Kapitel 23

Dienstag, 13. September

»Haben Sie deswegen eine gebrochene Nase?«, fragte Anton.

»Ja.« Victor Wang fuhr mit dem Finger über die Narbe. »Verdammt.« Er klopfte auf seine Uniformhose und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Ich muss eine rauchen.« Er sah auf die Uhr. »Ist es okay, wenn wir draußen weitermachen? Die Insassinnen sind erst mal eine Weile beschäftigt.«

»Kein Problem«, sagte Anton.

Sie traten hinaus in die Herbstluft. Das Gefängnis Ravneberget lag in völliger Stille. Das einzig hörbare Geräusch war das des Windes, der die umstehenden Bäume streichelte. Victor Wang zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch begierig ein. Sie stellten sich unter den Baum, der am Ende des Innenhofs einsam in die Höhe ragte.

»Wurden Sie von der Tankstellenbedienung gefunden?«

»Nein. Da kam ein polnischer LKW -Fahrer. Der Ärmste wollte sich bloß zwanzig Minuten aufs Ohr legen und landete dann mitten in diesem Scheiß …« Neuer Zug an der Zigarette. Die Hand zitterte. »Man sollte ja eigentlich auf so was vorbereitet sein, wissen Sie. Fähig sein, so eine Situation zu bewältigen. Aber ich hab bloß unterm Waschbecken gehockt und geflennt wie ein kleines Mädchen, während der Pole die Bedienung holte, die mich dann mit der Zange befreit und die Polizei gerufen hat.«

»Stig Hellum hat Sie verschont. Wissen Sie warum?«

»Ich habe bei den Insassen niemals irgendwelche Unterschiede gemacht – und mache das bis heute nicht. Die sitzen eine Strafe ab, entweder hier in Ravneberget oder in Ila. Wir sorgen dafür, dass diese Zeit so schmerzlos wie möglich vergeht, und tun alles Mögliche, damit die Insassen sich wieder in die Gesellschaft eingliedern können. Für mich spielt es keine Rolle, ob jemand einen Mord begangen hat oder zu schnell gefahren ist.«

»Gustav war nicht so großmütig?«

»Hier geht es nicht um Großmut. Wir sind hier, um eine Arbeit zu erledigen. Man kann das ja durchaus mit der Arbeit vergleichen, die Sie bei der Polizei machen. Es ist doch letztlich egal, ob Sie ausrücken, um einen Drogenabhängigen aufzulesen, der versucht hat, einen Liter Milch aus dem Laden um die Ecke zu stehlen, oder ob Sie wegen eines häuslichen Streits gerufen werden, bei dem der Ehemann seine Frau verprügelt hat. So oder so greifen Sie ein, setzen den Festgenommenen ins Auto und fahren mit ihm zur Wache. Es ist ja auch nicht so, dass Sie dem Drogenabhängigen bei der Ankunft dann ein Glas Milch servieren, während Sie dem Typen, der seine Frau oder Freundin grün und blau geschlagen hat, im Auto eine Tracht Prügel verpassen. Aber Gustav war einer von der alten Schule. Knallhart. Und Hellum gegenüber hat er sich nun eben nicht immer sonderlich nett verhalten. Natürlich hat er ihn niemals körperlich angegangen – so etwas hätte ich auf keinen Fall geduldet. Dennoch gab es die eine oder andere fiese Bemerkung. Aber dass er mich verschont hat und Gustav nicht, lag vermutlich daran, dass Hellum Gustav für eine Episode verantwortlich machte, die einige Jahre zurücklag. Hellum wurde von jemandem angegriffen, und laut ihm hätte das vermieden werden können, wenn Gustav nicht beschlossen hätte wegzusehen. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Gustav konnte sehr hart sein und hat oft dummes Zeug geredet, aber er war nicht bösartig.«

»Da Sie das gerade erwähnen«, sagte Anton, »fällt mir ein, dass ich das damals in der Zeitung gelesen habe, dass Hellum im Gefängnis überfallen wurde. Kann das 2011 gewesen sein? Oder 2012?«

»Im Frühjahr 12.« Victor Wang nahm einen tiefen Lungenzug. »Vielleicht erinnern Sie sich auch, dass über diese Geschichte kaum ein Wort verloren wurde.« Er klopfte seine Asche ab. »Die ganze Sache wurde ziemlich runtergespielt, aber er ist nun mal krankenhausreif geschlagen worden und lag drei Wochen im Bett.«

»Haben Sie Gustav mal gefragt, ob Hellums Behauptung zutraf?«, fragte Anton.

»Nein.«

»Weil Sie fürchteten, dass Ihnen die Antwort nicht gefallen würde?«

Vier Insassinnen kamen gleichzeitig aus einem der Gebäude. Victor Wang sah ihnen nach, bis sie den Innenhof durchquert hatten und in ein anderes Gebäude hineingegangen waren.

»Nein«, erwiderte Victor Wang nach einer Weile. »Sondern weil ich sicher war, dass es nicht stimmte.«

»Aber weswegen sollte dann nicht weiter darüber gesprochen werden?«, fragte Magnus.

