Kapitel 30

Dienstag, 13. September

Oda Myhre saß auf dem Sofa und betrachtete ihre Tochter. Die Kleine saß am Tisch und malte. In der anderen Ecke des Sofas saß ihr Lebensgefährte und blätterte konzentriert in Essential Endodontology: Prevention and Treatment of Apical Periodontitis.

»Und, lernst du was?« Oda berührte den Fuß ihres Lebensgefährten mit ihrem.

»Ich hatte letzten Freitag etwas Probleme, den MB 2 bei einer Patientin zu finden«, erwiderte er, ohne aufzusehen, »und heute kam sie zurück und hatte immer noch Zahnschmerzen. Ich muss nur überprüfen, wie oft der MB 2 in Zahn sechzehn überhaupt vorkommt.«

Draußen blitzte es. Eine Sekunde lang lag die ganze Nachbarschaft in gleißendem Licht. Lotte fing laut an zu zählen. Sie kam bis fünf, bevor der Donner einsetzte.

»Mama! Das Gewitter ist fünf Kilometer entfernt. Eben waren es noch neun. Es kommt auf uns zu!«

»Sieht wohl so aus.«

»Dann dürfen wir den Fernseher erst einschalten, wenn es vorbeigezogen ist.« Lotte nahm sich einen neuen Buntstift aus dem Etui. »Sonst fällt vielleicht der Strom aus, und das will ich nicht.«

Oda stand auf und ging durchs Zimmer. Sie stellte sich hinter ihre Tochter und blickte auf die Zeichnung. Es war ein Baum. Einer aus dem Garten hinter dem Haus. Oda küsste ihre Tochter auf den Kopf.

»Wie gut du das kannst. Du hast sogar die Sprossen an den Fenstern gezeichnet. Vielleicht wirst du ja einmal Architektin?«

»Was ist das?«

Lotte legte den Kopf zurück und sah zu ihrer Mutter auf.

»Jemand, der Häuser zeichnet. Damit die Bauarbeiter wissen, wie sie bauen sollen.«

»Nein, ich werde Zahnärztin.«

Oda streichelte das Kinn der Kleinen und ging dann in die Küche. Aus dem Krug im Kühlschrank gab sie etwas Zitronenwasser in ein Glas. Mit dem Glas ging sie zurück ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und legte sich ein Kissen unter den Arm. Sie lauschte dem Geräusch der Farbstifte, die über das Zeichenpapier schabten. Und dem Gewitter.

Das Handy vibrierte auf der Arbeitsplatte in der Küche. Lotte machte ihre Mutter auf das klingelnde Telefon aufmerksam, während Oda gleichzeitig aufstand und in die Küche eilte. Sie griff nach dem Handy. Unbekannte Nummer stand auf dem Display. Sie nahm den Anruf an. Am anderen Ende der Leitung war eine Männerstimme. Sie klang ruhig und weich. Als der Mann sich vorstellte und nach Oda Myhre fragte, überlegte Oda, ob sie seinen Namen schon einmal gehört hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern.

»Ja, das bin ich«, antwortete sie.

»Bitte verzeihen Sie, dass ich mich außerhalb der Bürozeiten bei Ihnen melde, aber ich habe von dem Haus gehört, das Sie draußen in Tistedal verkaufen, und dass es dort gestern eine Besichtigung gab.«

Der Mann sprach leise.

»Ja, das stimmt«, entgegnete Oda und hörte selbst, wie ihre Stimme automatisch auf Business-Freundlichkeit schaltete.

Küche und Wohnzimmer wurden von einem neuen Blitz erhellt. Im selben Moment kam der Donner.

»Jetzt ist es genau über uns!«, rief Lotte.

Der Mann am Telefon räusperte sich und sagte: »Wie war denn das Interesse bisher?«

»Recht gut«, log sie. »In letzter Zeit sogar etwas besser. Als das Objekt im Sommer zum Verkauf angeboten wurde, war es allgemein eher ruhig, so gesehen war der Markt also etwas träge, aber wir bemerken gerade eine deutliche Veränderung.«

»Verstehe. Wann ist denn die nächste Besichtigung?«

»Die ist für kommenden Montag geplant.«

Oda drehte sich zum Wohnzimmer hin. Lotte saß hoch konzentriert an ihrer Zeichnung. Der Mann am Telefon sagte nichts.

»Passt das für Sie nicht?«, fragte Oda.

Er schnalzte mit der Zunge und sog scharf die Luft ein.

»Eigentlich nicht so gut.«

»Ich bin da ganz flexibel«, sagte Oda.

»Ja?« Er räusperte sich erneut. »Wie flexibel können Sie denn sein, Oda?«