Vier Stunden waren vergangen, seit Magnus ihn in die Notaufnahme gefahren hatte. Anton hatte ein Armband mit seinem Namen und seiner persönlichen Identifikationsnummer bekommen. Jetzt stand er in einem der Untersuchungsräume vor einer Chirurgin, die jünger als Magnus zu sein schien. Sein Puls war hoch, Schweiß tropfte ihm von der Stirn und bedeckte seinen Rücken. Die Chirurgin studierte den Aufnahmebogen, der von einem Krankenpfleger ausgefüllt worden war.
»Hier steht unverheiratet. Heißt das, dass Sie Single sind?«
»Ja.«
»Sind Sie sexuell aktiv?«
»Jaja«, erwiderte Anton. »Natürlich bin ich das.«
»Viele verschiedene Partner?«
»Ich bin schließlich Junggeselle«, sagte er und merkte, dass sein Ton ein winziges bisschen schärfer geworden war.
»Ja, deshalb frage ich ja. Ungeschützter Sex?«
»Passiert schon mal, ja. Aber was hat das damit zu tun?«
»Ich habe gesehen, dass Sie nicht allein gekommen sind. Sind Sie mit einem Familienangehören hierhergekommen?«
»Nein, er ist ein Kumpel.« War jetzt der Punkt gekommen, an dem sie vorschlug, dass Magnus hereinkommen sollte? Damit Anton nicht allein sein musste, wenn er die Mitteilung erhielt? »Ich habe mein halbes Leben mit Tod und Unglück zu tun gehabt, daher will ich’s Ihnen einfach machen: Wie lange habe ich noch? Hat er schon gestreut?«
»Sie glauben, es ist Krebs?«
»Ich weiß , dass es Krebs ist.«
»Entspannen Sie sich. Ausgehend vom Ultraschall deutet alles auf eine Epididymitis hin. Das kann von einer heftigen Harnröhrenentzündung kommen oder wird dadurch verursacht, dass man schon längere Zeit an Chlamydien oder Gonorrhö leidet, ohne behandelt zu werden, aber davon sind Sie nicht betroffen.« Sie legte eine kurze Pause ein und fuhr dann fort. »Ich habe allerdings auch schon Fälle gesehen, die durch ungeschützten Anals…«
»Nein«, fiel ihr Anton ins Wort und hob die Hände. »Nein. Nein. Nein. Nein. Streichen Sie den Kumpel .« Er wedelte mit den Händen. »Er da draußen ist ein Kollege. Ich bin Polizist. Wir arbeiten zusammen. Es kommt von einer Harnröhrenentzündung.«
»So einfach sollte es sein«, sagte die Ärztin lachend, »aber in der Tat kann es gut sein, dass es dadurch verursacht wurde.«
»Kann sein? Der Grund ist ganz klar eine Harnwegsinfektion.«
»Die Urinprobe ist noch nicht analysiert worden, wir bekommen also erst morgen früh eine endgültige Antwort.«
»Und was haben Sie noch mal gesagt? Was habe ich jetzt?«
»Eine Epididymitis, eine Nebenhodenentzündung. Völlig ungefährlich, aber eben sehr schmerzhaft – wie Sie erfahren durften. Das Problem dabei ist, dass Sie das offenbar schon etwas länger haben. Wenn Sie schon vorige Woche zum Arzt gegangen wären, würde es Ihnen jetzt vermutlich wieder gut gehen. Der Radiologe sagte, es könnte sich vielleicht ein Abszess gebildet haben, und er …«
»Was ist das?«
»Eine Vereiterung, die sich um die eigentliche Entzündung herum bildet. Dabei kann es passieren, dass das Antibiotikum nicht wirkt.« Die Chirurgin studierte wieder den Aufnahmebogen. »Momentan haben Sie einen CRP -Wert von 180. Falls wir den mit dem Antibiotikum nicht herunterbekommen, müssen wir eine Drainage legen.«
Der Schweiß hörte auf zu fließen. Für einen Augenblick wurde Anton eiskalt, ehe die Hitze wieder zuschlug. Als hätte jemand Kerosin in den Fiebermotor gekippt.
»Können Sie mich nicht gleich einschläfern?«
Die Ärztin erhob sich und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Das wird schon. Sie bleiben jetzt hier bei uns, und dann geben wir Ihnen das Antibiotikum intravenös, sodass es direkt in Ihr Blut geht.«
»Werde ich eingewiesen? Für wie lange?«
»Ich denke, in zwei oder drei Tagen werden Sie sich schon erheblich besser fühlen. Es würde mich überraschen, wenn Sie am Wochenende nicht wieder zu Hause wären.« Sie trat auf die Tür zu. »Gute Besserung.«
Nachdem die Ärztin gegangen war, blieb Anton in der Türöffnung stehen. Nach einer Weile tauchte Magnus auf.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte er.
»Beschissen. Ich muss hierbleiben.«
»Ist es eine Epididymitis, oder was?«
Anton hob langsam den Kopf und musterte den fast zwanzig Jahre jüngeren und gut gekleideten Kollegen.
»Ich habe deine Symptome gegoogelt, während du beim Ultraschall warst. Dabei kam raus, dass es eigentlich nichts anderes sein kann. Aber was machen wir jetzt? Willst du Skulstad anrufen und einen Ersatz für dich anfordern?«
»Du hältst mich auf dem Laufenden. Und bis ich mich wieder bewegen kann, regelst du das Ganze zusammen mit Lars Hox. Zwei Tage.«
»Die Hellum-Gruppe hat doch angeblich eigene Räumlichkeiten in Borregård.«
»Finde raus, wer für die Fahndung verantwortlich war.«
»Na, Lars Hox natürlich.«
»Ich rede von dem Abend der Flucht. Der Einsatzleiter, der die Fahndung in jener Nacht geleitet hat.«
»Ich glaube, das war Martin Fjeld, falls ich mich nicht täusche.«
Ein neuer Stich im Unterleib. Antons Gesicht verzog sich vor Schmerz. Er fluchte leise. Magnus wartete, bis Anton wieder normal atmete, und sagte dann: »Martin ist jetzt Leiter der Streifenpolizei in Fredrikstad. Ich kann mich später mit ihm treffen. Und dann war ich noch in Bryn und habe alle Dokumente aus dem Fall Hellum geholt, die nicht digitalisiert vorliegen.«
»Die Hellum-Gruppe hat bestimmt jedes einzelne Dokument aus diesem Fall untersucht – rauf, runter und von vorn und hinten.«
»Du glaubst nicht, dass die vielleicht was übersehen haben?«
»Jedenfalls nichts in den vorliegenden Dokumenten oder bei den Spuren. Allerdings sage ich nicht, dass die keine Fehler gemacht haben können. Es ist schon lange her, dass Lars Hox und der Rest der Hellum-Gruppe diesen Weg beschritten haben. So lange, dass der am Anfang schon wieder überwuchert ist. Und genau da wirst du beginnen.«