Kapitel 22

Zwei Jahre zuvor

Fast eineinviertel Stunden waren vergangen, seitdem der dunkle Passat mit der Aufschrift Strafvollzugsbehörde aus der Einfahrt der Haft- und Verwahrungsanstalt Ila herausgerollt war. Die Tachonadel lag konstant bei 110 Stundenkilometern, während der Wagen an der Abbiegung nach Larkollen, südlich von Moss, vorbeisauste.

Stig Hellum saß auf der Rückbank neben Victor Wang. Der Sicherheitsgurt war quer über seine Brust gespannt. Er spreizte die Finger seiner mit Handschellen gefesselten Hände, als mache er sich bereit, jemanden in den Würgegriff zu nehmen. Dann legte er den Kopf zurück und begann die Melodie von Milord zu pfeifen.

»Schluss damit«, sagte Gustav auf dem Fahrersitz. »Hör sofort auf damit.«

Das Pfeifen verstummte.

»Gusty«, begann Stig Hellum und beugte sich leicht zur Seite, um Gustav im Rückspiegel sehen zu können. »Als ich in Stavanger lebte, hatte ich eine Nachbarin. Die war fast wie du. Alt, fett und griesgrämig.«

»Stig«, sagte Victor warnend. »Es reicht.«

»Was ist denn?« Stig Hellum glotzte Victor an und sah dann wieder in den Rückspiegel. »Es stimmt doch. Er ist alt, fett und griesgrämig.«

Gustav holte tief Luft und ließ sie hörbar durch die Nase wieder ausströmen. Stig Hellum streckte den Rücken durch.

»Sie saß viel draußen auf der Veranda. Gegenüber lag ein Spielplatz, wo ständig Kinder rumtobten. Wisst ihr, was die Alte machte?« Er sah Victor an. »Sie schimpfte sie aus. Die alte Krähe saß da und schimpfte die Kinder aus, weil sie draußen spielten und Spaß hatten. Sie wedelte mit den Armen, während sie schrie und sich zum Affen machte. Was sind das bloß für Menschen, die ein paar unschuldige Kinder nicht ertragen können. Die müssen doch völlig gestört sein. Und wisst ihr was?«

»Nein«, erwiderte Victor müde und uninteressiert.

»Ein Pfeifen nicht ertragen zu können ist genau das Gleiche. Denn was bedeutet das Geräusch von lachenden Kindern? Glück! Und was bedeuten ein paar fröhliche Pfeifgeräusche? Hm? Genau. Glück . Man pfeift ja nicht, wenn man wütend ist oder schlechte Laune hat. Es sei denn, man ist nicht ganz richtig im Kopf.« Stig Hellum grinste. »Aber ich bin sicher, dass unser Gusty hier …«

»Sein Name ist Gustav , Stig.«

»Ich habe Spitznamen für alle meine Freunde, das weißt du doch. Was ich also sagen wollte, ist: Unser Gusty hier … Pardon: Gustav  … gehört bestimmt zu der Sorte Mensch, die sauer wird, wenn er jemanden auf der Straße pfeifen hört.«

Die Vollzugsbeamten enthielten sich eines Kommentars.

»Denn weißt du, was Gusty dann denkt, Victor?«

Victor schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf den Gegenverkehr.

»Und möchtest du es vielleicht wissen?«

»Nein. Das genügt jetzt, Stig.«

Stig kicherte, grinste breit und sagte: »Ich verrat’s dir trotzdem. Du weißt doch, Victor, dass du in deinen achtundzwanzig Jahren mehr erlebt hast als Gusty in seinen sechsundfünfzig. Während du in den Urlaub geflogen bist und bunte Cocktails am Strand genossen hast, hat Gusty zu Hause auf dem Sofa gesessen und Bier getrunken – allein. Während du wichtige Ziele in deinem Leben erreicht und das mit Freunden im Restaurant gefeiert hast, hat Gusty zu Hause vor seinen Fertiggerichten gehockt – allein . Und während du ein paar heiße Frauen durchgebumst hast, hat Gusty zu Hause gesessen und sich einen runtergeholt – unnötig hinzuzufügen, aber nur, um jeden Zweifel zu beseitigen: allein . In gut dreißig Jahren wirst du dein Rentnerdasein mit einer tollen Frau, mit Kindern und mit ein paar süßen Enkeln genießen können. In knapp einem Jahr geht Gusty in Rente. Aber er freut sich nicht darauf. Im Gegenteil. Denn er wird die nächsten fünfzehn oder zwanzig Jahre in Einsamkeit verbringen – vorausgesetzt, sein verfettetes Herz versagt nicht vorher den Dienst. Oder er ergibt sich der Einsamkeit, die, wie er weiß, kommen wird, und fährt am letzten Arbeitstag kurz im Baumarkt vorbei, kauft ein paar Meter erstklassige Nylonschnur und geht dann in die Garage.«

