Kapitel 32

Dienstag, 13. September

Ein alter Volvo 240 stand auf dem Hof des Hauses, das der Tankstelle am nächsten lag. Ein schrilles Geräusch ertönte, als Magnus auf den Klingelknopf drückte. Nach einer halben Minute wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht, und die Tür wurde ein paar Zentimeter geöffnet. Otto Stenersen spähte neugierig durch den Türspalt nach draußen. Seine Haare waren weiß und kurz geschnitten. Die linke Hälfte seines Gesichts, insbesondere der Mund, hing ein Stück herunter.

»Guten Tag, Herr Stenersen«, sagte Magnus. »Ich bin von der Polizei.«

Otto Stenersen sah ihn prüfend an.

»Polizei? Wo ist denn Ihre Uniform?«

Magnus musste sich darauf konzentrieren, ihn zu verstehen. Die Stimme des Alten wirkte wie Brei, als ob Zunge und Lippen nicht kooperierten.

»Die trage ich schon lange nicht mehr.«

Magnus fischte seinen Dienstausweis hervor, den er um den Hals trug, und hielt ihn Otto Stenersen hin.

»Sieh mal an, ja.« Er schob die Tür etwas weiter auf und stützte sich am Türgriff ab. »Aber …« Die weißen Brauen zogen sich zusammen. »Ich hab euch doch gar nicht angerufen, oder?«

»Nein. Ich bin gekommen, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie Zeit für eine kleine Unterhaltung mit mir haben.«

»Ob ich Zeit habe?« Otto grinste mit halbem Mund. »Ich habe nichts anderes.«

Magnus zog sich im Flur die Schuhe aus und folgte Otto Stenersen in die Küche. Ein ovaler Esstisch stand zusammen mit zwei Stühlen vor dem Fenster.

»Wenn ich gewusst hätte, dass Besuch kommt«, fuhr der alte Mann fort, während er den Küchenschrank untersuchte, »hätte ich den Taxifahrer gebeten, kurz beim Supermarkt vorbeizufahren.« Er sah Magnus an. »Setzen Sie sich doch. Irgendwas finde ich schon.«

»Machen Sie sich keine Gedanken.«

»Aber natürlich habe ich was für Sie.«

Nach zwei Minuten hatte er eine Biskuitrolle hervorgezaubert und auf einem Teller angerichtet, Kaffee aufgesetzt und Teller und Tassen hervorgeholt.

»Herr Stenersen«, sagte Magnus. »Das ist wirklich mehr als genug.«

Otto Stenersen streckte die Hand nach dem obersten Schrankfach aus.

»Ich habe auch irgendwo eine Tüte Toffees.« Er kramte im Schrank herum. »Kann aber auch gut sein, dass ich die Weihnachten mit zu Aud genommen habe.«

Die Biskuitrolle steckte noch in der Verpackung. Diskret drehte Magnus den Teller, um nach dem Verfallsdatum zu schauen. Es war unleserlich geworden.

»Jaja«, sagte Otto Stenersen und trat an den Tisch. »Dann muss das eben reichen.« Er setzte sich Magnus gegenüber. »Warum tragen Sie denn keine Uniform?«

»Ich habe mich verletzt«, sagte Magnus. »Deshalb musste ich bei der Streifenpolizei aufhören. Ich bin jetzt Ermittler.«

»Sie haben sich verletzt?« Sein Gastgeber riss die Plastikfolie von der Biskuitrolle und begann sie in Scheiben zu schneiden. Seine Hände zitterten nicht. »Ich hab gesehen, dass Sie ein bisschen hinken, aber das geht doch wieder vorbei, oder?«

»Besser als jetzt wird es wohl nicht mehr.«

Der Alte setzte eine fragende Miene auf. Magnus erzählte von der drei Jahre zurückliegenden Geschichte. Von dem vermeintlich ganz gewöhnlichen Besuch bei einem Zeugen, der damit endete, dass Magnus angeschossen wurde. Er zeigte auf die Stellen an seinem Oberkörper, wo ihn die drei Kugeln getroffen hatten.

»Sie waren das?« Otto Stenersens Kinn klappte herunter. »Das habe ich doch in den Nachrichten gesehen.«

»Ja.« Magnus nickte. »Eine Weile sah es nicht so gut aus, aber inzwischen bin ich wieder einigermaßen auf dem Damm.«

Der Alte nahm einen Bissen vom Kuchen und kaute darauf herum.

