25
Audrey hatte die Badezimmertür nur halb geschlossen, die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster, ließen ihren Rücken schemenhaft erstrahlen, in ein schwaches Rot getaucht. Sie stand auf Zehenspitzen, wahrscheinlich waren die Fliesen kalt. Nur mit einem Slip bekleidet, betrachtete sie sich in dem ovalen Spiegel über dem Waschbecken.
Pascal lag noch auf dem Bett und beobachtete sie. Er hatte erstaunlich tief geschlafen und tastete nach seiner Hose, dabei versuchte er kein Geräusch zu machen. Das Bild von Audrey, wie sie dort stand, fast nackt, in all ihrer Sportlichkeit, ihrer Anmut, in diesem Licht – er spürte, dies war der schönste Moment eines anstrengenden Tages, der vor ihnen lag, und so wollte er ihn nicht zerstören. Nur noch ein paar Minuten eintauchen in die Ruhe und den Frieden, der sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Sie waren, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, schnell eingeschlafen, erschöpft, mit dem Gefühl der vagen Vertrautheit des fremden Körpers.
Nur einmal, mitten in der Nacht, Pascal wusste nicht, wie spät es gewesen war, hatte er seinen Arm unter ihrem Nacken hervor zu sich gezogen. Er war eingeschlafen. Erst als das Kribbeln gestoppt hatte, hatte er zurück in den Schlaf gefunden.
Pascal sah, wie Audrey sich die Zähne putzte, dann drehte sie sich in der Tür zu ihm, strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und erhob die freie Hand zu einem Peace-Zeichen, was so viel wie »Guten Morgen« heißen sollte. Ein Relikt aus ihrer Vergangenheit als Tochter eines Hippie-Paares. Dann drehte sie sich wieder zurück zum Waschbecken, spuckte aus und gurgelte kurz mit dem Wasser.
»Voilà, Monsieur le gendarme, hast du schon die Nachrichten auf deinem Mobiltelefon angeschaut?«
Pascal stöhnte. »Das tue ich nachts stündlich, tagsüber alle zehn Minuten. Jetzt wollte ich noch eine Weile deinen Anblick genießen, bevor es losgeht. Die Realität ist manchmal so viel schlechter da draußen vor dem Fenster.«
»Nun hast du genug gesehen«, sagte sie, zog ihr T-Shirt über und schlüpfte danach in ihre Uniformhose. »Ich kann dir eine Nachricht von Frédéric Dubprée vorlesen.« Sie wedelte mit ihrem Portable.
In diesem Moment startete ein Treckermotor vor dem Haus. Sie hörten Stimmen, die Arbeiter machten sich auf den Weg in die Weinfelder. Die Ernte begann früh, wenn die Trauben noch kalt von der Nacht waren, dann goren sie später.
Audrey las die Textnachricht vor. »Die Kollegen aus Marseille haben in der vergangenen Nacht Carla Rodriguez aufgegriffen.«
Der Beschreibung nach war es die junge Frau, die Audrey im Hafenbecken von Marseille hatte versenken wollen.
»Sie bringen sie heute Vormittag her. Sie hat wohl eine Menge zu sagen.« Audrey ließ das Telefon sinken. »Wir müssen also nach Apt in mein Büro, zur Police nationale.«
»Merde«, sagte Pascal. »Das kann ich nicht. Ich muss zu Hause sein, wenn Lillie kommt.«
»Du musst vor allem ihren Ehemann finden«, sagte Audrey trocken. »Sie ist groß genug, um sich selbst etwas zu Mittag zu machen.«
»Darum geht es nicht«, sagte er, »es ist besser, sie ist gerade nicht allein.« Aber Audrey hatte recht. Er musste in dem Fall vorankommen, und so stand er auf, reckte sich und verschwand für ein paar Minuten im Badezimmer.
Bevor Pascal ins Auto stieg, schaute er noch einmal auf sein Telefon. Lillie hatte geschrieben, er öffnete die Nachricht, während Audrey sich ans Steuer setzte und das Seitenfenster öffnete.