Gustav nahm im Spiegel Augenkontakt mit Viktor auf und schüttelte den Kopf.

»Und deshalb«, fuhr Stig Hellum fort, »erträgt es Gusty nicht, wenn es anderen gut geht. Er war natürlich nicht immer schon alt, aber ich bin doch ziemlich sicher, dass er immer schon fett war. Nicht weiter schlimm, fett zu sein. Auch fette Menschen finden Glück und Liebe, auch sie. Aber wenn man fett und griesgrämig ist … Nun, dann wird’s schwer.« Er lehnte sich wieder zur Seite. »Hörst du, was ich sage, Gusty? Überleg mal, wie viel schöner das Leben aussehen könnte, wenn du ein netter und umgänglicher Typ wärst. Lächeln kostet nämlich nichts, weißt du?«

»Stig.«

Victors Ton war schärfer geworden.

»Ja, schon gut, schon gut. Ich höre auf.«

Sie fuhren ein paar Minuten weiter, ohne dass etwas gesagt wurde. Kurz vor dem Abzweig nach Råde sagte Stig Hellum: »Könnten wir mal kurz anhalten? Da vorn ist doch immer noch die Tankstelle, oder? Ich muss da mal kurz aufs Örtchen.«

»Nein«, erwiderte Gustav. »Wir werden nicht anhalten. Du schaffst das schon, bis wir in Halden sind.«

»Das will ich wirklich hoffen, Gusty.« Stig Hellum krümmte die Schultern. »Ich hatte immer schon ’nen empfindlichen Reisemagen. Seit Kindertagen.«

»Reisemagen«, sagte Gustav und grinste. »Du fährst nach Halden und nicht nach Hongkong.«

Am Abzweig nach Råde leuchtete ein gelbes McDonald’s-Schild in der Dunkelheit.

»Ich bin hier lange nicht mehr gewesen«, sagte Stig Hellum und betrachtete das Schild, bis sie daran vorbeigefahren waren. »Wenn schon Råde seinen eigenen McDonald’s bekommt, merkt man, dass die Welt sich weiterdreht.«

»Nimm die Eindrücke gut in dir auf«, kam es vom Vordersitz. »Es dauert nämlich eine Weile bis zum nächsten Mal. Falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt.«

»Wusstet ihr eigentlich, dass es auf der ganzen Welt nur ein einziges McDonald’s-Restaurant gab, das Konkurs gegangen ist?«, fragte Stig Hellum.

Keiner reagierte auf seine Frage.

»Ratet mal, wo das lag«, fuhr er fort.

»Das ist eine unsinnige Frage«, sagte Victor. »Da gibt’s doch bestimmt Zehntausende.«

»Ja, aber bloß eins, das pleitegegangen ist. Ratet doch mal. Nun macht schon. Ein Versuch. Und ihr müsst die Stadt sagen, nicht das Land.«

»Kabul«, kam es von vorn.

»Ach, jetzt bist du plötzlich interessiert, Gusty?« Stig Hellum kicherte. »Aber Kabul? Nein. Vielleicht in Grund und Boden gebombt, aber nicht pleite. Victor, du bist dran.«

»Ich hab keinen Bock.«

»Was bist du bloß für ein Spielverderber, Victor. Versuch’s noch mal, Gusty.«

»Ist ja vermutlich eine kleine Stadt, wo kaum Leute wohnen.«

»Die Stadt ist nicht besonders groß, aber da wohnen schon genügend Menschen, dass so’n Burgerschuppen laufen sollte. Du bekommst einen Tipp. Wir sind in Europa. Zehn. Neun. Acht. In Ordnung, da es dir anscheinend schwerfällt, bekommst du noch einen Hinweis. Wir gehen nach Skandinavien. Jetzt bin ich aber nett. Sieben. Sechs.«

