Der Mann, der am Abend der Flucht die Verantwortung für die Fahndung nach Stig Hellum getragen hatte, war ungefähr Anfang vierzig. Unter seinem blauen Uniformhemd zeichneten sich die Konturen kräftiger Arme und eines massiven Brustkastens ab. Er saß im Pausenraum des Polizeipräsidiums von Fredrikstad und stocherte mit einer Gabel in einer Plastikbox mit Nudelsalat herum. Vor ihm lag die aktuelle Ausgabe des Fredrikstads Blad neben einer Flasche Mineralwasser und einem halb ausgetrunkenen Proteinshake.
»Hallo«, sagte Magnus beim Eintreten. »Danke, dass du gewartet hast.«
»Kein Problem«, gab Martin Fjeld schmatzend zurück und entblößte beim Grinsen zwei kräftige Zahnreihen. Sein gebräuntes Gesicht ließ die Zähne kreideweiß wirken. »Ich mache Überstunden. Hab mich gerade um Proviant gekümmert.« Er klopfte mit der Gabel gegen die Plastikdose und blickte Magnus abschätzend an. »Trainierst du gar nicht mehr?«
»Ich bin zurzeit sehr beschäftigt mit der Wohnungssuche in Oslo und dem ganzen Kram.«
»Verstehe. Aber lass es nicht völlig in Vergessenheit geraten. Auch wenn du nicht mehr da draußen rumrennst und dich mit den Ganoven anlegst, ist es wichtig, in Form zu bleiben.« Martin Fjeld nahm noch einen Bissen. »Und? Seid ihr sicher?«
»Anton und der Rechtsmediziner sind jedenfalls ziemlich sicher. Ich kenne den alten Fall ja nicht. Allenfalls aus der Presse. Aber das Ganze bleibt erst mal unter uns. Die Kripo fürchtet ein Medienchaos, falls das zu diesem Zeitpunkt rauskommt. Hast du noch mal deinen Bericht vom besagten Abend durchgesehen?«
»Das brauche ich nicht. Die Meldung von der Nachtschicht an der Shell-Tankstelle in Solli ist um 22:16 bei der Einsatzzentrale eingegangen«, berichtete Martin Fjeld, während er weiterkaute. »Mein Kollege und ich waren sieben Minuten danach vor Ort. Das Problem dabei war, dass zwischen Hellums Flucht und dem Eingang des Anrufs in der Zentrale bereits eine Viertelstunde vergangen war. Er hatte also – grob geschätzt – einen Vorsprung von fünfundzwanzig Minuten. »Was wir dann taten«, Martin Fjeld schluckte, ließ die Gabel in der Plastikdose liegen und verschränkte die Arme vor der Brust, »war die obligatorische Befragung in der Nachbarschaft. Und der Grenzschutz wurde alarmiert. Falls Hellum in diese Richtung geflohen wäre, hätte er in den fünfundzwanzig Minuten auf die schwedische Seite kommen können, sofern ihm jemand dabei geholfen hätte. Das mussten wir natürlich in Erwägung ziehen. Sobald uns die Meldung vorlag, wurde ein Helikopter angefordert. Der war schon wenige Minuten nach unserer Ankunft an der Tankstelle in der Luft.«
»Du hast dann also Befragungen durchgeführt?«
»Ja. Oder nein, nicht sofort. Wir haben uns zuerst die Überwachungsvideos von der Tankstelle angesehen.«
»Und was war darauf zu sehen?«
»Nur dass Hellum runter zum Sollivei rannte, in entgegengesetzter Richtung zur E6. Da gabelt sich die Straße ja. In Richtung Rolvsøy und nach Veum. Ich hatte entschieden, dass wir uns auf Veumskogen, also den Wald, konzentrieren. Ich habe dann vor Ort die Situation abgewogen und fand, es wäre Zeitverschwendung, eine Suchmannschaft in den Wald zu schicken, wenn der Helikopter die Suche aus der Luft übernehmen konnte. Im Nachhinein war ich dann aber überzeugt, dass er sich dort gar nicht versteckt hatte.«
»Und wieso nicht?«
»Bauchgefühl«, erwiderte Martin Fjeld. »Außerdem hätte ihn der Wärmesensor des Helikopters erfassen müssen.« Er griff wieder nach der Gabel, schob ein paar Spiralnudeln an die Seite und fischte ein Stück Geflügel aus seinem Salat. »Während das elektronische Auge also vom Himmel aus suchte, beschloss ich, die kleine Mannschaft, die ich zur Verfügung hatte, in Hellums Umfeld zu schicken.« Er schob sich einen neuen Bissen in den Mund, kaute schnell und schluckte, während er weiter nach Geflügelstückchen Ausschau hielt. »Nach vier Stunden hatten wir jeden aufgesucht, der unseres Wissens nach eine Verbindung zu ihm hatte. Und natürlich die Mutter in Askim – wo wir dann eine Beschattung eingerichtet haben.«
»Du hast gesagt, ihr habt in der Gegend Befragungen durchgeführt«, sagte Magnus. »Gab es niemanden, der irgendwas gesehen hat? Da oben liegen doch viele Häuser. Man sollte doch vermuten, dass es irgendwer registriert hat, wenn da was Ungewöhnliches passiert ist. Und die Flucht eines Gefangenen und ein toter Vollzugsbeamter lassen sich ja nicht gerade als gewöhnlich bezeichnen …«
Martin Fjeld schüttelte den Kopf.