»Das muss man sich mal vorstellen. Ganoven, die auf die Polizei schießen. Hier in Norwegen. Das ist ja hundsgemein.«

»Tja, das kann man wohl sagen.«

»Und in was für Fällen ermitteln Sie jetzt?«

»Tötungsdelikte.«

Otto Stenersen hörte auf zu kauen. »Tötungsdelikte?«

»Ja.«

»Ein alter Jugendfreund von mir hat früher mit so etwas gearbeitet. Damals hieß das auch noch anders.«

»Mordkommission«, sagte Magnus und probierte wagemutig ein Stück Kuchen.

»Genau!«, sagte Otto Stenersen beim Ausatmen. Ein paar Krümel lösten sich aus seinem Mundwinkel und landeten auf dem Tisch. »Stimmt. Damals hat aber nie jemand auf ihn geschossen. Er ist auch schon tot. Seit vielen Jahren.«

Magnus ließ Otto Stenersen von seinem alten Jugendfreund erzählen, bis der Kaffee durchgelaufen war. Dann wollte der Alte aufstehen, um ihn zu holen, aber Magnus bat ihn, sitzen zu bleiben.

Er schenkte ihnen beiden ein, setzte sich wieder an den Tisch, blies auf den heißen Kaffee und nahm vorsichtig den ersten Schluck. Sie machten sich über die Biskuitrolle her, während der alte Mann erzählte, wie frustriert er über die Geschwindigkeit war, mit der die Leute unten auf der Hauptstraße am Haus vorbeifuhren.

»Die Verkehrspolizei steht hier ja fast die ganze Woche«, erklärte er, »aber meist nur für eine oder zwei Stunden am Stück. Neulich haben sie sich da unten hingestellt.« Er zeigte aus dem Fenster, das auf den Sollivei hinausging. »Da bin ich runtergegangen und habe sie gefragt, was sie denn die übrigen zweiundzwanzig Stunden zu tun gedächten. Wissen Sie, was die mir geantwortet haben?« Otto Stenersen holte tief Luft. »Sie wussten es nicht!« Er schüttelte den Kopf. »Hat man so was schon gehört. Warum stellen sie nicht diese Kästen auf? Am besten solche, die die Durchschnittsgeschwindigkeit messen. Dann hätten es die Leute vermutlich nicht mehr so eilig.«

Ungefähr beim dritten Stück Kuchen unterbrach Magnus den Bericht über Ottos Sommeraufenthalt auf Gran Canaria. Der Alte schmatzte, hörte aber aufmerksam zu, als Magnus das Thema anschnitt, dessentwegen er eigentlich gekommen war.

»Oh … Der Mord an dem armen Vollzugsbeamten. Wirklich schlimm. Ich war zu der Zeit nicht zu Hause, und darüber kann dieser Stig Hellum echt froh sein, das will ich Ihnen mal sagen. Wenn ich das mitbekommen hätte, dann hätte ich ihm schon gezeigt, wo der Hammer hängt.« Otto Stenersen klopfte mit einem Finger ans Fenster. »Das war nämlich genau hier unten an der Straße. Aber wenn er jetzt zurück ist, müsst ihr ihn unbedingt verhaften! Solche Leute kann man doch nicht frei rumlaufen lassen.«

»Ich habe schon gehört, dass Sie das meiste von dem mitbekommen, was hier so in der Gegend passiert.«

»Ich, ja! Jaja. Diese hier«, er zeigte auf seine Augen, »und der da«, er legte den Finger an den Kopf, »sind eigentlich noch völlig in Ordnung.« Er strich sich mit zwei Fingern übers Ohr. »Die hier übrigens auch.«

Magnus schob seine Kaffeetasse zur Seite.

»Wir wissen auch, dass Sie an dem Montag einen Schlaganfall hatten.«

Otto Stenersen nickte mit ernster Miene. »Stimmt. Ich wusste gar nicht, wie ernst die Sache war. Ich hatte bloß plötzlich das Gefühl, betrunken zu sein, und das kam mir seltsam vor, da ich doch seit über dreißig Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt hatte. Na, und dann habe ich Aud angerufen und gefragt, was wohl mit mir nicht stimmen könnte. Sie hat nicht mal geantwortet, hat bloß aufgelegt und kam zu mir runtergelaufen, während sie den Notarzt rief. Aud war früher Krankenschwester, sie wusste also, was los war. Dann ging’s sofort ins Krankenhaus. Mit Blaulicht und allen Schikanen. Viel weiß ich nicht mehr, aber Aud hat mir hinterher alles erzählt.«

»Ja, ich versteh schon, dass es schwierig sein kann, sich an etwas zu erinnern, besonders wenn man bedenkt, was Ihnen da passiert ist. Sie waren dann ja abends nicht zu Hause, a…«

»Abends zu Hause?« Der Alte lachte schallend. »Ich war sieben Wochen nicht zu Hause.«

»Nein. Aber an den Tagen vorher. Können Sie sich erinnern, ob da irgendwas Besonderes passiert ist?«

»Was meinen Sie denn?«

»Ich wollte nur wissen, ob Ihnen in den Tagen vorher irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist.«

Otto Stenersen spitzte den intakten Teil seines Mundes.

