DREIUNDZWANZIG

Sogar im Heim hatte man Fähnchen aufgehängt. Als ich kam, waren alle Bewohner im Fernsehzimmer versammelt. Über den Bildschirm flimmerte der große Aufmarsch, der ein paar Kilometer weiter stattfand. Eine Pflegerin bedeutete mir, ganz hinten Platz zu nehmen. Als dürften die alten Leute jetzt auf keinen Fall gestört werden.

Ich sah in Reih und Glied marschierende Soldaten, Panzer, wieder Soldaten, Militärlastwagen und erneut Soldaten. Zwischendurch immer wieder Großaufnahmen von Gorbatschow und Honecker. Hinter ihnen prangte ein riesiges Plakat mit der Aufschrift »40 Jahre DDR«.

Ob es auch nur einen der Heimbewohner scherte, was draußen vor sich ging?

Wo genau saß Opa? Suchend ließ ich den Blick über die Hinterköpfe gleiten und entdeckte ihn in der dritten Reihe am Fenster. Ich ging hin, rückte einen Stuhl neben ihn und setzte mich.

»Tag, Opa«, flüsterte ich ihm zu.

Er murmelte etwas, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. Wahrscheinlich hatte er einen seiner schlechten Tage und erkannte mich gar nicht. Aber auch an den besseren Tagen war es nicht einfach, sich mit ihm zu unterhalten. Nach Oma hatte er noch kein einziges Mal gefragt. Meist lief es so, dass ich Fragen stellte und er kurze Antworten gab. Heute jedoch, so schätzte ich, würden nicht einmal kurze Antworten drin sein.

»Geht’s dir gut?«

Er nickte langsam.

»Du guckst gerade Fernsehen, was?«

Wieder ein Nicken, das heißt, eher ein unbestimmtes Kopfwiegen. Regnet es draußen Schnecken? Auch dazu würde er nicken.

Also schwieg ich, blieb aber neben ihm sitzen. Immer noch lief die Übertragung. Im Grunde hatten sie nichts vorzuweisen, dennoch wurden in endloser Wiederholung Bilder von Soldaten, fähnchenschwenkenden FDJlern, wieder Soldaten, steif dastehenden Politikern und nochmals Soldaten gezeigt. Ich dachte an die Demonstrationen und die Mahnwache in der Kirche und konnte kaum fassen, dass die Parteibonzen in die Kamera lächelten, als gäbe es das alles nicht.

»Ganz schön viele Soldaten sind das, nicht?«, versuchte ich es wieder.

Opa reagierte nicht.

Nach einer Weile stand ich seufzend auf. Die Besuche bei Opa brachten rein gar nichts, sie dienten lediglich zur Beruhigung meines Gewissens.

Auf dem Weg zur Kirche mied ich die Straßen, in denen die Parade stattfand. Marco würde ich mit Sicherheit dort antreffen, vielleicht auch Marthe.

Entgegen meinem Eindruck nach der ersten Übernachtung gingen viele tagsüber zur Arbeit, fanden sich aber abends wieder ein und am Wochenende sowieso.

Ich grüßte im Vorübergehen ein paar Bekannte und steuerte dann die Nachrichtenzentrale an. Der kleine Raum wurde immer voller. Auf dem Tisch in der Mitte türmten sich Papiere, und am Vervielfältigungsapparat in der Ecke stand ein Mädchen und zog Flugblätter ab. Die Listen an der Wand waren auch wieder länger geworden.

»Ja. Die machen sich gleich auf den Weg zum Palast der Republik«, sagte Jens gerade ins Telefon und zu mir gewandt: »Sybille, Marco sucht dich. Gorbatschow auch, aber der bricht nach dem Bankett wieder auf. Er hat Informationen für dich. Nein, ich hab nicht dich gemeint. Also: Gorbatschow wird …«

Noch ehe ich mich auf die Suche nach Marco machen konnte, stand er in der Tür.

»Sybille!« Er machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen.

In einer halbwegs ruhigen Ecke eröffnete er mir, er habe eine schlechte und eine gute Nachricht.

»Einen Julian Niemöller gibt es in Westberlin nicht«, sagte er. »Aber sie haben Florian ausfindig gemacht. Er wohnt am Stadtrand, in Lichterfelde.«

Marco gab mir einen Zettel, auf dem die Adresse stand. Kein Name dazu.

