DREISSIG

Der Taxifahrer quasselte in einer Tour. Ich konnte ihm nicht folgen, denn kaum hatte ich auf dem weichen Lederpolster im beheizten Wagen Platz genommen, fielen mir, umhüllt vom Vanilleduft des Aromabäumchens, das am Rückspiegel baumelte, fast die Augen zu. Ich bemühte mich nach Kräften, wach zu bleiben, konnte aber keinen Gedanken mehr fassen, ja nicht einmal aus dem Fenster auf das nächtliche Berlin schauen.

Schließlich gab er auf und stellte das Radio an. Wie aus weiter Entfernung hörte ich den Nachrichtensprecher und dann noch einmal die Jubelrufe von vorhin, am Grenzübergang. Meine Lider wurden schwer und schwerer …

Erst als das Auto hielt und der Taxifahrer den Motor abstellte, kam ich wieder zu mir.

»Wir sind da.«

Ich machte die Augen auf. Wir befanden uns in einer baumbestandenen Wohnstraße. In einem der besseren Viertel offenbar, denn die Häuser sahen aus wie Villen und hatten gepflegte Vorgärten.

»Hier ist es?« In solch einer Gegend wohnte Florian?

»Jawohl: Viktoriaweg 12. Haben Sie Verwandte hier?«

Ohne seine Frage zu beantworten, machte ich die Tür auf. »Danke fürs Mitnehmen.«

»Gern geschehen. Ist ja ein historischer Tag. Besser gesagt: eine Nacht.« Er ließ den Motor wieder an.

Langsam ging ich auf das große Haus zu. Als ich das Gartentor öffnete, sprang über der Haustür ein Licht an.

Ich suchte nach der Klingel. Kein Name auf dem Schild. Obwohl ich mir sicher war, dass Florian längst schlief, läutete ich.

Nichts tat sich, kein Laut war zu hören.

Ich traute mich nicht, noch einmal zu klingeln, und sah mich nach dem Taxi um. Es war bereits davongefahren.

Sollte ich bis zum Morgen vor der Haustür warten? Oder wieder gehen?

In dem Moment wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Eine junge Frau im Morgenmantel sah mich fragend an: »Ja, bitte?«

»Wohnt Florian hier?« Meine Stimme klang heiser.

»Florian!«, rief sie über die Schulter und fragte dann: »Wer sind Sie?«

»Sybille.« Das musste genügen.

Die Tür ging weiter auf, und ein Mann trat neben die Frau. Bei meinem Anblick wurden seine Augen groß. Es war lange her, doch ich erkannte ihn. Und er mich auch.

Vor mir stand Florian.

Vogelgezwitscher aus dem Garten weckte mich. Das war so ungewohnt, dass ich noch ein Weilchen mit geschlossenen Augen liegen blieb und lauschte. Ganz langsam stellten die Erinnerungen sich wieder ein.

Florian hatte mich ins Haus gelassen. Ich war so erschöpft gewesen, dass ich nach ein paar Schritten zusammensackte, er konnte mich gerade noch auffangen. Ich wollte ihm alles erzählen. Von Oma und von Marthe und der Grenze und … aber ich bekam kein Wort über die Lippen. Die Frau richtete im Gästezimmer ein Bett für mich her, und Florian meinte: »Erst einmal musst du schlafen. Morgen reden wir über alles.« Er duldete keinen Widerspruch. Und ich schlief auch schon ein, noch ehe mein Kopf aufs Kissen sank.

Durch eine Vorhangritze fiel Sonnenlicht herein. Und die Vögel sangen wie im Hochsommer. Ich musste mir noch einmal klarmachen, dass ich nicht träumte, dass ich wirklich im Westen war. Und dass Oma … Unter meinen Lidern quollen Tränen hervor.

Von unten waren nun Geräusche zu hören. Wie spät war es? Ich fuhr hoch. Ich musste ja zur Arbeit, ich musste … Doch dann ließ ich mich wieder fallen. Die Arbeit spielte jetzt keine Rolle, denn nichts war mehr so wie gestern.

Nach einigen Minuten stand ich auf, schlüpfte in meine Sachen und ging leise die Treppe hinab. Sie mündete in eine Diele. Eine sehr große Diele, von der aus man durch eine Glastür ins Wohnzimmer mit offener Küche gelangte. Ich staunte, wie geräumig hier alles war.

Florian stand vor der Anrichte. Als er mich hörte, drehte er sich um.

»Guten Morgen.« Er lächelte und wies zum Tisch, der für eine Person gedeckt war.

Ich setzte mich. Vor mir stand eine ganze Batterie Gläser, drei Sorten Marmelade und zwei Sorten Schokocreme. Und ein Körbchen mit Weizenbrötchen und Vollkornscheiben. Neben dem Teller ein Glas Apfelsinensaft.

»Kaffee oder lieber Tee?«

»Kaffee bitte.«

Florian schenkte mir ein, füllte auch für sich eine Tasse und nahm mir gegenüber Platz.