»Bin unterwegs zu dir«, hatte sie nur geschrieben. Das bedeutete, sie würde um zehn Uhr dreißig vor seinem Haus stehen. Bordeaux war bei Leblanc, sie würde also nicht einmal von einem freundlichen Hund begrüßt werden, während Pascal bei der Police nationale in Apt sein würde, um die junge Frau zu befragen.
»Habe noch zu tun«, schrieb er. »Sage dir Bescheid, wann ich da sein kann. Wir haben eine neue Spur«, hängte er dran, löschte dann aber wieder den letzten Satz, um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen. Das konnte und wollte er nur persönlich erledigen, wenn sie vor ihm saß.
»Bon«, antwortete sie kurz.
Zu kurz, fand Pascal. Sie musste umkommen vor Angst und Sorge um Claude. Er wollte mehr wissen, mehr Worte, mehr herauslesen, eine Stimmung, auf die er reagieren konnte. Und so schrieb er nur »Hab dich lieb« als Abschluss eines hilflosen Chatverlaufs.
Claude war seit fast achtundvierzig Stunden wie vom Erdboden verschluckt. Sicher hatte Lillie bereits alle Krankenhäuser abtelefoniert, vielleicht hatte sie es auch bei Weingütern probiert. Lillie konnte nicht einfach nur dasitzen und abwarten, das schätzte Pascal an seiner Tochter. Sie fragte nicht, was sie tun konnte, sie erledigte einfach das Offensichtliche.
Eine Stunde später lenkte Audrey den Mégane auf den Parkplatz vor dem unansehnlichen Gebäude der Police nationale in Apt. Ein weißer Klotz mit einer französischen Fahne und dem Emblem des Départements Vaucluse.
Frédéric Dubprée saß bereits bei einem Kaffee mit Carla Rodriguez im Aufenthaltsraum. Nichts deutete darauf hin, dass sie unfreiwillig dort war. Statt im Verhörzimmer saßen sie wie alte Freunde zusammen.
»Bonjour, Audrey. Bonjour, Pascal«, sagte der Chef der Police nationale freundlich. »Darf ich vorstellen, das ist Carla Rodriguez.« Und an Audrey gewandt, mit einem feinen, abwartenden Lächeln: »Ihr habt ja bereits Bekanntschaft gemacht.«
Audrey schaute unsicher in die Runde.
»Madame«, sagte die Frau fast flehentlich auf gebrochenem Französisch mit spanischem Einschlag. »Ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen, ich war in Panik.« Ihr rollendes R war ausgeprägt.
Audrey nickte und rückte sich einen Stuhl zurecht. Auch Pascal setzte sich an den Tisch. Die drei Polizisten schienen die junge Frau einzuschüchtern. In ihrer Erscheinung erinnerte sie an eine Barbiepuppe mit etwas zu großem Busen, den sie in einem engen weißen Top und mit tiefem Ausschnitt zur Schau stellte. Große goldene Kreolen hatten sich in ihrem schulterlangen strohblond gefärbten Haar verfangen. Sie trug knallroten Lippenstift, künstliche Wimpern und war stark geschminkt, alles an ihr schrie nach Aufmerksamkeit, aber nicht der billigen Art. Ihre Kleidung erinnerte zumindest im ersten Moment an teure Designeroutfits. Eine Dolce-&-Gabbana-Tasche hatte sie vor sich auf den Tisch gestellt, mit der sie eine hilflose, primitive Form von Reichtum präsentierte, der Schriftzug obszön groß, sodass auf den ersten Blick jeder Mann verstand: Diese Frau hatte ihren Preis, es gab keinen Verhandlungsspielraum. Ein mit Swarovskisteinen verziertes Feuerzeug war aus der Tasche gerutscht und lag neben ihren nackten braun gebrannten Armen auf dem Tisch. Neben zwei goldenen Ringen trug sie eine Rolex. Schwer zu sagen, ob sie echt war, Pascal kannte sich in diesen Dingen nicht aus.
»Wir haben noch nicht angefangen«, eröffnete Frédéric Dubprée das Gespräch. »Señorita Rodriguez traf gestern Nacht auf die Kollegen der CRS und hat sich bereit erklärt, Licht in den Fall der zu Tode gekommenen Julie Lavelle und ihres Freundes Melvin Tarron zu bringen.«
Die Frau nickte, ihre Ohrringe klapperten im Takt.