»Anscheinend ist das alles sehr schnell passiert, Torp. Und dazu hatten wir auch ein bisschen Pech.«
»Was meinst du damit?«
»Da oben wohnt so ein alter Kerl, an der Kreuzung hinter der Tankstelle. Ich möchte nicht sagen, dass er ein alter Bekannter der Polizei ist, denn das stimmt nicht. Aber viele von uns duzen sich mit ihm. Ein komischer Kauz, der das meiste mitkriegt, was so passiert – genau an der Kreuzung.«
Martin erzählte weiter von Otto Stenersen. Er war ein Mann in den Achtzigern, der seit dreißig Jahren verwitwet war. In Solli passierte nicht viel, und innerhalb von Ottos vier Wänden passierte noch weniger. Daher musste gar nicht viel geschehen, dass er darauf reagierte und die Polizei rief. Manchmal reichte schon jemand, der auf Höhe seines Hauses im Vorbeifahren auf die Hupe drückte, oder jemand, der sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Manchmal war es auch eine defekte Glühbirne an einem Laternenmast, oder dass jemand in verdächtiger Weise die Straße entlangging – unnötig zu erwähnen, dass es sich stets um gewöhnliche Wandersleute handelte.
»Am Tag von Hellums Flucht hatte er einen Schlaganfall und war danach mehrere Wochen in der Reha.«
»Ich habe schon mal von ihm gehört«, sagte Magnus. »Hat später noch mal jemand mit ihm gesprochen?«
»Das weiß ich nicht, aber es steht alles in meinem Bericht, und den hat die Hellum-Gruppe schriftlich und auch mündlich bekommen.«
»Und wie geht es ihm jetzt?«
»Wem? Otto?« Martin Fjeld verkniff sich einen Rülpser. »Letzte Woche war eine Streife bei ihm.«
»Was war denn los?«
»Er meinte, irgendwer würde ihm üble Streiche spielen und dass jemand die Luft aus den Reifen an seinem Auto gelassen hätte. Er musste seinen Führerschein aus medizinischen Gründen abgeben, sein Wagen hat zwei Jahre unberührt da oben gestanden. Wie sich zeigte, war in allen vier Reifen gleich wenig Luft. Aber das wurde geregelt. Einer der Kollegen ist mit dem Wagen zur Tankstelle rübergefahren und hat Luft aufgefüllt.«
»Ach je«, sagte Magnus leise kichernd.
»Man wird wohl etwas gaga, wenn man so lange allein ist. Außerdem ist sein Sprachvermögen nach dem Schlaganfall eingeschränkt. Daher ist etwas schwer zu verstehen, was er sagt.«
»Als ich noch bei der Streifenpolizei war, haben viele gesagt, er sei gaga«, sagte Magnus. »Aber für mich klingt es eher, als ob er bloß einsam ist.«
»Jaja. Wir werden hoffentlich alle alt, Torp. Da kann man schon mal anfangen, sich darauf zu freuen«, sagte Martin Fjeld und legte den Deckel auf die leere Plastikdose.