War sie schöner geworden, seit er sie zuletzt gesehen hatte?
Anton spähte vom Bett zu Elisabeth hinüber. Sie saß in einem Sessel an der Wand. Der Lichtschein des Handydisplays erhellte ihr Gesicht. Doch. Sie war tatsächlich schöner geworden. Ihre dunklen Haare waren kürzer. Er hatte sie nie mit einer Kurzhaarfrisur gesehen. Aber sie gefiel ihm.
In diesem Augenblick war Anton von den gleichen Gefühlen erfüllt wie in all jenen Momenten, in denen er zu viel Geld auf den Pokertischen gelassen hatte. Hilflos, verletzbar und traurig. Wie an jenen Freitagen, an denen er zu Hause in Smestad aus der Tür getreten war, sobald Alex zu Abend gegessen hatte, um erst spät am Samstagvormittag wieder zurückzukommen. Manchmal auch erst am Sonntagnachmittag. Diese langen Wochenenden waren am schlimmsten gewesen. Sie wurden oft schrecklich teuer. Wie das Wochenende im Juli vor zehn Jahren. Da hatte er das Urlaubsgeld und die Steuerrückzahlung im Hinterzimmer eines Autohauses in Alnabru gelassen. Hundertfünfzigtausend Kronen. Das Geld, das eine neue Veranda, die Autoreparatur und vierzehn Tage für ihn, Elisabeth und Alex in Paris finanzieren sollte. Letzten Endes waren sie dann trotzdem noch gefahren. Doch nur dank seiner Schwiegereltern, die ihrer Tochter das Geld geliehen hatten, konnte Alex die Reise erleben, die ihm versprochen worden war. Das Geld hatten sie ihr gegeben. Der Schwiegervater hatte glasklar ausgedrückt, dass Anton auch gut und gerne zu Hause bleiben konnte.
Dennoch fuhr er mit.
Die vierzig Stunden Pokerspiel hatten ihn fast seine Ehe gekostet. Drei Jahre danach tat er es wieder. Einige Tage später teilte sie ihm mit, dass sie ein paar Sachen in den Koffer packen und das Haus verlassen wolle.
Elisabeth Brekke war bedient.
Er hatte nichts dagegen tun können. Danach gab es nur einen pechschwarzen Tunnel, der erst nach Monaten wieder Licht erkennen ließ. Und genauso fühlte es sich jetzt an. Der Tunnel war vielleicht kürzer, doch er wünschte sich nichts mehr, als dass sie zu ihm ins Bett kriechen würde. Sie brauchte auch nichts zu sagen. Sie sollte nur da sein.
Anton blickte auf den Venenport, der ihm im Handrücken steckte.
»Papa«, sagte Alex ungeduldig von der Seite. Er hielt Antons iPad in der Hand. »Sieh mal her, bitte. Ich habe dir HBO installiert. Es gibt auch TV 2 Sumo . Willst du das auch?«
» TV 2 habe ich hier, das reicht.«
»Ich soll von Herlov grüßen«, sagte Elisabeth, ohne vom Handy aufzublicken. »Er wünscht dir gute Besserung.«
»Wo ist er?«
»In Boston«, sagte Alex schnell. »Kauft vielleicht gerade eine große Gesellschaft auf.«
»Er hat also nicht vergessen zu erwähnen, dass sie groß ist, ja?«
»Anton …« Elisabeth sah ihn über den Rand des Handys warnend an. »Bitte sei nett.«
»Ich habe dir auch Viaplay installiert«, sagte Alex. »Wenn das plötzlich nicht mehr funktioniert, dann nur, weil Herlov das Passwort geändert hat. Er macht das immer mal wieder, aber sag mir einfach Bescheid, dann finde ich raus, wie das neue lautet.«
»Danke«, sagte Anton und tätschelte den Unterarm seines Sohnes. »Und danke, dass ihr euch die Mühe gemacht habt herzukommen.«
»Du hast es ja so klingen lassen, als ob du hier womöglich nie wieder herauskommst.« Elisabeth legte das Handy in die Handtasche. »Epidididy… Wie heißt das noch mal?«
»Epididymitis.«
Alex’ Handy fing in seiner Hosentasche an zu bimmeln. Er legte das iPad seines Vaters auf den Nachttisch, hielt sich das Handy ans Ohr und stürzte aus dem Zimmer. Elisabeth trat näher ans Bett heran.
»Mädchen im Spiel?«, fragte Anton.
»Ich glaube schon. Momentan ist oft von einer Birthe die Rede.«
»Birthe …? Klingt, als sei sie 1927 geboren.«
Elisabeth kicherte.
»Die Ärztin meinte, dass Liebe und Fürsorge die Phase der Rekonvaleszenz beschleunigen würden.« Anton zeigte auf seine Wange und zog einen Schmollmund.
»Du bist hoffnungslos.« Elisabeth legte eine Hand auf seine Brust. »Woran man merkt, dass es dir besser geht. Aber hat die Ärztin auch gesagt, woher diese Krankheit kommt?«
Anton drehte sich im Bett um und schnaubte.