Wir schwiegen, weil ich erst einmal aß. Und auch, weil keiner von uns so recht wusste, wie anfangen. Ich traute mich kaum, ihn anzusehen. Stattdessen blickte ich mich im Raum um. Am Kühlschrank hingen Kinderzeichnungen, und auf dem Boden daneben stand eine Aktentasche.

»Wir haben schon gefrühstückt, weil Catharina zur Arbeit musste. Sie hat Sophie in die Schule gebracht«, sagte Florian schließlich. Er holte tief Luft, wie um Mut für den nächsten Satz zu fassen. »Du hast mich also gefunden. Weißt du etwas … von Marthe?«

»Nein.«

»Du hast mir doch geschrieben. Und mir eine Telefonnummer gegeben.«

»Ja.«

Er hatte den Brief also erhalten. Und sich nicht gemeldet. Warum?

Er schien die Frage von meinem Gesicht abgelesen zu haben.

»Ich durfte keinen Kontakt mit dem Osten aufnehmen. Hat Marthe denn meine Karten bekommen?«

»Deine Karten?«

»Ich habe mehrere geschickt. An Omas Adresse. Sie ist die Einzige, der ich vertrauen kann. Ich war mir sicher, dass sie Marthe die Karten geben würde.«

Die Karten mit den seltsamen Sprüchen. Ohne Absender.

»Warum hast du nicht angerufen?«

»Weil ich, wie schon gesagt, keinen Kontakt mit dem Osten aufnehmen durfte.«

»Marthe hat geschlagene zwölf Jahre nach dir gesucht!« Ich sah Florian direkt ins Gesicht.

Ihm wurde unbehaglich, das merkte ich deutlich.

»Ich durfte ja nicht, weil …«, setzte er wieder an.

»Wie bist du überhaupt in den Westen gekommen?«, unterbrach ich ihn. Am Ende spionierte er doch für die DDR – wie sonst hätte er an das Geld für die vornehme Villa kommen sollen?

Statt zu antworten, stand er auf und nahm eine Zigarette aus der Schachtel auf der Anrichte. Er zündete sie an, sog den Rauch tief ein und wandte sich dann zu mir um.

»Ich bin freigelassen worden.« Seine Hand mit der Zigarette zitterte. »Die Bundesrepublik hat mich ’81 freigekauft. Mich und noch ein paar weitere Häftlinge mit intellektuellem Potenzial.«

Freigekauft? Die BRD hatte politische Häftlinge freigekauft!? Wenn herauskommt, wie viel Geld da geflossen ist, verliert die Regierung der BRD das Gesicht, hatte der Stasi-Mann gesagt.

»Ich habe eine Stelle an der Universität bekommen.« Er sah mich an, als wartete er auf eine Reaktion, aber ich sagte nichts. »Dort habe ich Catharina kennengelernt«, fuhr er fort. »Das Haus, in dem wir wohnen, gehört ihr.«

Er war freigelassen worden, hatte eine gute Stelle bekommen, wohnte mit seiner reichen Frau in einer edlen Villa, hatte wahrscheinlich auch noch ein schickes Auto – und er hatte es nicht für nötig befunden, seiner Familie ein Lebenszeichen zukommen zu lassen.

»Kann ich bitte telefonieren?« Mir war der Appetit vergangen.

»Klar, da drüben auf der Kommode steht das Telefon.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis abgenommen wurde.

Dem kurzen »Hallo« war nicht anzuhören, ob es Ulrich oder Jens oder irgendjemand anderes war.

»Ist Marco da?«

Sekundenlang war es still.

Dann Marcos Stimme: »Sybille, bist du das?«

»Ja.« Ich kehrte Florian, der noch immer an der Anrichte lehnte, den Rücken zu.

»Wo steckst du? Ich hab mir Sorgen gemacht. Wir alle haben uns Sorgen gemacht.«

Ich musste einen Kloß im Hals wegräuspern, ehe ich antworten konnte: »Ich bin im Westen.«

»Was? Wo bist du?«

»Kannst du mich bitte abholen?« Ich konnte nur noch flüstern, so erleichtert war ich, Marco erreicht zu haben. »Viktoriaweg 12, Lichterfelde.«

Es dauerte mehr als eineinhalb Stunden, dann kam Marco. Florian und ich hatten in der Zwischenzeit nicht mehr gesprochen. Ich hatte keine Lust, ihm noch irgendetwas zu erzählen. Er würde es vermutlich nicht verstehen, oder es interessierte ihn gar nicht … Er hatte meinen Brief bekommen und nicht darauf reagiert. Nicht einmal nach Oma hatte er mich gefragt, seit ich hier war.

Als es klingelte, rannte ich zur Tür.

»Alles in Ordnung?«, fragte Marco, als ich ihm um den Hals fiel. »Ja. Ich will hier weg.«

Florian war hinter uns in die Diele getreten und nickte Marco freundlich zu. Der schaute von ihm zu mir und wieder zu ihm.

»Es ist wirklich alles in Ordnung«, versicherte ich. »Ich will nur weg von hier.«

Am Straßenrand wartete ein Taxi.

Wir setzten uns beide auf die Rückbank.

»Wohin soll’s gehen?«, fragte der Fahrer.

»Zurück. Zurück in den Osten. Zurück nach Hause.«