»Mariestad.«

»Nix. Victor, dein Einsatz.«

»Stig«, sagte Victor genervt. »Ich scheiße dadrauf.«

»Das werde ich auch bald, wie ich merke.« Stig lehnte sich wieder zur Seite und sah Gustav erneut im Rückspiegel an. »Du hast gerade ein extra Leben geschenkt bekommen. Los, Gusty, hier bist du doch in heimischen Gefilden. Das schaffst du. Ich bin mir ganz sicher.«

Gustav verengte den Blick und dachte nach. Stig Hellums Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er beugte sich vornüber und stöhnte.

»Was ist los?«, fragte Victor und setzte sich anders hin.

»Ver-flucht-noch-mal.« Stig Hellums Gesicht verkrampfte sich. »Wir müssen anhalten.«

»Was ist denn?«, sagte Gustav.

»Ich hab doch gesagt, dass ich aufs Klo muss, oder?«

»Wie lange dauert es noch bis Halden?«, fragte Victor. »Viertelstunde?«

»Zwanzig Minuten, denke ich mal«, gab Gustav zurück. »Das schaffst du.«

»Nein …«, stöhnte Stig Hellum und presste die Hände auf den Bauch. »Wir müssen anhalten.«

»Wir können hier nirgendwo anhalten«, sagte Victor.

»Er spielt Theater«, sagte Gustav. »Er will bloß ein paar extra Minuten in Freiheit. Wir halten nicht an.«

»Verarschst du uns, Stig?«

»Welcher Mann mit einigermaßen Selbstachtung würde denn sagen, dass er sich gleich in die Hosen scheißt, wenn dem nicht so wäre?«, fauchte Stig Hellum. Er kniff die Augen zusammen. Es sah aus, als ob jeder Muskel in seinem Gesicht angespannt war. »Das wird nicht gut gehen, Jungs.«

Gustav fluchte, warf einen schnellen Blick nach hinten und sagte: »Was meinst du, Victor? Muss er auf den Topf oder nicht?«

»Er schwitzt etwas.« Victor legte eine Hand auf Stigs Schulter. »Du hältst doch noch ’ne Viertelstunde durch, wenn Gustav Gas gibt? Ganz sicher, dass du keinen Spaß mit uns treibst?«

»Bis zur nächsten Tankstelle sind’s fünf Minuten«, informierte Gustav. »Und von da dauert es nur noch zehn Minuten, bis wir in Halden sind, wenn ich aufs Tempo drücke. Das hältst du aus.« Gustav drückte das Gaspedal durch und wechselte auf die linke Spur. Der kleine Zweilitermotor beschleunigte den Wagen, so gut es ging.

Der Passat glitt am Verkehr auf der rechten Spur vorbei. Ein Notarztwagen im Einsatz kam ihnen entgegen und raste nach Norden. Einen Augenblick wurde der Innenraum von blauem Licht erhellt. Stig Hellum wiegte sich hin und her.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Ach verdammt, Stig!«, rief Victor und versuchte, seinen Brechreiz zu unterdrücken.

Er ließ das Fenster herunter. Gustav sagte etwas, aber der Lärm des Gegenwinds übertönte seine Worte. Den Kopf aus dem Fenster haltend würgte Victor erneut.

»Bisschen Gas musst du doch aushalten können, Victor. Das ist nur der Vorgeschmack auf das, was noch kommt, wenn ich nicht aufs Klo komme.«

»Hat er sich in die Hose geschissen?«, fragte Gustav mit lauter Stimme.

Victor zog den Kopf wieder ein, ließ das Fenster halb hochfahren und sagte: »Bis jetzt noch nicht. Aber er macht auch keine Witze.« Er sah den Schuldigen vorwurfsvoll an. »Was hast du denn bloß gegessen?«

»Wollen wir kurz an der Tankstelle in Solli Halt machen?«, fragte Gustav.

»Das musst du entscheiden«, erwiderte Victor.