»Gut, Madame. In welcher Beziehung standen Sie zu Julie Lavelle?«
»Wir waren Freundinnen, sehr enge Freundinnen. Wir haben uns alles erzählt, und ich habe ihr geholfen, Geld zu verdienen.«
»Wie meinen Sie das, Señorita?«
»Das ist ein weites Feld«, sagte sie. »Ich arbeite seit vielen Jahren als Hostess am Hafen von Marseille. Ich kenne die Kunden, und ich habe sie bekannt gemacht.«
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Muss ich das sagen?«, fragte sie, das erste Mal unsicher.
»Es würde uns helfen«, sagte Frédéric Dubprée gewohnt ruhig. »Sie müssen nicht in intime Details gehen.«
»Na gut. Ich habe einen Bruder, der, wie soll ich sagen, abgerutscht ist. Drogen, Alkohol, die falschen Freunde. Er kannte Melvin Tarron schon lange, sie haben Geschäfte zusammen gemacht, wie er es ausdrücken würde. Nichts Großes, nur ein bisschen Gras. Sie hingen oft an der Metrostation rum, und eines Tages brachte Melvin eine Freundin mit. Julie Lavelle. Sie waren noch kein Paar, aber Melvin, so sagte es mir mein Bruder, konnte nicht mehr klar denken, nachdem er sie kennengelernt hatte. Natürlich, sie war bildschön, nur hatte sie eine komische Art, sich zu kleiden, irgendwie so düster, immer schwarze Klamotten und klobige Schuhe. Aber ihr Gesicht war hübsch, sehr hübsch sogar, und das ungeschminkt. Ungeschminkt würde ich mich nicht auf die Straße trauen.« Sie lachte unsicher. »Ich kam mit ihr ins Gespräch, und es war so eine Art Seelenverwandtschaft.« Sie brach ab, danach zitterte ihre Stimme. »Deshalb mache ich das hier alles. Ich hätte schon viel früher mit euch reden sollen. Jetzt ist es zu spät. Aber was ich tun kann, das will ich tun, damit es wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit gibt. Ohne mich wäre sie niemals in diese Szene geraten, ohne mich wäre sie nie an Bord gegangen, ohne mich würde sie noch leben.« Sie begann zu weinen. Sie ließ die Tränen einfach über die Wangen laufen, erlaubte ihnen, Spuren zu ziehen, ohne sich darum zu kümmern. »Ich bildete mir ein, mich um Julie gekümmert zu haben, doch wahrscheinlich war es falsch. Ich habe sie zuerst auf ein Getränk und später zum Essen eingeladen. Irgendwann hat sie mir ihr Herz ausgeschüttet. Sie war die Tochter eines brutalen rechtsradikalen Winzers, der sie lieber bei den Reben statt in der Schule gesehen hat. Er wollte unbedingt, dass sie das Weingut irgendwann weiterführt. ›Irgendwann‹, hieß es immer, aber Julie war immer klar, dass dieses Irgendwann erst eintreten würde, wenn der Alte unter der Erde liegt. Und sie hatte Ideen, was sie machen wollte. Sie wollte Bioweine anbauen. Sie war in der alternativen Szene zu Hause, interessierte sich für irgend so einen Philosophen, der Schulen gegründet hat.«
»Rudolf Steiner«, sagte Pascal mit seinem neu erworbenen Wissen.
»Genau der. Nach seinem Prinzip wollte sie Wein produzieren. Sie wollte das Demeter-Siegel. Das hat sie irgendwann ihrem Vater erzählt, der aber ist ausgeflippt. Der ist ständig ausgeflippt. Als ich ihr eines Tages zu ihrem Geburtstag eine Kiste spanischen Wein geschenkt habe, die ich ihr aus meiner Heimat mitgebracht hatte, ist er gewalttätig geworden und hat die ganzen teuren Flaschen zerschlagen. Es kämen ihnen keine ausländischen Weine ins Haus, schon gar keine spanischen. Danach hat Julie nicht mehr mit ihm geredet und ist mit Hilfe ihrer Mutter in den Schuppen gezogen. Der liegt hinter dem Haus.«
»Ich weiß, ich war dort«, sagte Pascal leise.