»Man kann es wohl bekommen, wenn man eine Weile mit Chlamydien herumläuft, ohne behandelt zu werden.«
»Du meine Güte«, seufzte Elisabeth und zog die Hand zurück. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Wovon redest du? Hast du ein Problem damit, dass ich … sexuell aktiv bin?«
»Nein. Ich habe ein Problem damit, dass du nicht daran denkst, dich zu schützen. Aber wieso solltest du auch plötzlich in einem Alter von fast fünfzig über Konsequenzen nachdenken, wenn du es vorher nie getan hast?« Sie trat einen Schritt zur Seite und rief ihren Sohn. »Alex, komm, wir wollen uns verabschieden.«
»Wollen wir morgen nicht zusammen zu Mittag essen?«, sagte Anton. »Ich hab mit dem Greis im Nebenzimmer gesprochen, bevor ihr kamt. Er hat die Kantine gelobt. Angeblich die besten Sandwiches, die er je gegessen hat.«
Elisabeth tätschelte wieder seine Brust.
»Herlov ist doch ein paar Tage verreist«, fuhr Anton fort. »Und essen musst du schließlich.«
»Ich soll also morgen Vormittag noch mal von Oslo hierherkommen, um ein paar Brötchen mit dir zu essen?«
»Sandwiches, Elisabeth. Sandwiches. «
Unwillkürlich wollte er seine Hand auf ihre legen, verbot es sich aber und zerknüllte stattdessen die Bettdecke. Das Handy fest im Griff kam Alex ins Zimmer zurück. Er beugte sich über das Bett, umarmte seinen Vater und sagte, dass er sich am folgenden Tag wieder melden werde. Elisabeth und Alex traten auf die Tür zu.
»Elisabeth?«
»Ja?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Bleibt’s bei den Sandwiches?«
»Nein, Anton.«
»Dann fahrt vorsichtig. Hab euch lieb.«
»Hab dich auch lieb, Papa«, sagte Alex.
Sobald Elisabeth und Alex das Zimmer verlassen hatten, kam eine Krankenschwester mit einem Wägelchen voller Spritzen und Schachteln mit Kanülen herein. Sie schien Mitte zwanzig zu sein. Sie hatte lange dunkle Haare, ein schmales Gesicht und große braune Augen.
»Hallo«, sagte sie sanft. »Wie geht es Ihnen?«
»Nicht gut«, gab Anton zurück. »Sie kommen zu einem sterbenden Mann, Schwester, doch der Rausch im Kopf ist die Schmerzen fast wert. Aber bitte fast in fetten Buchstaben und unterstrichen.«
Die Frau rollte ihr Wägelchen zur anderen Bettseite und sagte: »Schön, dass Sie Besuch von der Familie hatten.«
»Ja. Aber eigentlich ist es meine Exfrau. Wir haben uns schon vor vielen Jahren getrennt.«
Sie lächelte ihn freundlich an und sagte, sie müsse eine Blutprobe nehmen.
»Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob der Junge von mir ist«, fuhr Anton fort. »Wenn das überhaupt von Bedeutung ist, meine ich …«
Die Krankenschwester lachte, griff nach seiner Hand und zog einen Riemen um seinen Oberarm fest.
»Haben Sie Mann und Kinder, Schwester …?« Er spähte auf ihr Namensschild. »Kaja.«
»Nichts davon.«
»Hätten Sie das denn gerne?«
Mit zwei Fingern klopfte sie vorsichtig auf die Vene in seiner Armbeuge.
»Tja … Ja und nein.«
»Ja und nein? Das müssen Sie näher erläutern.«
»Natürlich möchte ich nicht den Rest meines Lebens alleine verbringen. Wer will das schon? … Aber ich habe keine große Lust auf Kinder. Zumindest nicht momentan.«
»Sehen Sie das Telefon dort?« Anton zeigte auf den Nachttisch.
»Ja?«
»Könnten Sie es bitte aus dem Ladegerät nehmen und mir geben, wenn Sie fertig sind?«
Sie nickte. Ließ die Hand auf seinem Arm ruhen, während sie die Nadel ansetzte.
»Kann sein, dass es Tränen gibt.«
»Ah. Wir mögen wohl keine Spritzen?«
»Nicht von mir. Aber von dem Jungen. Ich muss ihn nämlich anrufen und ihm mitteilen, dass ich ihn zur Adoption freigebe.«
Kaja lachte laut, während die Nadel in seinen Arm eindrang.
»Jetzt habe ich daneben gestochen.«
»Sehen Sie? Ich kenne Sie anderthalb Minuten, und schon haben Sie mich um den Finger gewickelt.«
Sie lachte wieder und unternahm einen neuen Versuch. Dieses Mal traf sie die Vene. Dunkelrotes Blut füllte langsam den zylindrischen Hohlraum.
»Fragt sich nur, was er dazu sagen würde, zur Adoption freigegeben zu werden.«
»Stimmt. Ich könnte ihn eventuell auch enterben. Das machen wir, Kaja, dann sparen wir uns den Papierkram und können gleich mit dem ersten Flieger an einen Strand reisen, der genauso weiß ist wie Ihre Zähne.«
Grinsend zog sie die Kanüle heraus und legte die Spritze in eine Schale.
»Alles klar, Prince Charming«, sagte sie und griff nach ihrem Wägelchen.
»Wollen Sie mich schon verlassen?«
»Ich muss, aber ziehen Sie einfach an der Schnur, falls was ist.«
Anton streckte die Hand nach der Klingelschnur aus und tat so, als wolle er gleich daran ziehen. Lachend ging Kaja durchs Zimmer. Antons Blick verschleierte sich. Dösigkeit überkam ihn, als hätte Kaja ihm alle Energie abgezapft. Anton sah der weißgekleideten Gestalt nach und dachte, dass ihr nur der Glorienschein fehlte.