Ein paar Minuten später fuhr Gustav bei Solli von der E6. Eine Tankstelle hob sich leuchtend vor der Dunkelheit ab. Ein großer Parkplatz breitete sich vor ihnen aus. Gleich neben der Tankstelle lag ein verdunkeltes Café. Vor dem Kiosk standen drei ältere Autos. Bei einem von ihnen klebte eine Südstaatenflagge am Heckfenster. Eine Frau in den Vierzigern betankte einen Polo.

»Viele Leute«, sagte Victor. »Das gefällt mir nicht.«

Durch die Scheiben konnten sie ein paar Jugendliche sehen, die herumstanden und aßen.

»Nur die üblichen Tankstellenräuber, wie’s aussieht«, sagte Gustav. »Ich hoffe, das Klo liegt auf der Rückseite, dann entgehen wir da drinnen der Aufmerksamkeit.«

»Wir sollten aber sowieso eine Runde drehen«, sagte Victor. »Nur um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Könnt ihr nicht einfach den verdammten Wagen anhalten?«, rief Stig. »Ich hock mich auch hier draußen hin, wenn’s nicht anders geht.«

Gustav und Victor ignorierten ihn. Der Wagen rollte langsam um die Tankstelle herum. Auf der Rückseite gab es eine Tür mit einem Schild, auf dem stand: »Fernfahrerraum – Sofa, TV , Dusche, WC  – fragen Sie in der Tankstelle nach dem Schlüssel«. Gustav bremste ab und zog die Handbremse an.

»Victor«, sagte Gustav, »gehst du rein und fragst nach dem Schlüssel?« Er verließ den Wagen und ging zur hinteren Seitentür. Victor antwortete mit einem Nicken und stieg ebenfalls aus. Mit schnellen Schritten verschwand er hinter der Hausecke. Gustav öffnete die andere Tür, löste den Sicherheitsgurt des Gefangenen und umfasste seinen Oberarm. Stig Hellum blieb mit krummem Rücken neben dem Wagen stehen. Er zitterte.

»Nicht mehr so lustig, wie?«

»Halt die Klappe, Gusty«, stöhnte Stig Hellum, ohne den anderen anzublicken.

Victor kam mit dem Schlüssel angelaufen. Er hing an einem kleinen Holzbrett. Gustav schnipste mit den Fingern und streckte die Hand aus. Victor warf ihm den Schlüssel zu. Gustav fing ihn auf und bat Victor, den Gefangenen festzuhalten, während er den Raum durchsuchte.

Gustav schloss auf. Der vordere Teil bestand aus einem kleinen Aufenthaltsraum mit Tisch, Sofa und Fernseher. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Es gab ein Waschbecken, eine Toilette und eine Duschkabine. Keine Fenster.

»Die Dusche steht bereit, falls schon was danebengegangen ist«, sagte Gustav, als er wieder herauskam. Er packte Stig Hellums Arm und führte ihn hinein. »Pass hier draußen auf, Victor. Und ruf, wenn was ist.«

»Verstanden.«

Victor machte ein paar Schritte auf den Wagen zu. Die Tür zum Fernfahrerraum fiel ins Schloss. Auf der E6 hinter ihm rauschte der Verkehr vorbei. Er sah aufmerksam in alle Richtungen. Die Landschaft um ihn herum lag im Dunkeln. Die drei Fahrzeuge wurden fast gleichzeitig angelassen. Sekunden später ertönte das Geräusch zweier Motoren mit viel zu hoher Umdrehung. Dann folgte der dritte Wagen. Victor trat einen Schritt vor und sah die drei Autos, die vor der Tankstelle gestanden hatten, auf die E6 auffahren. Der Wagen mit der Südstaatenflagge lag ganz hinten.

Im Fernfahrerraum stand Stig Hellum mit dem Rücken etwa einen Meter vor Gustav.

»Dann mach mal, was du machen musst«, sagte Gustav und blickte auf einen Stapel Zeitungen und Magazine auf dem Tisch.

Stig Hellum drehte sich um und hob die gefesselten Hände, soweit es ihm möglich war.

»Nein«, sagte Gustav. »Kommt nicht infrage.«

»Und wie soll ich mich dann abwischen?«

»Ist nicht mein Problem«, erwiderte Gustav.