»Echt jetzt?«, fragte sie. »Wie haben Sie das denn hinbekommen?« Sie musterte ihn gespannt.
»Es war ein Zufall, ich wollte mehr über sie erfahren.«
»Na, dann wissen Sie ja, wofür sie wirklich brannte. Sie wollte unbedingt ihren eigenen Wein machen. Und dann habe ich sie mit Noah Sauvage bekannt gemacht, einem Bekannten meines Bruders, der bei Lacoste ein alternativ geführtes Bioweingut leitet.«
»Den kenne ich auch«, sagte Pascal und zeigte auf die Wunde an seiner Stirn.
»Ach, hat er dich vermöbelt?« Carla Rodriguez lachte ungewollt, und Audrey konnte nicht anders und stieg ein.
»Ich weiß nicht, was daran witzig sein soll«, schob Pascal hinterher. »Aber der erzählte mir, er sei so eine Art Lehrer, und die Natur und die Reben würden niemandem außer der Natur gehören.«
»Pfft«, machte Carla. »Dass ich nicht lache. Ausgerechnet dieser Punk-Bhagwan muss das sagen.«
Alle drei blickten sie erstaunt an.
»Der hat aus jedem Quadratmeter Boden das Optimale rausgeholt. Wer da alles in der Lehre war. Haben Sie mal gefragt, was er als Lehrmeister die Stunde nimmt?«
Pascal wollte nicht zugeben, dass er Noah geglaubt hatte, und schwieg.
»Er hatte den großen Vorteil, dass sein ganzes Land, das er angeblich von seiner Oma geerbt hat, seit Jahren unbehandelt war. Um einen Boden vollkommen chemiefrei zu bekommen, dauert es Jahrzehnte. Erst dann darf der Wein als Demeter-Wein deklariert werden. Seine Oma war die erste Winzerin in der ganzen Provence, die auf Bioreben umgestellt hat. Sie ist mit fünfundneunzig Jahren, noch mit der Astschere in der Hand, gestorben, und Noah hat alles geerbt. Offensichtlich reichte ihm der Wein aber nicht, er hat daraus so eine Art Ökokommune gemacht und von jedem, der sich ihm anschloss, Geld genommen. Allerdings kann man ihm sein Wissen nicht absprechen. Er hat wirklich was drauf, und gegen die vielen Biowinzer, die wie Pilze aus dem Boden sprießen, erst recht. Immerhin ist Frankreich bei den Bioweinen ganz weit vorne, ein Riesenvorteil. Noah ist Berater und gefällt sich in der Rolle des Punks, auf den in den feinen Winzerkreisen gehört wird. Meine Freundin Julie war begeistert von ihm. Ich glaube, da lief auch etwas zwischen ihnen, aber das ist sicherlich nicht von Belang. Jedenfalls wollte sie bei ihm lernen, und er stellte ihr einen Hektar in Aussicht, den sie allein bewirtschaften dürfe, natürlich nach seinen Richtlinien. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der etwas so dringend wollte wie Julie. Sie war getrieben von Überzeugung, vom Glauben an ihre Idee und sicher auch von der Rache an ihrem Vater. Sie hat von nichts anderem mehr gesprochen. Sie wollte diesen Hektar. Sie wusste nur nicht, wie sie das Geld zusammenbekommen sollte. Tja, und dann bin ich ins Spiel gekommen.« Carla sank ein Stück im Stuhl zusammen. »Darf ich noch ein Wasser?«
»Bien sûr«, sagte Frédéric Dubprée und stand auf.
»Sie machen das toll«, motivierte Audrey die junge Frau. »Das bringt uns wirklich weiter.«
Frédéric Dubprée kam mit einem Glas Wasser zurück und brachte die Flasche gleich mit. Er stellte sie daneben und lächelte Carla Rodriguez freundlich zu. Pascal fiel auf, wie selten er den Mann hatte lächeln sehen. Er hatte gar nicht gewusst, dass er das überhaupt konnte.
»Wir ahnen sicher alle, wie Sie Julie zu Geld verholfen haben, aber es wäre hilfreich, es aus Ihrem Mund zu hören«, sagte Audrey.
