SIEBEN

Auf dem Weg nach Hause begann sich in meinem Kopf eine Idee zu formen. Erst war es nur ein Gedankenblitz, als ich in der Nähe der Mauer einen Wachposten sah, aber je konkreter die Idee wurde, desto kräftiger trat ich in die Pedale; es war, als lenkte sie alle Energie in meine Beine.

Im Westen würde man Oma operieren können. Dort waren die Krankenhäuser moderner und besser ausgestattet. Und Oma durfte über die Grenze. Alten Menschen machte man keine Schwierigkeiten, sie durften sogar übersiedeln, weil sie für den Staat keinen wirtschaftlichen Nutzen mehr hatten. Mich hingegen ließ man nicht nach drüben. Und darum konnte ich auch nicht dafür sorgen, dass Oma in ein Westberliner Krankenhaus kam. Aber ich wusste jemanden, der das in die Hand nehmen könnte. Jemanden, dem Omas Wohl genauso am Herzen lag wie mir. Ihr Sohn. Julian.

Zu Hause angelangt, hatte sich sein Name mit Großbuchstaben in mein Hirn gebrannt. Ich riss die Haustür auf, schob mein Rad in den Flur und rannte die Treppe hinauf.

Claudine war froh, dass ich kam. Sie schien es eilig zu haben, was mir gut in den Kram passte.

Opa saß im Wohnzimmer am Fenster und murmelte Unverständliches vor sich hin. Ich fasste nach seiner Hand und drückte sie kurz, aber er nahm mich kaum zur Kenntnis.

In der Küche fand ich einen Teller mit Essen für mich vor. Zwei weitere Teller standen gespült im Abtropfgitter. Claudine war wirklich ein Schatz. Hunger hatte ich heute jedoch nicht.

Ich musste mit Julian Kontakt aufnehmen. Aber dazu brauchte ich erst einmal Informationen, weil ich so gut wie nichts über ihn wusste – weder wo er wohnte, noch wo er arbeitete. Im Adressbuch neben dem Telefon war keine Nummer von ihm verzeichnet, das wusste ich. Aber in Omas Sachen würden sich bestimmt Briefe von ihm finden. Dass er sich nie mehr gemeldet hatte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Unschlüssig stand ich da und überlegte, wo Oma seine Briefe wohl aufbewahrte. An einem sicheren Ort, vermutete ich, aber an einem leicht zugänglichen. Vielleicht las sie ja nachts darin, wenn Opa und ich schliefen.

Ich ging ins Schlafzimmer und nahm mir als Erstes Omas Nachttisch vor. Leerte eine Schublade nach der anderen aus. Viel Kleinkram, Andenken, eine Taschenbibel, ein Foto von Opa in Soldatenuniform, ein Notizbuch mit gepressten Blumen zwischen den Seiten, ein Beutelchen mit Lavendel, der nicht mehr duftete, und – eine hölzerne Zigarrenkiste. Als ich sie aufgeklappt hatte, hielt ich die Luft an. Briefe!

Aber sehr alte Briefe, die Umschläge waren vergilbt, und sie trugen Stempel mit einem großen Adler. Dennoch fummelte ich ein Blatt heraus.

Russland, 3. September 1942

Meine liebe Frau,

ich danke Dir sehr herzlich für Deinen Brief. Es ist immer schön, etwas von Euch zu hören. Hoffentlich geht alles gut und Gudrun ist bald wieder gesund. Kannst Du mir bitte noch etwas Saccharin schicken? Ich weiß, dass Ihr auch zu knapsen habt, aber falls Du ein bisschen was …

Die verblichene Bleistiftschrift war schlecht zu entziffern. Ich las auch noch den Rest, aber da ging es nur noch um Mücken, Schlamm und dergleichen. Nirgendwo war die Rede davon, wie es ihm ging, was er fühlte … Der Ton war sachlich und emotionslos, und das Schreiben schloss mit »Gruß und Kuss von Deinem Soldaten«. Dann folgte die Unterschrift: Vorname, Nachname, Dienstgrad. Ich steckte den Brief wieder ins Kuvert.

Als Nächstes suchte ich im Schrank, fasste unter Kleiderstapel, durchwühlte die Fächer mit Strümpfen und Unterwäsche, wurde aber nicht fündig. Schließlich schaute ich noch in der Truhe mit den Wolldecken nach, inspizierte Omas Nähkorb und hob sogar die Matratze an. Nichts.

Plötzlich klirrte Glas. Ich ließ fallen, was ich in der Hand hatte, und rannte in die Küche. Opa stand neben der Spüle und guckte verdattert auf den Boden. Er hatte ein Glas fallen lassen.

Als er mich bemerkte, funkelte er mich an und rief dann böse: »Warum haben Sie das gemacht? Können Sie nicht besser aufpassen?« Und er schlug mit der flachen Hand auf die Spüle. Ich dachte an Oma, die es so gut verstand, ihn zu beschwichtigen, wenn er sich aufregte.

»Achtung, Opa, nicht in die Scherben treten«, sagte ich leise. »Ich kehre sie gleich weg.« Und ich griff nach dem Besen, der hinter der Tür lehnte, und begann zu fegen. Unterdessen warf Opa mir allerlei an den Kopf: Ich sei eine schlechte Haushälterin, würde das schmutzige Geschirr herumstehen lassen und ihm kaltes Essen servieren. Dafür würde er mich nicht bezahlen.

Als ich nichts dazu sagte, wurde er allmählich ruhiger, und das laute Schimpfen ging in Gebrummel über.

Ich machte ihm ein Zeichen, er solle um das zusammengefegte Glas herum aus der Küche gehen. Er begriff nicht, sah mich nur an. Ich streckte die Hand aus: »Komm, Opa. Wir gehen wieder ins Wohnzimmer.«

Immer noch brummelnd, schlurfte er mit. Ich half ihm aufs Sofa und schaltete den Fernseher an. Ein paar Minuten blieb ich noch hinter ihm stehen und seufzte. Ach, Oma …

Als ich wieder ins Schlafzimmer kam und das Durcheinander auf dem Bett und davor betrachtete, wurde mir klar, dass ich nichts finden würde. Die ganzen Jahre über hatte Oma ihren Sohn verschwiegen, verdrängt, und falls es Briefe von ihm gab, hatte sie diese vernichtet. Es war gerade so, als hätte es Julian nie gegeben.

Völlig ahnungslos war ich jedoch nicht, was die Vergangenheit betraf. Als Kind hatte ich dies und das aufgeschnappt, und die Puzzleteilchen hatten sich, ohne dass es mir bewusst wurde, zu einem Bild gefügt, einem Bild dessen, was passiert war. Ich wusste, dass Julian nach Westberlin geflohen war, weil er dort eine Freundin hatte, die auf ihn wartete. Und dass sein Bruder Rolf mitgegangen war, aber auf der Flucht erschossen wurde. Gut möglich, dass Julian noch in Berlin lebte. Er musste seiner Mutter helfen – wenn einer ihr etwas schuldig war, dann er! Ich musste ihn finden. Aber Westberlin war für mich so unerreichbar wie Westafrika.

Trotzdem … es war ja nicht so, dass keiner die Grenze passieren durfte. Die Leute aus dem Westen durften herüber …

Allmählich entstand ein Plan. Eigentlich brauchte ich nur einen Brief zu schreiben. Und dann brauchte ich noch Vertrauen. Und Glück, sehr viel Glück.