»Da irrst du dich, Gusty. Es ist dein Problem. Oder das von Victor da draußen.«

Gustav musterte die Gestalt vor sich. Stig Hellum war mager und sehnig. Gewichtsmäßig etwa die Hälfte des kräftigen Vollzugsbeamten.

»Ach komm schon, Gustav«, bettelte Stig Hellum. »Lass mich wenigstens meinen Arsch abwischen, ehe ich mir die Hose wieder hochziehe. Die Fußfesseln bleiben doch dran. Was kann ich mit einem freien Arm schon Schlimmes anstellen? Ihr seid zu zweit, verdammt.«

»Setz dich«, sagte Gustav nach einem Augenblick und machte eine Handbewegung.

Stil Hellum ließ den Hintern auf den Tisch sinken. Gustav stellte sich eine Armlänge neben ihn, nahm die Schlüssel hervor und befreite eine seiner Hände.

»Du hast exakt drei Minuten.«

»Eine reicht schon«, sagte Stig Hellum. »Kann ich abschließen?«

»Nein, du Idiot. Natürlich kannst du nicht abschließen.«

Die Tür zum Bad schloss sich. Gustav ging zum Eingang und stellte sich vor die Tür des Fernfahrerraums. Victor stand beim Wagen und sah zu ihm herüber.

»Alles in Ordnung?«, fragte der jüngere Kollege.

»Jaja.«

»Völlig irre, dass er tatsächlich aufs Klo musste.«

»Ich dachte, er verarscht uns.«

»Ich auch. Aber es stank, als wär da was in seinem Hintern hochgekrochen und kurz vorher verreckt. Sollen wir unseren Zwischenstopp melden?«

»Nee, das brauchen wir nicht. Wir sind nicht mehr als fünf Minuten verspätet. Maximal.« Gustav zündete sich eine Zigarette an. »Du bist noch nicht wieder rückfällig geworden?«

»Nein. Ist jetzt fast vier Monate her, dass ich den letzten Zug genommen habe. Ist auch kein Problem mehr. Außerdem hab ich ’ne bessere Kondition, und ich rieche und schmecke mehr. Unfassbar, dass ich nicht früher aufgehört habe«, meinte Victor.

»Ich sollte auch aufhören.« Gustav nahm einen tiefen Zug, stieß den Qualm wieder aus und hustete. »Ich war letzte Woche beim Arzt. Jährliche Kontrolle. Weißt du, was er gesagt hat? War so’n junger Typ. So’n Ausländer. Hat nur gebrochen Norwegisch gesprochen und sah nicht älter aus als zwanzig.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Dass alles bei mir hoch sei, außer der Verbrennung.«

Gustav nahm noch zwei Züge, warf die Zigarette auf den Boden und ging wieder hinein. Hinter ihm fiel die Tür zu. Er stellte sich vor das Badezimmer. Konnte nichts anderes hören als das Wasser, das mit voller Kraft ins Waschbecken strömte.

»Stig?«

Keine Antwort. Gustav klopfte an die Tür.

»Stig? Bist du da drinnen ohnmächtig geworden?«

Schweigen.

»Stig?« Gustavs Stimme klang laut und nachdrücklich.

Immer noch nur fließendes Wasser. Gustav öffnete die Tür. Er brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um festzustellen, dass Stig Hellum nicht auf der Toilette saß. Im selben Moment nahm er etwas im Augenwinkel wahr und drehte sich so schnell herum, wie es einem Mann mit 140 Kilogramm Körpergewicht möglich war.

Aber es war nicht schnell genug.

Stig Hellum kam von der Seite angeflogen. Er warf sich auf Gustav und umklammerte ihn. Schloss den freien Arm um seinen dicken Hals und drückte zu. Gustav schwankte hin und her, gewann aber dann das Gleichgewicht zurück. Er versuchte, Stig Hellum abzuschütteln, aber der hing an ihm wie ein schwerer Rucksack. Gustav schwankte rückwärts aus dem Bad und versuchte, Anlauf zu nehmen. Verlagerte das Körpergewicht nach hinten und krachte gegen die Wand. Der Zusammenstoß war nicht hart genug, um Stig Hellum zum Loslassen zu bewegen. Im Gegenteil, der Gefangene verstärkte den Griff um Gustavs Flusspferdhals.