»Zunächst hat Julie mich für eine Nutte gehalten«, begann Carla. »Doch ich habe versucht, ihr den Unterschied zu erklären. Ich bekomme kein Geld für eine Nacht oder für meine Begleitung, zumindest wird das nie festgehalten. Es ist ein Abkommen, ein stilles Abkommen zwischen ihnen und mir.«
»›Ihnen‹, das sind Ihre Kunden?«, fragte Audrey. Sie hatte übernommen. Vielleicht brachte ein Gespräch zwischen Frauen das Drama schneller ins Ziel.
»Meine Freunde«, verbesserte Carla. »Ich habe Freundschaften mit einigen sehr einflussreichen und mächtigen Männern geschlossen. Viele von ihnen sind spanische Winzer, die hier ihren Geschäften nachgehen. Wenn sie mit ihren Yachten anlegen, dann rufen sie mich an, und ich gehe zu ihnen an Bord. Das war auch die Chance für Julie, aber natürlich nicht so, wie sie aussah. Sie hatte zwar die bessere Figur, aber eindeutig die schlechteren Klamotten. Also sind wir shoppen gegangen. Wie viel die reichen Yachtbesitzer einem zuschieben, ist oft nicht klar, aber sie zeigen sich immer erkenntlich. Sie ließen mich manchmal mit ihrer Kreditkarte shoppen, oder sie kamen mit und suchten meine Dessous aus. Es gab auch Handtaschen oder Schmuck, wenn es besonders gut lief. Und wenn es bei mir mal eng wurde, habe ich das Zeug eben wieder verkauft oder umgetauscht, Geld-zurück-Garantie.« Sie lachte auf.
»Und in diese Welt haben Sie Julie eingeführt?«, fragte Audrey.
»Ja, das habe ich. Ich hatte genug Geld und noch ein paar gute Kontakte zu Boutiquen in der Stadt, die auf Rechnung verkaufen. Wir kauften dann drei Outfits, ein bisschen Schmuck und eine ziemlich coole Handtasche. Zuerst sah Julie zwar gut aus, aber irgendwie verkleidet. Sie brauchte eine ganze Weile, um sie selbstbewusst zu tragen. Mein Gott, das war alles so weit weg von ihrem Wesen, aber ich habe das ignoriert. Ich habe sie an ihre Parzelle erinnert, und dann stöckelte sie hinter mir her über die Kaimauer und auf die Yachten der Spanier, Russen und Franzosen.« Carla brach ab, niemanden störte die Pause, niemand drängte sie zum Weitererzählen. Gemeinsam ertrugen sie die Stille.
Dann setzte Carla wieder an. »Zuerst hatte niemand Interesse an ihr. So hübsch sie war, sie strahlte irgendwie keine Bereitschaft aus. Sie versteckte sich, obwohl sie mit am Tisch saß. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat, aber auf eine ganz eigene Weise war sie unsichtbar. Und während dieser ganzen Zeit gingen mein Bruder und Melvin auf Tour. Sie waren immer mit einem Roller durch die Gegend gefahren, an jeder Ecke stand ein Kunde, überall Bedürftige. Da konnte man Geschäfte machen, und das taten sie. Wie gesagt, nichts Großes. Obwohl Melvin immer versuchte, Julie zu treffen. Mein Gott, war der geil auf sie, dachte ich immer, aber er hat sie wirklich geliebt und gab sich Mühe, doch er war ein Loser. Er hat einfach nichts auf die Reihe bekommen, und während er dahinsiechte, nahm das Schicksal um Julie seinen Lauf. Und ich bin schuld. Als Julie mit den ersten Männern geschlafen hatte, wurde sie sicherer. Auch auf diesem Parkett muss man sich zu bewegen wissen. Das habe ich ihr beigebracht. Mir ist es egal, wo ich bin, ich komme überall klar.«
»In der Nacht, in der wir uns begegneten und Sie mich über die Kaimauer gestoßen haben, landete ich auf dem Boot von zwei Spaniern. Wer war das?« Audrey wartete auf eine weitere Bestätigung. Sie wollte wissen, ob die Frau vor ihnen log.
