf«, fuhr die Ärztin fort, »aber uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Eine Operation wäre zu riskant.«
»Das heißt, man könnte operieren?«
»Schon, aber die Chance, dass sich dadurch etwas bessert, ist äußerst gering. Und es wäre ein sehr komplizierter Eingriff.«
Ich starrte die Frau an, weil ich meinte, nicht recht verstanden zu haben. Der Eingriff war kompliziert, darum wollten sie es gar nicht erst versuchen? Oder trauten sie sich nicht?
»Wir können, wie gesagt, nur abwarten.« Sie legte mir kurz die Hand auf die Schulter, eine routinemäßige Geste, und ihr Lächeln sollte wohl aufmunternd wirken, kam mir aber maskenhaft vor. Sie nickte mir zu, ging zur Tür und war verschwunden.
Der Herzmonitor klang jetzt ohrenbetäubend laut. Abwarten, bis Oma aufwachte. Abwarten, ob das je der Fall sein würde. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Sie mussten etwas tun. Ich musste etwas tun.