»Die Info stammt aus verlässlicher Quelle«, versicherte er mir.

Völlig perplex starrte ich den Zettel an. Florian in Westberlin? Hatte Marthe mich die ganze Zeit belogen?

»Wie kann das sein?«, brachte ich schließlich hervor.

»Keine Ahnung. Das hier ist jedenfalls die Adresse. Und er arbeitet an der Universität.«

»Von wem genau ist die …?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Vielleicht ist es ja ein anderer Florian Lentz?«

»Möglich … aber mehr weiß ich auch nicht.«

»Marco!« Jens winkte von der Tür der Nachrichtenzentrale aus, Marco solle kommen.

Viktoriaweg 12, Berlin-Lichterfelde.

Wie, um alles in der Welt, war Florian nach Westberlin gekommen? Marthe hatte doch gesagt, er sei mit ihr zusammen von der Stasi verhaftet worden und seit ihrer Entlassung aus der Haft habe sie nichts mehr von ihm gehört. War er etwa auch freigelassen worden und dann in den Westen geflüchtet, ohne einem vertrauten Menschen Bescheid zu sagen? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wo Marthe doch seit über zehn Jahren nach ihm suchte – wäre er geflohen, hätte sie es bestimmt irgendwie in Erfahrung gebracht. Oder aber er war nicht freiwillig in den Westen gegangen … »Dir ist aber schon klar, dass er inzwischen für die Stasi tätig sein kann, oder?«, hatte Ulrich gesagt. Schickte die Stasi ihre Spione auch in den Westen? Das konnte doch nicht … durfte nicht … Marthe …

Dann aber kam mir eine Idee: Florian war im Westen, also konnte auch er Oma helfen. Und ich hatte seine Anschrift. Ich könnte ihm schreiben, aber falls er doch für die Stasi arbeitete … ich musste auf jeden Fall vorsichtig sein, meine Worte sorgsam wählen. Und wenn es nicht mein Cousin, sondern ein anderer Florian Lentz war, dann würde ich es auf diese Weise wohl erfahren.

Viktoriaweg 12, Berlin-Lichterfelde.

»Sybille!« Marthes Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. Rasch steckte ich den Zettel in meine Hosentasche.

»Am Alexanderplatz ist eine Demo! Wissen Ulrich und Jens das schon?« Ohne auf Antwort zu warten, lief sie weiter zur Nachrichtenzentrale.

Ich schob den Zettel tiefer in meine Tasche. Marthe sollte nichts davon erfahren. Noch nicht jedenfalls. Erst wenn ich Antwort bekam, würde ich es ihr sagen. Nicht dass sie sich falsche Hoffnungen machte.

In der Nachrichtenzentrale wussten sie schon von der Demo. Jens hing am Telefon. In Stichworten teilte er Ulrich zwischendurch mit, was durchgesagt wurde, und der machte Notizen. Marco hatte auf dem Boden einen Stadtplan ausgebreitet, auf dem er Markierungen vornahm, und er fragte alle Leute, die nach Marthe hereinkamen, was genau sie gesehen hatten. Es ging darum herauszufinden, ob es sich um eine große Demo handelte, wer sie organisiert hatte, wie Polizei und Stasi darauf reagierten und vor allem wie verlässlich die Informationen dazu waren. Vierhundert Teilnehmer, hieß es erst, eine Stunde später war die Rede von tausend, dann von zweitausend. Die Schätzungen waren unterschiedlich, fest stand aber, dass immer mehr Menschen sich anschlossen. Und im gleichen Maß stieg die Aufregung. Ich stand an der Tür, ohne zu wissen, wie ich mich nützlich machen konnte.

»Wir müssen hin!«, sagte Marco auf einmal und blickte sich auffordernd im Raum um. »Es ist Zeit, dass wir unser Inseldasein aufgeben. Wir werden jetzt dort gebraucht. Müssen die Faust erheben, wo sie gesehen wird!«

»Ich geh mit!« Erst erschrak ich über die Entschlossenheit in meiner Stimme. Und Marthe war wohl auch überrascht, denn sie musterte mich mit hochgezogenen Brauen. Aber ich wusste, dass es wichtig war – im sicheren Schutz der Kirche zu bleiben, war jetzt nicht mehr sinnvoll.