Carla schaute sich unsicher um. »Deswegen bin ich hier, aber es fällt mir schwer.«
Jetzt mischte sich Frédéric Dubprée wieder ein. »Das verstehe ich, aber wir müssen wissen, wer diese Spanier sind. Kennen Sie die Namen?«
»Oh mein Gott, ich habe Angst«, stammelte sie.
»Señorita Rodriguez, wir verraten keine unserer Informanten, das versprechen wir Ihnen. Dieses Gespräch hat niemals stattgefunden, wenn Sie gehen.«
»Ich weiß, dass der Dicke Alejandro Sánchez heißt und der andere, glaube ich, Alex. So jedenfalls wurde er manchmal von ihm angesprochen. Den Nachnamen kenne ich nicht.«
»Denken Sie nach, denken Sie an Julie. Alles könnte uns helfen«, fügte Audrey hinzu, Dringlichkeit im Blick, in der Stimme. »Was wissen Sie über Alejandro Sánchez? Hat er Geschäfte mit einem gewissen Luc Adel gemacht? Ist der Name mal gefallen?«
Carla atmete tief ein. »Ich weiß es nicht, beim besten Willen nicht. Den Namen kenne ich nicht, obwohl ich oft mit ihnen gesprochen habe. Sie haben ständig angerufen, aber vor allem ging es um Julie. Ich wurde zu so einer Art Kontaktperson, so eine Zuhälterin. Julie ist meist gar nicht ans Telefon gegangen, wenn sie die spanische Nummer auf dem Display gesehen hat. Darum haben sie immer wieder mich angerufen. Ich sollte kommen, aber Julie mitbringen. Julie, Julie, Julie. Es ging immer nur um sie. Gut, dass es mir egal war, solange die Geschenke und die Kohle stimmten. Dafür habe ich auch ein paarmal mit dem Dicken geschlafen, mit diesem Alejandro. Ekelig war das, geschnauft hat er wie ein Schwein.«
»Das müssen Sie uns nicht erzählen«, unterbrach Audrey. »Das geht uns nichts an. Wir müssen nicht wissen, mit wem Sie geschlafen haben. Nur wie Julie zu den beiden stand, ist für uns relevant.«
»Ich glaube«, setzte sie wieder an, »irgendwann ziemlich eng, irgendwann ist sie rangegangen, wenn sie anriefen. Eine Zeit lang waren sie ihre Lieblingskunden, aber dann ist irgendetwas passiert. Sie wollte nicht mehr hin. Wir haben nie darüber gesprochen. Sie wollte es mir immer erzählen, aber dazu ist es nicht mehr gekommen.« Wieder liefen Tränen aus Carlas Augen, diesmal noch heftiger. Sie stützte ihr Gesicht in die Hände und schluchzte.
Audrey, die am nächsten bei ihr saß, legte ihre Hand auf Carlas Unterarm.
»Ich weiß nur, dass auch sie Wein aus Spanien nach Frankreich gebracht haben. Manchmal stand an der Kaimauer ein Kleinlaster, hin und wieder kamen Männer mit einem größeren Boot. Aber wo sie den Wein hingebracht haben, das weiß ich nicht.«
Jetzt bohrte Frédéric Dubprée noch einmal nach. »Fiel in dem Zusammenhang mal der Name Domaine la fierté. Oder Château des quatre chiens? Luc Adel?«
Carla schüttelte den Kopf, wieder klapperten ihre Ohrringe. »Nicht dass ich mich daran erinnern würde. Domaine la fierté? Das ist doch das Weingut ihrer Eltern, oder?«
»Ja, aber wir müssen allem nachgehen.«
»Ich weiß nur, dass das Verhältnis zu ihrem Vater noch schlechter geworden war. Sie schlich sich nachts ins Haus und morgens früh wieder weg. Eines Nachts erzählte sie mir von ihren Ängsten. Sie spiele mit ihrem Leben. Ihr Vater würde sie bestrafen, schlimm bestrafen, würde er von ihrem Verhältnis zu den spanischen Winzern erfahren. Und doch habe sie es gewollt, es sei der Gegenschlag gewesen, der Vernichtungsschlag gegen ihren Vater. Sie hat ihn gehasst. Diesen Nazi-Vater.«
»Wir erzählen Ihnen etwas«, sagte Frédéric Dubprée. »Nathan wird vermisst. Ihr Vater.«
Alle drei beobachteten die Reaktion der jungen Frau, suchten nach Spuren.