»Victor!«, schrie Stig Hellum. »Victor!«

Gustav schlug nach hinten aus, aber seine kurzen Arme verfehlten das Ziel. Sein Gesicht wurde langsam lila. Er schnappte nach Luft.

»Pssssst«, flüsterte Stig Hellum ihm ins Ohr und brüllte dann wieder: »Victor!«

Victor kam angerannt, blieb dann aber wie angewurzelt in der Tür stehen. »Was zum Teufel machst du da?«

Ihre Blicke verschränkten sich ineinander. Gustav kämpfte nicht mehr gegen seinen Widersacher an. Stig Hellum löste den Griff ein winziges bisschen. Gustav sog begierig die Luft ein und füllte seine Lunge, atmete aus und füllte sie abermals.

»Victor, jetzt hör mir gut zu. Wie das hier enden wird, hängt ganz von dir ab. Verstehst du?«

Victor nickte.

»Gut. Dann lasse ich erst mal zu, dass unser Freund Gusty weiteratmen darf. Du weißt vermutlich, dass ich diesem Fettwanst so schnell den Hals brechen kann, als wär er ein Vögelchen? Nicht wahr?«

Erneutes Nicken.

»Jetzt geh runter auf die Knie und komm zu mir rüber. Wenn du das gemacht hast, schließt du meine Fußfesseln auf und legst die Schlüssel für die Handschellen auf den Boden.« Stig Hellum sprach langsam. »Danach nimmst du deine eigenen Handschellen und schließt dich selbst an das Rohr unter dem Waschbecken an. Verstanden?«

Victor rührte sich nicht und sah ihn an.

»Tu, was ich dir sage!«, brüllte Stig Hellum.

Victor ging auf die Knie und kroch wie ein Pinguin durch den Raum. Mit zitternden Fingern nahm er die Schlüssel für die Fußfesseln und schloss sie auf. Gustav versuchte, sich zu bewegen. Stig knurrte und drückte wieder fester zu.

»Sei doch nicht dumm, Gusty«, sagte Stig Hellum, während das Gesicht des Vollzugsbeamten wieder rotlila anlief. »Die Schlüssel für die Handschellen, Victor.«

»Die … die … die liegen … da drüben.« Mit zitternder Hand zeigte er auf die Stelle vor Gustavs Füßen.

»Siehst du, Gusty? Da haben wir den Unterschied zwischen dir und Victor. Niedriger IQ  … und hoher IQ .« Stig Hellum trat zwei Schritte zur Seite. Gustav folgte ihm gezwungenermaßen. »Entspann dich, Victor. Das hier wird schon gut gehen.«

Victors Hände zitterten so sehr, dass er drei Versuche brauchte, um seine eigenen Hände an das Rohr unter dem Waschbecken zu fesseln.

»Gut, ja. Weitere Schlüssel hast du nicht, oder?«

Victor schüttelte panisch den Kopf und blickte auf Gustavs lila Gesicht. Stig Hellum verstärkte noch einmal den Druck um Gustavs Hals.

»Lass ihn los!«, schrie Victor. »Du kannst jetzt abhauen!«

Gustavs Füße knickten ein. Seine Augen ähnelten Tischtennisbällen, die jeden Augenblick herauspoppen konnten.

»Guuustyyy … «, sagte Stig Hellum leise in Gustavs Ohr, während sie beide zu Boden sanken. »Die richtige Antwort war Halden.« Er kicherte. »McDonald’s in Halden.«

Gustav konnte nur noch einen Arm heben. Er griff nach hinten, aber die Bewegungen wurden mit jedem Versuch schlaffer. Stig hing immer noch an ihm.

Gustavs schwerer Körper fiel vornüber. Sein Gesicht knallte auf den gefliesten Fußboden. Stig blieb weiter auf ihm liegen und umklammerte ihn mit aller Macht. Dann schloss er die Augen, atmete ein paarmal tief durch die Nase ein und öffnete die Augen wieder. Er ließ Gustav los, stand auf und sah Victor an.

»Tut mir leid, Kumpel«, sagte er und verpasste Victor einen Tritt mitten ins Gesicht.