»Nein. Aber ich kann im Buch nachsehen.«

»Im Buch?«

Otto Stenersen stützte sich am Tisch ab und durchquerte dann mit kleinen Schritten die Küche. Magnus sah ihn im Wohnzimmer verschwinden und dachte, dass der alte Mann es nicht verdient hatte, alleine alt zu werden.

Eine Minute später war er zurück und trug ein großes altes Buch unter dem Arm, was Magnus an den Folianten erinnerte, in dem sein Großvater die Einnahmen und Ausgaben notiert hatte. Otto Stenersen legte es auf den Tisch und setzte sich mit einem Stöhnen wieder hin. Er klappte es in der Mitte auf und blätterte zurück. Es waren alles kurze Notizen, oft nur einzelne Sätze mit viel Luft dazwischen.

»Mal sehen.« Der Alte beugte den Kopf. »Ich bin am 1. September ins Krankenhaus gekommen, das war ein Montag.« Sein Zeigefinger fuhr langsam über die Seite nach unten, verharrte kurz und wanderte dann langsam wieder ein paar Zentimeter hinauf. »Mir ist in dieser Woche nur eine Sache aufgefallen. Abgesehen von diesem verfluchten Autowettrennen. Aber das habe ich euch ja gemeldet.«

»Was haben Sie denn bemerkt?«

»Ach, nur einen Wagen, der draußen vor dem Pumpenhaus stand. Das ist da nämlich kein Parkplatz, wissen Sie.« Er fuhr mit dem Finger über die Seite und las vor: »21.50. Großer, jeepähnlicher Wagen steht unerlaubt hinter dem Pumpenhaus. Stadtverwaltung angerufen .« Otto Stenersen blickte auf. »Aber das Letzte ist nicht korrekt. Ich hätte schreiben sollen Rufe Stadtverwaltung an , denn das war das Erste, was ich am nächsten Morgen machen wollte. Jedenfalls, parken darf dort nur der technische Dienst, und das war kein Wagen von der Stadtverwaltung. Außerdem arbeiten die Jungs nicht so spät abends.«

»Die arbeiten auch tagsüber kaum.«

»Das kann man wohl sagen!« Der Alte lachte laut. »Der war gut.«

»Können Sie mir zeigen, wo genau der Wagen gestanden hat?«

Otto Stenersen erhob sich und ging voraus. Das Wohnzimmer war vollgestellt mit alten Möbeln. Das Einzige, was nach dem Jahrtausendwechsel gekauft zu sein schien, war der Fernseher an der Wand. Der Alte stellte sich an das Fenster, aus dem man auf den Vorgarten blicken konnte, und zeigte hinaus.

»Sehen Sie den Sandweg, der da am Pumpenhaus vorbeiführt?«

»Ja.«

»Der Wagen fuhr da rein und parkte hinter den Bäumen. Dabei gibt es doch bei der Shell-Tankstelle einen großen schönen Parkplatz.«

«Haben Sie gesehen, wohin der Fahrer gegangen ist?«

»Richtung Veum.«

»Und haben Sie gesehen, wie er aussah?«

»Nein. Ich wollte hinaus und ihm Bescheid sagen, aber bis ich mir Schuhe und Jacke angezogen hatte, war er verschwunden.«

»Groß? Klein? Dünn? Haarfarbe? Egal was, Otto.«

»Hab nicht darauf geachtet. Ich hab nur gesehen, dass es ein Mann war.«

»Und was für ein Auto war das?«

»Das weiß ich nicht mehr, aber ich hatte ja jeepartig notiert, dann war das wohl so.«

Magnus verließ das Haus erst, nachdem der Kaffee ausgetrunken und der Kuchen aufgegessen war. Er drückte Otto Stenersen die Hand, gab ihm eine von seinen neuen Visitenkarten und sagte, er solle einfach anrufen, wenn irgendetwas wäre, und besonders dann, wenn die Tüte mit den Toffees wieder auftauchte.