»Wir haben bereits eine Vermisstenanzeige herausgegeben, und seit heute Morgen fahnden wir nach ihm. In diesen Minuten«, Frédéric Dubprée schaute auf seine Armbanduhr, »durchsuchen wir sein Haus. Wir haben zu viel Belastendes über den Mann gehört. Haben Sie eine Idee, wo er sich aufhalten könnte?«
Carla Rodriguez sah ihn erschrocken an. »Sie meinen, er hat etwas mit dem Tod seiner eigenen Tochter zu tun? Dieses Schwein!« Sie schrie die letzten Worte heraus, unkontrolliert, in die Höhe abrutschend, schrill.
»Bitte überlegen Sie, wo könnte er sich aufhalten?«
»Ich weiß es nicht. Der war doch immer nur bei seinen Reben.«
»Haben Sie mal etwas von dem Weingut Château des trois-mille saveurs gehört?«, setzte Frédéric Dubprée nach.
»Non«, sagte Carla Rodriguez kurz. »Ich habe mir die Namen auch nie gemerkt. Kann es sein, dass er dort ist?« Sie schaute in die Runde.
Sie alle wussten, dass dieses Weingut zumindest auf dem Papier nicht existierte, nirgendwo gemeldet war. Den Namen kannten sie nur von den Etiketten, die Pascal noch immer bei sich trug. Er nahm sie heraus und zeigte sie Carla.
»Haben Sie die schon einmal gesehen?«
Sie schaute auf das Etikett. »Klar, dieses Logo ist selbst mir aufgefallen. Es war auf dem Transporter, der manchmal an der Kaimauer stand. Und wenn sie auf dem Schiff tranken, stand oft eine dieser Flaschen auf dem Tisch. Scheint ein edler Tropfen zu sein.«
»Eher das Gegenteil«, entfuhr es Pascal.
»Könnte Nathan dort sein?«, fragte Carla Rodriguez erneut.
Pascal schüttelte den Kopf. »Nein, dieses Weingut gibt es nicht. Wir wissen aber noch nicht, was es damit auf sich hat.«
Inzwischen war Carla an den Hintergründen interessiert. »Das bedeutet, Alejandro und Alex haben ein Weingut, das es nicht gibt? Das wird ja immer besser.«
»Wie gesagt, noch können wir das nicht bestätigen«, sagte Frédéric Dubprée. »Aber haben Sie mal mitbekommen, dass die beiden Streit hatten, dass vielleicht noch weitere Männer auf der Yacht waren?«
Carla dachte nach. »Ich will natürlich niemanden beschuldigen, aber ich weiß, dass sie Feinde hatten. Manchmal saßen sie mit mehreren Männern an Bord und diskutierten. Nicht immer war die Laune gut, erst nach ein paar Flaschen Champagner. Aber diese Streits wurden heftiger, und mir ist aufgefallen, dass die beiden bei vielen Aufenthalten in Marseille ihre Yacht gar nicht mehr verlassen haben. Früher waren sie noch mit uns in die Boutiquen gegangen, irgendwann haben sie nur noch die Besitzer angerufen und gesagt, dass da gleich zwei Kundinnen kommen würden.«
»Waren sonst noch andere Gäste regelmäßig an Bord?«
Wieder dachte sie nach, schüttelte erst den Kopf, machte einen Schmollmund, dann schien ihr etwas einzufallen. Sie nickte plötzlich heftig wie in einem Stummfilm und machte der Runde Hoffnung, Hoffnung auf mehr. »Ja, manchmal kam ein vierter Spanier. Der dritte auf dem Schiff war nur der Kapitän, er war schweigsam. Man konnte denken, er hätte mit alldem nichts zu tun. Wie auch immer, eines Tages gab es auch mit dem Spanier einen Streit. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber Julie musste es irgendwie ausbaden. Ich glaube, Alejandro hat sie geschlagen, sie hatte eine blaue Wange.«
Audrey erinnerte sich an den Schlag, den sie von ihm bekommen hatte. Sie konnte dem Schmerz noch nachspüren.