»Die hatten ihn ziemlich vermöbelt. Er hatte Zähne verloren und spuckte Blut, als die Kollegen ihn fanden. Außerdem hatte er noch einen hässlichen Schädelbruch.« Victor Wang legte einen Finger an die Stirn, gleich über der Augenbraue. »Er hat schließlich eine Stahlplatte in den Schädel eingesetzt bekommen. Die Ärzte meinten, es war reine Glückssache, dass er überlebt hat, und ein schieres Wunder, dass er keine ernsten Schäden davongetragen hat.«

»Aber was hat das mit der Heimlichtuerei zu tun?«, fragte Magnus.

»Es wurde verschwiegen, weil so etwas in norwegischen Gefängnissen nun mal nicht passiert«, sagte Anton. »Oder jedenfalls nicht passieren darf. Wohin ist Hellum gefahren, was meinen Sie? Ihr Wagen stand ja noch da, oder?«

»Ja. Er hatte zwar die Autoschlüssel genommen, aber womit und wohin er fuhr …? Keine Ahnung. Er kann in jede erdenkliche Richtung verschwunden sein. Aber wenn ich raten sollte, dann würde ich sagen, er fuhr nach Askim.«

»Zu seiner Mutter?«, sagte Magnus. »Das ist doch wohl der letzte Ort, an den er gefahren wäre.«

»Eben. Ich habe nie geglaubt, dass er nach Schweden rübergefahren ist. Das wäre das Einleuchtende gewesen. Aber Hellum ist zu schlau für das Einleuchtende. Ich glaube, er fuhr nach Hause. Nicht für lange, nur für einen kurzen Aufenthalt. Nur um sie zu treffen und ihr zu versichern, dass sich alles regeln würde. Die beiden hatten ein sehr enges Verhältnis. Fast ein bisschen schräg.«

»Inwiefern?«, fragte Anton.

»Hellums Mutter hat eine Augenkrankheit, die dazu führte, dass sie immer schlechter sehen konnte. Schon als Stig ein Teenager war, ist sie völlig erblindet. Einmal habe ich gehört, wie sie zu ihm sagte: Nichts hat sich geändert. Ich passe weiter auf dich auf . Ich hüte dich wie meine Augäpfel. «

»Wolltest du weiter nichts dazu sagen?«, fragte Magnus, als sie wieder auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis im Auto saßen. Er ließ den Motor an, rollte rückwärts aus der Parklücke, fuhr aber nicht weiter. »Willst du mir nicht antworten?«

»Was gibt’s da zu sagen? Es hat mich erwischt. Einer von drei Norwegern bekommt diesen Mist. Oder war es einer von fünf?«

Magnus sagte nichts. Er saß bloß da und musterte das bleiche Gesicht neben sich.

»Der Krebs hat meinen Großvater umgebracht, als er bloß ein paar Jahre älter war als ich jetzt. Liegt halt im System. Mit der Genetik soll man nicht scherzen, Torp. Mein Vater lässt sich zweimal im Jahr durchchecken. Scan von oben bis unten. Vielleicht überspringt das ja immer eine Generation? Dann nehme ich es halt für meinen Vater und für Alex auf mich. Und das ist völlig in Ordnung. Solange es nur schnell geht.«

»Wovon redest du? Du hast ’ne Grippe.«

Anton berichtete von seinem Besuch bei Dr. Hass und von der Nacht auf dem Badezimmerfußboden.

Eine Vollzugsbeamtin kam an ihnen vorbei und setzte sich in ihren eigenen Wagen, während sie telefonierte.

»Und nein«, sagte Anton. »Du darfst es nicht angucken.«

»Ich hatte auch nicht vor zu fragen.«

Magnus drückte auf das Gaspedal und fuhr vom Parkplatz. Das Gefängnis Ravneberget verschwand im Rückspiegel. Er lenkte den Wagen die schmale Straße zwischen den Bäumen hinunter, hielt an der Hauptstraße an und wartete darauf, dass er freie Fahrt hatte.

»Du bist also am Donnerstag wach geworden und hattest Schmerzen in den Nüssen?«

»Fing schon etwas früher an.«

»Tja. Weiß auch nicht, was das ist. Jedenfalls kein Krebs. Glaubst du etwa, der entsteht einfach so ?«, sagte Magnus und schnipste mit den Fingern.

»Bist du jetzt auch Arzt, oder wie?« Anton sah ihn durchdringend an. »Dr. Hass hat es nämlich nicht ausgeschlossen. Aber was weiß schon ein norwegischer Arzt mit einem medizinischen Examen aus Osteuropa? Dass ich überhaupt in Erwägung gezogen habe, ihn aufzusuchen, wo ich doch einfach Dr. Torp hätte fragen können. Denn Dr. Torp ist nicht nur ein hervorragender Allgemeinmediziner – er ist außerdem auch noch einer der weltweit führenden Krebsspezialisten!« Anton legte eine Hand in den Schritt und fluchte. »Er kann eine Diagnose stellen, indem er dich einfach ansieht. Nein, lass mich aussteigen, und ab mit dir in die Onkologie der Uniklinik. Oder in die Medizinische Poliklinik Magnus Torp , wie es bestimmt bald heißen wird.«

»Du meine Güte«, sagte Magnus und lachte. Die Straße wurde frei. Der Wagen rollte weiter. »Aber das geht so nicht. Du kannst in diesem Zustand nicht arbeiten. Ich fahre dich ins Krankenhaus Kalnes.«