»Ich nehme an, Julie wollte Geld statt Taschen und Ohrringe, damit sie sich endlich ihre Parzelle auf dem Weingut kaufen konnte. Sie hat mir mal erzählt, dass sie die beiden fragen wollte. Ich habe ihr davon abgeraten, aber sie meinte, sie hätte eine enge Beziehung zu ihnen aufgebaut. Sie meinte sogar, Alejandro würde sie lieben, es wäre einen Versuch wert. Ich riet ihr trotzdem ab, es gibt keine Liebe in unserem Geschäft. Liebe, darüber kann ich nur lachen. Aber sie wusste es besser. Geld gab es nie von diesen Männern. Die wussten, das könnte schwierig werden. Bei Prostitution hörte ihre kriminelle Energie anscheinend auf. Also gab es nur Taschen und Uhren oder Sonnenbrillen. Julie verkaufte alles und versuchte das Geld zusammenzubekommen, um es diesem Punk für seine Parzelle zu geben. So viel zum Thema ›Das Land gehört uns nicht‹. Einmal hat Julie für einen ihrer Dienste eine Uhr bekommen, gar nicht übermäßig teuer, ich habe sie zum Juwelier begleitet. Sie hatte die freie Wahl, und ich sagte ihr, sie solle sich die teuerste aussuchen. Das hat sie aber nicht getan. Sie nahm die günstigste, weil sie sie so schön fand. Sie ist ihrem Herzen gefolgt, das unterschied sie von uns.«
Carla schluchzte wieder, als sie sich erinnerte, dann fuhr sie fort. »Irgendwann hat sie die Uhr nicht mehr getragen. Sie erzählte mir, die Spanier hätten sie ihr abgenommen. Das hat sie getroffen, obwohl sie sich aus materiellen Dingen nichts gemacht hat, aber diese Uhr mochte sie irgendwie. Und dann habe ich versucht, sie zurückzuholen. Eben in der Nacht, als Sie mir begegneten. Ich wusste, vielleicht musste ich die Uhr stehlen. Julie hatte ein paar Tage später Geburtstag, ich wollte sie ihr schenken. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Ihren Geburtstag hat sie nicht mehr erlebt. In dieser Nacht wollte ich ihr die Uhr holen, doch ich hatte Angst. Also habe ich zur Sicherheit meinem Bruder und den anderen Jungs Bescheid gesagt, dass sie mich von der Yacht holen sollen, wenn ich nach dreißig Minuten nicht zurück bin. Und dann haben sie sich in den Hauseingängen versteckt. Zuerst habe ich Sie nicht als Flic, oh Entschuldigung«, sie schaute unsicher in die Runde, »als Polizist erkannt, bis Sie mir so komische Fragen gestellt haben. Okay, ich glaube, dann habe ich überreagiert und gesprüht. Pardon.« Sie zog einen Schmollmund. »Und dann kamen Sie«, sie deutete auf Audrey, »und Sie hatten auch keine Uniform an, für meine Brüder waren Sie ein Feind.« Carla schaute jetzt Audrey vorwurfsvoll an.
Audrey war sichtlich irritiert und sah zu Pascal, der aber schwieg.
»Ich dachte also, Sie gehören zu den Spaniern, und daher habe ich schnell reagiert und Sie geschubst. Tut mir leid, Madame.« Die Art, wie sie mit ihr sprach, war erschreckend einstudiert. Sie wusste, wie man sich ausdrückte, aber ihre Augen waren kalt. Das Mitleid kaufte Pascal ihr nicht ab, keine Sekunde.
»Danke, Madame«, sagte Frédéric Dubprée schließlich. »Sie können gehen. Aber wie erreichen wir Sie, wenn wir noch weitere Fragen haben?«
Sie lachte, als sie ihre Sonnenbrille aus dem Haar aufsetzte. »Monsieur, ich bitte Sie, Sie wissen doch, wo Sie mich finden.«
Mit einer eleganten Drehung wandte sie sich zur Tür und verschwand. Auf dem Tisch blieben nur ein mit Tränen durchtränktes Taschentuch und das Feuerzeug mit den Swarovskisteinen zurück.